Deutsche Forscher veröffentlichen ersten 3D-Atlas des menschlichen Gehirns

Seite 2: Jedes Gehirn ist individuell

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Sie erklärten gerade, dass die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen der automatisierten Kartierung im Wege stehen. Am Anfang unseres Gesprächs wiesen Sie aber auf den engen Zusammenhang zwischen der Zellstruktur und den psychischen Funktionen hin. Heißt das nicht, dass das Gehirn von jedem von uns anders arbeitet?

Katrin Amunts: Wir sehen zwar in allen Gehirnen, die wir untersucht haben, die gleichen Gebiete. Diese können wir sogar mathematisch beschreiben. Innerhalb dieser Gemeinsamkeiten gibt es aber eine gewisse, zum Teil sogar beträchtliche Variabilität, die wir ebenfalls quantifizieren können. Was bedeutet das nun für die Funktion?

Denken Sie an eine einfache Sprachaufgabe: Nennen Sie zum Beispiel die Namen der ersten zehn Blumen, die Ihnen einfallen. Jetzt erinnert sich jemand vielleicht an ein Lied, in dem es um Blumen geht. Eine andere Person könnte aber in Gedanken das Blumenbeet des eigenen Gartens ablaufen. Wir können dieselbe Aufgabe also kognitiv unterschiedlich lösen. Menschen haben hier verschiedene Stile und Strategien. Und diese hängen wahrscheinlich auch mit strukturellen Unterschieden zusammen, wie wir sie festgestellt haben.

Denken Sie denn, dass sich diese beiden Ebenen - Zellstrukturen und Psychologie - eines Tages nahtlos verbinden lassen werden?

Katrin Amunts: Ich bin Naturwissenschaftlerin und gehe von der Erkennbarkeit der Organisations des Gehirns aus. Es ist jedoch eine offene Frage, ob und wie die Kategorien von Psychologie oder sogar Soziologie und Kultur zur zellulären Organisation des Gehirns passen. Wichtig ist aber doch, dass es hier Interaktionen in beide Richtungen gibt: Das Gehirn steuert unser Verhalten - und die Umwelt sowie unser soziales Miteinander haben einen großen Einfluss auf das Gehirn.

Diese Art von Wechselbeziehungen ist hochkomplex. Ich denke, dass wir diese Komplexität noch nicht erfassen können. Wahrscheinlich wird man sie nicht zu 100% auflösen können. Dank wissenschaftlicher Forschung sind aber doch wichtige Erkenntnisse über unser Verhalten hervorgetreten, die früher nicht einmal im Ansatz vorhanden waren. Denken Sie insbesondere an die Verarbeitung der Sinnesreize oder den Bewegungsapparat. Diese Funktionen können wir heute recht gut erklären und das hat Bedeutung bis in die Klinik.

Ist angewandte KI mächtiger als Forschung?

Sie haben sich als Hirnforscherin gerade für den Nutzen von KI-Verfahren ausgesprochen. Ist es aber nicht ernüchternd, wenn nun Unternehmen wie Facebook oder Google schlicht aufgrund von Verhaltensdaten weitreichende psychologische Zusammenhänge über uns Menschen herstellen können - und das, ohne auch nur unsere Körper, geschweige denn unsere Gehirne im Detail zu untersuchen?

Katrin Amunts: Ich empfinde das nicht als Ernüchterung. KI-Verfahren - wie im Übrigen auch Computersimulationen - sind Werkzeuge. Wenn man sie richtig anwendet, kann man beispielsweise falsche Annahmen ausschließen. Allerdings kann man Modelle zurzeit nicht so komplex machen, um damit alle relevanten Faktoren abzubilden. Und ich glaube auch nicht, dass KI die Antwort auf alle Fragen ist.

Aus wissenschaftlicher Sicht stellt sie aber eine große Herausforderung dar: Wie kommt so ein Neuronales Netz auf ein bestimmtes Ergebnis? Hier könnte die Hirnforschung gefragt sein, um für mehr Transparenz zu sorgen. Vielleicht nimmt sie eine Vermittlerrolle zwischen Informatikern und der Gesellschaft ein. Als ethisches Problemgebiet fällt mir hierzu beispielsweise die immer weiter personalisierte Art von Information ein, mit der wir in Suchmaschinen konfrontiert sind: Denken Sie daran, wie uns bestimmte Produkte präsentiert werden und damit unser Verhalten beeinflusst werden kann. Wie können wir uns als Bürgerinnen und Bürger vor Manipulationen schützen?

Alte Gehirnkarte abgelöst

Kommen wir noch einmal konkreter auf "Jülich Brain" zu sprechen. Noch heute wird in der bildgebenden Hirnforschung die über 100 Jahre alte Gehirnkarte des deutschen Neuroanatomen Korbinian Brodmann (1868-1918) zur Identifikation von Gehirngebieten verwendet. Lässt sich sagen, um wie viel genauer Ihr neuer 3D-Atlas ist?

Katrin Amunts: Hier liegen mehr als 100 Jahre dazwischen, in denen sehr viel passiert ist. Brodmanns mikroskopische Arbeit ist sicher beachtlich, sonst hätte sie nicht so lange überdauert. Während seine Beschreibungen des Gehirns an vielen Stellen zutrafen, wissen wir aber seit 50 bis 60 Jahren, dass sie in anderen Bereichen nicht stimmten, beispielsweise bei den visuellen Arealen.

Ein wesentlicher Unterschied ist, dass Brodmann nur eine einzige Gehirnhälfte untersuchte. Damit fehlte schon einmal ein Links-Rechts-Vergleich. Die Karte zeigt auch keine Unterschiede zwischen Gehirnen. Das war ein Grund für uns, die Gehirne von zehn Personen zu untersuchen. Damit können wir für jeden Messpunkt die Wahrscheinlichkeit dafür berechnen, in welcher Gehirnregion er liegt. Das ist ein Aspekt der Variabilität, über die wir vorher gesprochen haben.

Und nicht zuletzt haben wir einen Atlas im dreidimensionalen Raum erzeugt, während sich Brodmann und viele andere nach ihm mit zweidimensionalen Schnittbildern begnügen mussten. Das sollte man nicht unterschätzen, denn wir Menschen bewegen uns auch im dreidimensionalen Raum und unser Gehirn repräsentiert diesen Raum auf der Ebene der Nervenzellen. Zwischen den Herangehensweisen vor mehr als 100 Jahren und heute liegen Welten.

Brodmann unterschied 43 Regionen des Großhirns. In Ihrer neuen Arbeit schreiben Sie von ungefähr 180. Wieso weiß man deren Zahl noch nicht genau?

Katrin Amunts: Wir haben jetzt ca. 70% der Oberfläche der Großhirnrinde kartiert. Es gibt also Gebiete, die noch nicht fertig bestimmt sind. Diese Lücken gibt es, weil die Arbeit extrem aufwändig ist. Man weiß noch nicht genau, ob in diesen Zwischenräumen drei oder fünf Areale sind. Bedenken Sie, dass die Kartierung eines einzelnen Gebiets ein Arbeitsjahr kostet - bei fast 200 von ihnen steckt unglaublich viel Zeit drin.

Sie sprachen schon mehrmals die Individualität jedes Gehirns an, die jetzt in ihrem Atlas quantifiziert wurde. Lässt sich allgemein sagen, wie einzigartig das Gehirn von jedem von uns ist?

Katrin Amunts: Menschen unterscheiden sich in der Gehirngröße, in der Art der Faltung der Großhirnrinde und in deren Architektur. Das sind alles strukturelle Eigenschaften, von denen man aber annimmt, dass sie funktionell relevant sind. Interessant ist, dass Areale weniger variabel sind, je näher sie an den Sinnesorganen und je älter sie evolutionär sind. Für mich ist diese Variabilität kein Zufallsrauschen, sondern etwas, das ich gerne verstehen möchte.

Bild: Forschungszentrum Jülich / Katrin Amunts

Vom Gehirn zur Psychologie

Lassen sich diese Unterschiede denn schon psychologisch deuten?

Katrin Amunts: Wir haben einmal ein Gehirn eines Sprachgenies untersuchen können: von einem Mann, der über 60 Sprachen beherrschte und sein Gehirn der Forschung zur Verfügung stellte. Wir verglichen sein Sprachzentrum mit dem von zwölf anderen Gehirnen. Dabei stellten wir tatsächlich eine andere Zellstruktur und andere Asymmetrien fest. Das Sprachzentrum dieses Manns war im Vergleich zu den Kontrollen ein "Ausreißer", der sich von anderen deutlich unterschied. Das ist ein starker Hinweis darauf, dass die Architektur der Zellen etwas mit der Funktion - hier dem Sprachvermögen - zu tun hat.

Solche Untersuchungen an Gehirnen verstorbener Menschen erlauben es natürlich nicht mehr, die psychischen Funktionen zu untersuchen. Auf der anderen Seite haben wir jetzt Verfahren der bildgebenden Hirnforschung, die wir beim lebendigen Menschen anwenden können. Da lässt sich aber die Mikrostruktur nicht gut untersuchen. Unser "Jülich Brain" ist als Bindeglied zwischen diesen beiden Welten gedacht - wir wollen Hirnaktivierungen aus modernen bildgebenden Untersuchungen den mikroskopischen Karten gegenüberstellen, um mehr über den Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion zu erfahren.

Werden aber durch Ihren 3D-Atlas nun nicht die Ergebnisse von 50 Jahren bildgebender Hirnforschung gewissermaßen widerlegt, weil diese Studien die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen nur unzureichend oder gar nicht berücksichtigten?

Katrin Amunts: Diese älteren Studien entsprechen dem damaligen Stand der Forschung. Jetzt kann man viel genauer hinschauen und man kann bildgebende Untersuchungen in großen Kohorten durchführen. Mir ist wichtig, einem Gebiet nicht nur irgendeinen Namen zu geben, sondern wirklich zu verstehen, was sich dahinter verbirgt - welche zelluläre Architektur steckt dahinter, wie sieht die Verbindungsstruktur mit anderen Hirnarealen aus und wie sind die molekularen, funktionellen und genetischen Eigenschaften. Darum finden Sie in unserem Atlas zu vielen Gebieten auch Verweise zu Originalpublikationen, in denen die Struktur genauer beschrieben ist.

Langfristige Forschungsprojekte

Ich glaube, inzwischen dürfte jedem deutlich geworden sein, was für ein Mammutprojekt das "Jülich Brain" ist. In der heutigen Wissenschaftslandschaft ist Förderung oft nur auf drei oder vielleicht maximal fünf Jahre ausgelegt. Wie haben Sie und Herr Zilles es geschafft, Ihr Projekt über ein Vierteljahrhundert umzusetzen? Gab es in dieser Zeit auch schwierige Perioden, in der das Projekt zu scheitern drohte?

Katrin Amunts: Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir ein Wissenschaftssystem mit den Sonderforschungsbereichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) haben, mit der Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), mit der Helmholtz-Gesellschaft, die das Forschungszentrum Jülich trägt, und seit einigen Jahren auch Förderung der Europäischen Union. Von Vorteil war es, dass wir das große Projekt in viele kleine Teile zerlegt haben, die auch schon klinische oder psychologische Anwendungen hatten. So konnten wir uns Schritt für Schritt voranarbeiten.

Es gab in den 25 Jahren natürlich auch schwierige Zeiten. Wir mussten ständig neue Methoden entwickeln, in Software implementieren, Abläufe vereinheitlichen und Qualitätskontrollen einführen. Wirklich zu scheitern drohte es aber nie. Wir haben fortwährend daran gearbeitet, die Verfahren zu verbessern und mehr zu automatisieren. Stellen Sie sich ein Schiff vor, bei dem man noch einen Mast aufstellt und die Segel näht, während es aus dem Hafen ausläuft. So haben wir unseren Ansatz immer weiter angepasst, während wir an dem Projekt gearbeitet haben.