Der größte Feind der Werbung ist sie selbst

Seite 4: Die Werbung frisst ihre Kinder

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Etwas verschweigen die Werbungtreibenden und ihre Agenturen gern keusch: Es gab noch nie so viele Werbeverweigerer wie heute, und ihre Zahl wächst seit Jahrzehnten. Das ist eine durch die Werbung selbst erzeugte Gegenbewegung. Die Werbungtreibenden und ihre Werber selbst sind die Hauptverantwortlichen dafür, dass dieser Widerstand in der Bevölkerung ständig wächst. Es ist geradezu eine Volksbewegung, die sich gegen die Diktatur der Werbung überall dort erhebt, wo das möglich ist.

Fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung will heute entweder überhaupt nicht mehr oder nur ganz wenig mit Werbung berieselt werden. In den Ballungsgebieten und größeren Städten sind es oft über 50 Prozent aller Haushalte und mitunter auch mehr. Selbst auf dem flachen Lande kommen die Aufkleber "Bitte keine Werbung" nicht mehr allzu selten vor.

Die Werbeflut hat heute die Wucht eines Tsunamis angenommen und eine wahre Massenflucht in Gang gesetzt. Die Leute haben genug davon, ständig und überall mit Werbung bombardiert zu werden. Es gibt ja praktisch nur einen einzigen Ort, an dem man sich mit Aussicht auf Erfolg weigern kann, das Werbebombardement zu ertragen: zu Hause. Das geht mit einem Aufkleber auf dem eigenen Briefkasten "Bitte keine Werbung" oder über die Robinsonliste.

Wie intensiv die Leute sich ansonsten gegen zu viel Werbung zur Wehr setzen, lässt sich nur durch umständliche Forschung herausfinden. Ob sie Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften überhaupt beachten, bei Plakaten auch mal hinschauen, beim Fernsehen doch mal den einen oder anderen Werbespot anschauen oder beim Hörfunk auch mal hinhören - all das lässt sich nur schwer feststellen, zumal wenn die Forschung von den Werbung treibenden Unternehmen selbst in Auftrag gegeben wird und damit zu rechnen ist, dass da höchst erfreuliche Befunde über die unablässig anwachsende Werbebegeisterung herauskommen. Forschung ist im Zweifelsfall nun einmal käuflich.

Bei der Abwehr von Werbung im eigenen Briefkasten geht das leichter. Da gibt es in regelmäßige Erhebungen. Der Anteil der Werbeverweigerer in Deutschland liegt heute bei über 30 Prozent, allerdings mit hochdramatischen regionalen Unterschieden. Auf dem flachen Land liegt er deutlich darunter, in den Städten dafür deutlich darüber. Vor Jahren waren es noch "nur" 20 Prozent. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die Zahl der Verweigerer mit Riesenschritten weiter wächst.

Werbung, die gegen den Willen der Bürger in die Briefkästen gestopft wird, wirkt selbst im günstigsten Fall überhaupt nicht. Wahrscheinlich aber wirkt sie äußerst negativ: Die Wut auf Werbung wird größer. Prospekte, Kataloge oder Werbebriefe, die dennoch täglich in den Briefkästen landen, sind unprofessionell auch vom Standpunkt der Werber, weil sie Aversion erzeugen, wo sie doch Sympathie wecken sollen.

Jahr für Jahr landen 1,3 Millionen Tonnen Werbesendungen in den Briefkästen. Das sind pro Haushalt fast zweieinhalb Kilogramm im Monat. Um eine Tonne Papier herzustellen, braucht man etwa so viel Energie wie für eine Tonne Stahl. Die jährlichen Werbesendungen produzieren in einem Jahr so viel Kohlendioxyd wie 840.000 Pkws. Mehr als die Hälfte dieser Werbesendungen landet ungelesen im Müll. Eine Mordsverschwendung…

In unserer Zeit einer weltweiten Reklame-Dauersintflut stellt Werbung eine ökologische Katastrophe dar. Sie bedruckt Irrsinnsmengen an Papier, die kaum jemand lesen will. Schlimmer noch: Die objektiv niemand liest. Sie dreht Werbefilme, die eigentlich niemand im Fernsehen oder im Kino anschauen möchte. Sie produziert Hörfunkspots, für die sich so gut wie niemand interessiert. Ja, sie hält für die Onlinewerbung Adserver bereit, die sinnlos Bandbreite verbrauchen und die jeder einigermaßen versierte Internetnutzer trotzdem mit einem Werbeblocker wegdrückt. Ganze Stadt- und Landschaften pflastert sie mit Riesenplakaten und Werbetafeln zu, die kaum jemand beachtet.

Werbung breitet sich also überall dort aus, wo nur Minderheiten sie ertragen, die breite Mehrheit sie aber ablehnt. Und sie verbraucht massenhaft Material und Ressourcen für etwas, was nur einen kleinen Teil der Bevölkerung interessiert. Werbung an öffentlichen Plätzen ist eine unflätige Form der Anpöbelung von Mehrheiten durch eine Minderheit.

Woher leiten privatwirtschaftlich operierende Werbungtreibende und ihre Werber, die doch nur etwas verkaufen oder sonst wie vermarkten möchten, das Recht ab, sich dafür in der Öffentlichkeit und auf öffentlichen Plätzen breit zu machen, und Leuten Werbung für ein Produkt aufzudrängen, die sich weder für das Produkt noch für die Werbung interessieren? Die auch gar nicht erst gefragt werden, ob sie die Reklame überhaupt sehen wollen? Die, ganz im Gegenteil, sogar froh und dankbar wären, wenn man sie damit erst gar nicht behelligen würde?

Eine der größten Metropolen der Welt, São Paolo, hat da vor gut zehn Jahren einen Riegel vorgeschoben und Werbung im öffentlichen Raum fast ganz verboten. Heute ist Brasiliens größte Stadt mit ihren fast 12 Millionen Einwohnern und über 20 Millionen Einwohnern in der Großregion praktisch völlig frei von Reklame auf öffentlichen Plätzen.

Angefangen hatte das 2007 einmal als eine Art Verzweiflungstat gegen die totale Verschandelung der brasilianischen Wirtschafts- und Kulturmetropole. Vorher war jede Straßenecke von São Paulo überall mit illegalen Anzeigetafeln und Billboards zugepflastert. Durch das "Lei Cidade Limpa" (Gesetz der sauberen Stadt) wurden alle 15.000 Plakatstellen, 1.600 Schilder und 1.300 Riesenposter entfernt. Leuchtreklamen, Plakatwände, Flaggen, Schilder, Logos, selbst Handzettel oder Reklameröhren auf Taxis und Logos auf Frachtplanen der Lastwagen - all das gibt es nicht mehr.

Anfangs gab es sogar heftige Proteste. Man fürchtete gar, das Wirtschaftsleben in der Weltstadt werde zusammenbrechen, wenn nicht mehr geworben werden darf. Doch die Begeisterung der Einwohner wuchs von Jahr zu Jahr. Inzwischen ist aller Protest verstummt. Zwei Drittel der Bewohner finden, dass ihre Stadt schöner geworden ist.

Der Tenor der öffentlichen Diskussion ist eindeutig: Etwas Besseres hätte der Stadt nicht passieren können. Die Entscheidung der Stadtverwaltung hat zu mehr Lebensqualität geführt. Die Werber und die Werbungtreibenden in aller Welt haben gute Gründe, sich das Beispiel São Paolo - auch als Menetekel - vor Augen zu halten: So kann es kommen, wenn sie weiter ganze Städte mit Reklame verschandeln. Irgendwann einmal reicht es der Bevölkerung, und dann ist es zu spät.

Heute werden ähnlich radikale Maßnahmen auch in europäischen Metropolen wie London und Paris diskutiert, sogar in Berlin und in Köln. Die vorerst einzige Metropole, die ein Verbot für Außenwerbung konsequent umgesetzt hat, ist Grenoble. Die Stadt hat 2014 als erste europäische Stadt Werbung im öffentlichen Raum ähnlich wie São Paolo drastisch eingeschränkt.

Die nächste Stadt, in der ein allgemeines Werbeverbot im öffentlichen Raum durchgesetzt werden könnte, ist Berlin. Auch in London, Paris und Stockholm wächst der Widerstand gegen die undemokratische Inanspruchnahme der Stadtzentren durch die Werbewirtschaft. In Helsinki formierte sich 2011 gar eine spontane Bürgerinitiative gegen die werbliche Okkupation des öffentlichen Raums durch die Privatwirtschaft.

Zurzeit gilt ja eine rechtliche Absurdität: Telefonwerber dürfen private Haushalte nicht mit unerwünschten Anrufen belästigen, aber auf öffentlichen Straßen und Plätzen darf man Werbeplakate und Leuchtreklamen anbringen, die auch niemand sehen möchte, denen man aber nicht entrinnen kann. Warum müssen Leute im öffentlichen Raum privatwirtschaftliche Reklame ertragen, die sie bei sich zu Hause nicht dulden müssen? Sobald man die eigenen vier Wände verlässt, trifft man auf Schritt und Tritt auf Reklame, die den öffentlichen Raum zupflastert.

Allenthalben regt sich Widerspruch gegen die Werbeflut. Nichts spricht dafür, dass er nachlässt. Man kann den Werbern nur raten, die Zeichen der Zeit frühzeitig zu deuten. Sonst rollt irgendwann die Entwicklung so über sie hinweg wie über die Werber in São Paolo…

Wolfgang J. Koschnick gilt in Deutschland, Österreich und der Schweiz als einer der bestinformierten Kritiker der internationalen Werbeforschung und Werbung. Er hat über 50 anerkannte Nachschlagewerke aus dem weiten Feld von Marketing, Management, Marktkommunikation, Werbe- und Mediaplanung, Markt-, Media- und Sozialforschung geschrieben, mit denen mehrere Generationen von Nachwuchswerbern, Marketingexperten, Werbe- und Mediaforschern ausgebildet werden. Dabei bewahrte er stets seine Unabhängigkeit und eine gewisse Streitbarkeit. Bei Bedarf legt er sich mit Werbungtreibenden, Werbern, Werbeagenturen und sonstigen Interessenvertretern ohne Ansehen der Personen, Organisationen und Institutionen an.

[Link auf Beitrag 2433569]Der 2. Teil der Werbeserie:

Große Hampelkunst der Werbefritzen
Um sich die rätselhaften Zusammenhänge in ihrem eigenen Gewerbe zu erklären und vor allen Dingen den Fakten bei der Werbewirkung auf den Grund zu gehen, haben die Werbefritzen sehr viel cerebrale Gymnastik unternommen, um in einer einfachen Formel zusammenzufassen, wie das Teufelszeug überhaupt wirkt. Herausgekommen ist dabei eine große Lachnummer, über die sich sogar die nicht ganz so Minderbemittelten der Branche vor Lachen schier ausschütten. Der Rest der Welt auch.

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