Der syrische Aufstand 2011: Das Auftauchen der sunnitischen Fremdlinge

Seite 2: "Fremde in der Stadt"

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Interessant ist im selben Zusammenhang ein Blick auf den Blogeintrag am 26. März, als die Proteste, die mit Gewalt einhergingen, die Stimmung im Land beeinflusst haben und auch international größere Aufmerksamkeit bekamen. Hier werden an mehreren Stellen von verschiedenen Augenzeugen, darunter auch vom Schwager des Blogbetreibers, von einem eigenartigen Phänomen berichtet: "Fremde in der Stadt".

Er erzählte, dass alle Sunniten, die in seinem Unternehmen arbeiten, von fremden Sunniten in der Stadt sprachen, die niemand kannte. Er war der Auffassung, dass sie in den Kämpfen gestern im Stadtzentrum (in Latakia) verstrickt waren. Dabei wurde auf eine Anzahl syrischer Soldaten und Polizisten geschossen.

Ähnliches berichten andere Zeugen aus Latakia. In Deraa wurden ebenfalls seltsame Fremde, die in Auseinandersetzungen verwickelt waren, gesichtet. Dazu ist von großen Pro-Assad-Demonstrationen in Damaskus und Aleppo zu lesen.

Dies setzt nun zum einen ein dickes Fragezeichen hinter die verbreitete Behauptung, die Proteste gegen Baschar al-Assad hätten eine Mehrheit hinter sich gehabt - diese Ansicht müsste sich zudem mit dem Phänomen auseinandersetzen, weshalb noch Anfang März 2011 der Zulauf bzw. die Anhängerschaft für eine Protestbewegung gegen die Regierung in Syrien als bemerkenswert gering eingeschätzt wurde.

Das für diese Anmerkung zur Berichterstattung interessantere Fragezeichen hat mit den "sunnitischen Fremdlingen" zu tun. Angesichts dessen, dass die syrische Regierung die Gewalt gegen die Demonstrationen damit begründete, dass in einer Moschee (Omari Moschee in Deraa) Waffen gesammelt worden waren und sich dort eine Gruppe verschanzt habe, die gezielte Schüsse abgegeben haben soll (vgl. Eintrag vom 23. März), kommen dem heutigen Leser auch andere Szenarien in den Sinn, zum Beispiel in der Ukraine.

Gut in Erinnerung ist etwa, wie stark die Medien 2014 das Auftauchen der "grünen Männer" in der Ukraine thematisierten. Geht es um russische Undercover-Aktionen, so war das in jedem Fall ein großes Thema.

Potentielle Undercover-Infiltrationen durch auswärtige Mächte in Syrien passten allerdings nicht in die 2011 vorherrschende Schablone der friedlichen Proteste - über die "unbekannten Sunniten in Syrien" wurde kein Wort verloren. Obwohl Baschar al-Assad in seiner ersten Rede zu den Vorgängen im Land, am 30. März, ausgiebig auf seinen Verdacht der Konspiration, geschürt von anderen Ländern, einging. Das wurde damals als Propaganda ignoriert. Das ist heute nicht mehr so leicht. Auch das gehört zum freien Fall.

Ergänzung:

Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle, dass der Autor selbst nicht der Überzeugung ist, dass die Proteste in Syrien, die im März 2011 größere Formen annahmen, einzig auf das Werk von Islamisten und ausländischen Anheizern, Agenten oder Gruppierungen zurückzuführen sei. As-Saad Mohamad, der Chefredakteur der syrischen Zeitung Kassioun, den Kommunisten nahestehend, äußerte Ursachen für die Proteste, die meiner Meinung nach eine wichtige Rolle spielten.

Die schwierige wirtschaftliche Situation war im März 2011 ein großes Thema des im obigen Artikel genannten Blogs. So ist nicht einfach vom Tisch zu wischen, was Saad Mohamad im Juli 2011 als "wichtigsten Grund" der Protestbewegung nannte - auch hier spielt allerdings Einflussnahme von außen eine wichtige Rolle, aber womöglich auch die Folgen der Klimaerwärmung (Gescheiterte Staaten und Klimakatastrophe):

Der wichtigste Grund ist die wirtschaftliche Situation. Die neoliberale Politik hat die Gesellschaft in Armut gestürzt. Junge Leute sind arbeitslos, viele sind sozial abgestiegen, die Kriminalität hat zugenommen, auch die Prostitution. Die Regierung hat Geld von der Weltbank genommen und sich zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet, die die Lage der Bevölkerung verschlechtern. Und erstmals hat sie um Hilfe des Welternährungsprogramms gebeten. Syrien hatte immer genügend Saatvorräte für vier, fünf Jahre. Davon ist nichts übrig geblieben. Der Staat muß Saatgut und Weizen aus dem Ausland ankaufen.