Der russische Big Brother und das Internet

Russischer Internetprovider will Verfassungsklage gegen den Geheimdienst einreichen

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In guter Tradition trat letztes Jahr eine Anordnung vom russischen Geheimdienst FSB, dem Nachfolger des KGB, und dem Regierungskomitee für Kommunikation in Kraft. SORM-2 (Systema operativno-rozysknajh meropriyatii) sieht vor, daß die Internetprovider - natürlich auf eigene Kosten - eine direkte Verbindung zum FSB einrichten müssen, das so den Internetverkehr in Echtzeit überwachen können will. Indem der Internetverkehr über die Computer des Geheimdienstes geleitet wird, muß dieser keine richterliche Genehmigung zum Lauschen einholen, sondern sitzt unmittelbar an der Quelle aller begehrten Daten.

Es regte sich zwar in Petersburg und Moskau Widerstand gegen die vorgesehene Maßnahme, doch der russische Geheimdienst ist immer noch mächtig. Das mußte jetzt Nailj Murzahanov, Direktor von Bayard-Slavia in Wolgograd, erfahren, wie St. Petersburg Times am 18. Mai meldete.

Letzten Monat kamen Geheimdienstagenten zu dem Internetprovider und brachten eine Liste mit Wünschen mit, um seine Kunden abzuhören. Murzahanov sollte nicht nur die erforderliche Technik einbauen, so daß der Geheimdienst einen ungehinderten Zugang zu den Kundendaten hat, er sollte den Geheimdienstagenten auch beibringen, wie man die Technik verwendet, und ihm überdies für Kontrollen das Betreten seiner Privatwohnung erlauben. Nachdem sich Murzahnov weigerte, wurde er bedroht: "Sie äußerten Drohungen wie: 'Es könnte jemand getötet werden'. Ich habe eine Familie." Schon sein Vorgänger, der sich gleichfalls weigerte, SORM umzusetzen, wurde vom Geheimdienst unter Druck gesetzt.

Der "Umsetzungsplan" der gewünschten "Kooperation" beschrieb in allen Einzelheiten, was der Geheimdienst gerne möchte. Bei Weigerung wurde angedroht, seine Firma zu schließen. Das geschah auch letzten Montag, indem der Geheimdienst zunächst einmal die Satellitenverbindung von Bayard unterbrach. Seitdem ist auch die Website nicht mehr zugänglich.

Die Wunschliste der staatlichen Lauscher sah unter anderem vor, daß Bayard Angestellte nennen sollte, die der Geheimdienstabteilung von Volgograd bei der technischen Umsetzung helfen sollten. Zugesichert werden mußte, daß dem Geheimdienst keinerlei Informationen vorenthalten werden. Die Agenten sollten geschult werden, um das System bedienen zu können. Alle notwendigen Geräte und Arbeiten müssen vom Internetprovider bezahlt werden. Murzahanov sagt, daß der Geheimdienst darüber hinaus eine Liste mit allen seinen Kunden mitsamt ihren Kennworten verlangte. Prinzipiell könnte das FSB so nicht nur alles belauschen, sondern auch Dokumente oder Emails verändern und Informationen über die Kunden verkaufen. Doch Murzahanov ist der Meinung, daß dem FSB bislang vor allem eines fehlt: es hat keine Computerexperten, die die Technik wirklich beherrschen, weswegen die Angestellten ja auch von den Internetprovidern geschult werden sollen: "Das ist der wichtigste Punkt. Ich habe alle Kennworte verändert. Jetzt kenne nur ich sie, und ich werde sie niemandem mitteilen."

Aber Murzahonov will jetzt erstmals auch rechtlich gegen den Geheimdienst vorgehen und eine Verfassungsklage einreichen, da SORM wegen der Umgehung einer richterlichen Überwachungsgenehmigung gegen die Verfassung verstoße. Unterstützt wird er dabei unter anderem von der Menschenrechtsorganisation Citizen's Watch, die ihren Sitz in Petersburg hat. Auch Yury Schmidt, der Rechtsanwalt, der den ehemaligen russischen Offizier Alexander Nikitin gegen den FSB verteidigt hatte, das diesen wegen der Veröffentlichung von Informationen über die Versenkung von radioaktivem Abfall aus Atom-U-Booten der Spionage und des Hochverrats bezichtigte, will als Rechtsbeistand Bayard unterstützen. Allerdings sagt er, daß es kein leichter Kampf sein werde: "Kämpfe für die Verfassungsrechts sind in Russland niemals einfach. Das haben wir im Fall Nikitin erfahren."