Der größte Feind der Werbung ist sie selbst

Seite 2: Stuhlgangmodell der Werbewirkung: Was hinten 'rauskommt, ist der Erfolg

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Die Messinstrumente, mit denen komplexe soziale Sachverhalte untersucht werden könnten, sind heute zwar ziemlich ausgefeilt. Aber die Werbewirtschaft und auch die Marktforschung misst immer noch am liebsten mit primitivster Apparatur: einmal am Anfang einer Werbekampagne und dann wieder am Ende. Und was am Ende 'rauskommt, gilt als Erfolg der Werbung. Als Wirkungsmodell folgt das aber bestenfalls dem Ablauf des Stuhlgangs…

Tatsächlich beeinflusst eine schier unüberschaubare Vielzahl von Faktoren das Kaufverhalten der Konsumenten, die bei der Messung der kommunikativen Werbewirkung überhaupt nicht berücksichtigt werden - angefangen vom Wetter bis hin zu den eingesetzten Werbemitteln und der allgemeinen Wirtschaftslage.

Das kann man sich gar nicht oft genug vor Augen führen: Ob Werbung einen Einfluss auf das Kaufverhalten hat, ist wissenschaftlich nicht gesichert - egal, was die Werber, die Werbeagenturen oder auch die Medien behaupten, die allesamt ein nachhaltiges wirtschaftliches Interesse daran haben, dass jeder Mann und jede Frau das glaubt.

Jeder Werbeakt, jede Werbemaßnahme und jede Werbekampagne ist einzigartig. Und in jedem Einzelfall gelten andere Regeln: Mal funktioniert eine große Anzeige, mal funktioniert eine kleine Anzeige sogar besser; mal ein langer Spot, mal ein kurzer. Mal eine emotionale Werbung, mal eine informative. Und das ist die einzig wirklich gesicherte Wahrheit über Werbung und der einzig wirklich gesicherte Befund aller Werbewirkungsforschung: Es kommt halt stets drauf an…

Die Unkenntnis der wahren Zusammenhänge hat indes die Werbung treibenden Unternehmen und ihre Agenturen nicht daran gehindert, die Konsumenten in einer wahren Reklame-Sintflut zu ersäufen. Allerdings haben sie nicht damit gerechnet, welche Folgen das für sie selbst hat: Noch nie war der Widerwille breitester Bevölkerungskreise gegen die Dauerberieselung so stark wie heute. Und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass er weiter in dem Maße stark zunehmen wird, in dem sich die Werbung weiterhin ungehemmt ausbreitet. Die Sozialwissenschaften sprechen in einem solchen Fall von selbstzerstörerischer Eigendynamik: Je mehr sich ein Phänomen ausbreitet, desto stärker trägt es selbst dazu bei, dass es früher oder später ganz wieder verschwindet. Der die Eigenvernichtung treibende Faktor ist das Phänomen selbst.

Ein tiefer Graben klafft zwischen der Werbewirtschaft und den Konsumenten: Die Werber und die Werbung treibenden Unternehmen haben ihn eigenhändig aufgerissen. Nun wundern sie sich, dass die Konsumenten nichts mehr von ihnen sehen, hören oder sonst wie vernehmen wollen. Die Kluft ist heute so tief wie nie zuvor, und sie wird weiter aufbrechen.

Befragt man die Leute, was in der Welt ihnen am meisten auf die Nerven geht, so kommt es wie aus der Pistole geschossen: Werbung - Werbung im Fernsehen, im Radio, im Kino, im Internet, auf Trikots von Sportlern, an Hemdkrägen, auf Banden von Fußballstadien, in den Straßen, an und in Straßenbahnen und Bussen, in Wartehallen, Bahnhöfen und Flugplätzen.

Mit der Werbeflut kam erst die Werbeverdrossenheit und dann der Hass auf Werbung

Die Leute können sie einfach nicht mehr sehen, die vielen Spots, Riesenplakate, Anzeigen, Banner, Pop-ups, Mailings, Beilagen, Flyer, Prospekte, die Dinge anpreisen, die den Leuten von Herzen gleichgültig sind und die sie nie und nimmer kaufen werden - und sei es nur aus Trotz, weil ihnen die plumpe Anmache Zeit und Lebensqualität stiehlt.

Der ständigen Werbeberieselung entgehen die Konsumenten durch eine Vielzahl von Tricks und Techniken: Abschalten, Wegschauen, Zappen, Zippen, Grazing, Channel Hopping, Bierholen, Gang auf die Toilette, Ficken in der Werbepause, Ignorieren, Wegdrücken, Adblocking und was es da sonst noch so alles gibt. Sie verhalten sich wie die drei Affen, die weise über alles Schlechte hinwegsehen und nichts Böses sehen, hören oder machen. Kurz: ein Leben möglichst ohne Reklame und ohne Werbung.

Doch die Werbewirtschaft tut noch immer so, als ob sie das alles gar nichts anginge, und erhöht in tumber Ignoranz die Schlagzahl: noch mehr Werbung, noch mehr Werbedruck - inzwischen auch an den entlegensten Plätzen und den stillsten Örtchen: Selbst die Klosetts sind vor der Aufdringlichkeit der Reklame und ihren Scheißhausparolen nicht mehr sicher.

Doch was erreichen sie damit? Sie säen aufdringliche Reklame und ernten nackten Hass. Das Publikum fühlt sich belästigt. Es will nicht unablässig mit Werbung besudelt werden. Es wehrt sich, indem es ihr entflieht oder ihr nackten Hass entgegenbringt.

Im Zeitalter der Demokratie kommt niemand auf Dauer ohne demokratische Legitimation aus. Nur die Werbung beansprucht für sich das Sonderrecht, die Mehrheiten und große Minderheiten pausenlos zu belästigen, und will dafür auch noch geliebt werden. Sie tut so, als benötige sie weder die Zustimmung von Mehrheiten noch die Akzeptanz von Minderheiten. Die Werbung hat sich längst aus der demokratischen Kultur entfernt. Das kommt in Wirtschaftsunternehmen öfter mal vor und wäre nicht weiter tragisch. Aber die Werbung nutzt nun einmal den öffentlichen Raum, um ihre Botschaften zu verbreiten. Wenn sie ignoriert, was das Publikum von ihr hält, muss das auf Dauer ins Auge gehen.

Die Werber haben noch nicht einmal ordentlich darüber nachgedacht, was sie dagegen tun können, dass sie einer wachsenden Zahl von Konsumenten gehörig auf die Nerven gehen. Sie sind nicht mehrheitsfähig und im Grunde ihres Herzens nicht demokratisch. Sie drängen sich usurpatorisch auf. Sie sind sozusagen die Trumps, die Kims, die Putins, die Erdogans und die Xi Jinpings der internationalen Wirtschaftswelt.

Werbung galt einmal als hohe Kunst der Kommunikation. Heute ist sie zur aufdringlichen Belagerung eines widerwilligen Publikums verkommen. Eben blöde Reklame. Das kann nur Ablehnung und Hass erzeugen.

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