Deutsche Lehren aus dem Ukraine-Krieg

Seite 4: Ansage der USA beendet die Ostpolitik und sorgt für immensen Schaden

Mit diesem Sonderverhältnis ist es nun vorbei. Es war offenkundig nicht dazu in der Lage, Russland von seinen Forderungen abzubringen; Stopp der Nato-Erweiterung in der Ukraine und der weiteren Aufrüstung des Bündnisses in Europa. Was hatten denn auch der deutsche Kanzler und der französische Präsident bei ihren langen Gesprächen im Kreml zu bieten? Auf die russischen Forderungen einzugehen, war ausgeschlossen.

So lautete die klare Ansage des Westens, formuliert von den USA und damit für alle ihre Bündnismitglieder bindend. Moskau hatte schließlich auch seine Forderungen an die US-amerikanische Weltmacht adressiert – wissend, dass dort der entscheidende Gegner einer russischen Weltmacht sitzt.

Die Drohung, die einträglichen Wirtschaftsbeziehungen drastisch herunterzufahren, verfing deshalb nicht. Der Aufbau eines westlichen Frontstaates in der Ukraine gilt Russland als eine existenzielle Bedrohung. Angesichts dessen verblassen Sanktionen jeder Art.

Deutschland hat sich seither mit der unbedingten Gefolgschaft des Vorgehens der USA gegen Russland, dem umfassenden Boykott der Wirtschaftsbeziehungen eine Menge Probleme eingehandelt. Die Liste ist lang, und sie wird beinahe täglich um neue ergänzt.

Nur um die aktuell größten zu benennen: Gas, Kohle und Öl müssen so schnell wie möglich woanders herkommen, sonst drohen dramatische Einbrüche in der Produktion; und der nächste Winter kommt bestimmt, sprich wird kalt, und wenn es schlecht läuft auch die Wohnungen der Bundesbürger. Und wenn etwa Gas aus dem eigentlich bösen Katar oder dreckiges Fracking-Gas aus den USA kommt – wer kann das überhaupt bezahlen?

Generell werden die Energiepreise enorm steigen, einen Vorgeschmack an den Tankstellen gibt es bereits. Lieferketten reißen, Vorprodukte kommen nicht an, so dass hiesige Hersteller ihre Waren nicht fertig bekommen.

Unter anderem Öl, Rohstoffe, Metalle, Eisen, Stahl und Getreide bezieht Deutschland aus Russland und der Ukraine. Durch den Krieg sind diese Lieferungen stark beeinträchtigt. Dabei sind sie für die Produktion der deutschen Industrie essentiell. Die Folge: Die Preise steigen.

Dominic Possoch, BR24

Ohnehin haben deutsche Unternehmen ihre Geschäftsbeziehungen mit Russland weitestgehend eingefroren, im gebotenen nationalen Gehorsam. Für Konzerne wie Linde und Siemens stehen Aufträge in Milliarden Euro-Höhe zur Disposition, weil die russische Gazprom nun auf dem Index steht.1

Bereits die Sanktionen seit der Aufnahme der Krim in das russische Staatsgebiet 2014 entfalteten auf die EU und besonders Deutschland eine starke negative Wirkung, so eine Untersuchung von Matthieu Crozet von der Lingnan University in Hongkong und Julian Hinz vom Kieler Institut für Weltwirtschaft unter dem Titel Friendly Fire: The Trade Impact of the Russia Sanctions and Counter-Sanctions:

Der Studie zufolge geht durch die Russland-Sanktionen Handel im Volumen von vier Milliarden Dollar pro Monat verloren. Von diesen Exportverlusten tragen 1,8 Milliarden US-Dollar oder 45 Prozent die sanktionierenden Länder, 55 Prozent Russland. Die Europäische Union (EU) wiederum trägt 92 Prozent des Schadens der sanktionierenden Länder. Der Löwenanteil entfällt auf Deutschland mit 38 Prozent oder 667 Millionen US-Dollar Handelsverlust pro Monat.

Die Verluste dürften nun für Deutschland um ein Vielfaches steigen. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) entgehen der Europäischen Union in diesem Jahr gut 660 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung: "Damit fehlen auch Hunderte Milliarden an Löhnen, Steuereinnahmen und familieninterne Überweisungen, die dringend gebraucht werden, um die pandemiebedingten Wohlfahrtsverluste in aller Welt auszugleichen und die vielerorts gestiegene Armut entschlossen zu bekämpfen", fasst die Süddeutsche Zeitung zusammen (Ausgabe 20. April 2022).

Die Bundesrepublik zählt laut IWF zu den Ländern mit den größten Schäden. Das Wirtschaftswachstum breche ein von prognostizierten 3,8 auf nur noch 2,1 Prozent – während Frankreich, Japan und die USA deutlich glimpflicher davonkämen.

Die deutsche Konsequenz: Abhängigkeiten runter, Rüstung rauf

Angesichts dessen mahnt die auch durch ihre Talkshow-Auftritte mittlerweile einschlägig bekannte Wirtschaftsweise Veronika Grimm:

Die alte Weltordnung ist durch den Angriff Russlands auf die Ukraine in Frage gestellt worden. (...) Wir haben bisher unsere Energieversorgung sehr stark von Russland abhängig gemacht. Unsere Handelspolitik, also unsere Wirtschaft, lebt aktuell davon, dass wir viel in den asiatischen Raum, insbesondere nach China exportieren. Da müssen wir uns neu aufstellen. Wir müssen mehr auf eine Sicherheitsordnung achten, die uns auch robust macht mit Blick auf diese Abhängigkeiten, und wir müssen vor allem die Abhängigkeiten reduzieren.

Da liegt sie ganz auf der Linie von Außenministerin Annalena Baerbock. Man dürfe "... nicht in eine neue Abhängigkeit von anderen Ländern hineinschlittern, sondern energiepolitisch eine eigene Souveränität haben".

Kurzfristig allerdings muss Deutschland in den sauren Apfel beißen: Die alten Abhängigkeiten werden vornehmlich gegen neue aus Katar und den USA eingetauscht. Langfristig indes sollen die erneuerbaren Energien die ersehnte Autarkie bringen – Strom- und Wärmeerzeugung hauptsächlich im eigenen Land. Das nennt sich dann "Freiheitsenergien": Freiheit von der Zulieferung anderer Staaten.

Denn das ist das Ideal einer sich als Weltmacht verstehenden Nation – keiner Einflussnahme von potenziell unbotmäßigen Ländern zu unterliegen. Und so selbst die Regeln zu bestimmen, ohne Gegendrohungen befürchten zu müssen.

Als drittgrößter Importeur und Exporteur auf dem Globus, nach den USA und China, ist das für Deutschland enorm wichtig. Man hat schließlich eine Menge Geschäft in der Welt abzusichern.

Geschäft, das auf Kosten anderer Staaten und deren Wirtschaft geht. Da sollten diese Verlierer des Welthandels möglichst keine Druckmittel in der Hand haben. Und falls diese auf die Idee kommen sollten, mit Gewalt die für sie nachteiligen Verhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern, muss ein stattliches Militär für die nötige Abschreckung sorgen. Oder, wenn das nicht reicht, wirksam eingreifen.

Ende des deutschen Aufstiegs: Die USA norden den Bündnispartner ein

Bisher funktionierte das für Deutschland auch gut. Mit der militärischen Macht der Nato und der ökonomischen Wucht der Europäischen Union traten die Bundesregierungen mit ihren Interessen stets durchsetzungsstark gegenüber den ausländischen Adressaten ihres Kapitals auf. Der deutsche Aufstieg und die langjährige Spitzenposition auf dem Weltmarkt rühren daher.

Nicht erst Donald Trump, aber er unmissverständlich und undiplomatisch, machte als US-Präsident allerdings die Schwäche dieses Erfolgswegs deutlich – der ist nun einmal abhängig von der US-amerikanischen Duldung. Entsprechend hart schlug seine Kritik hierzulande ein2:

So wie der Präsident es sieht, lässt sich Deutschland seinen militärischen Schutz via Nato von amerikanischen Bürgern bezahlen, zugleich exportiert es massenhaft Waren in die USA und raubt eben diesen Bürgern die Arbeitsplätze. Und dann hat Berlin noch die Impertinenz, Milliarden an Russland für Gaslieferungen zu zahlen, an das Land also, vor dem die USA Deutschland auf ihre Kosten schützen.

Sein Nachfolger Joe Biden drückt das natürlich anders aus, aber er handelt danach. Der US-Kongress einigte sich im August 2021

auf ein rund eine Billion Dollar schweres Infrastrukturprogramm, das nicht nur das Wachstumspotenzial erhöhen, sondern vor allem die heimische Industrie zu alter Stärke zurückführen soll. Gleichzeitig kündigte Biden schärfere Regeln für ausländische Firmen an, die sich in den USA auf öffentliche Ausschreibungen bewerben.

Die Maßnahmen sollen "nur der Anfang" sein, um Lieferketten, Produktion und Innovationen unabhängiger vom Rest der Welt zu machen, so der Präsident. (…) Spätestens mit dem neuen Infrastrukturpaket dürfte auch dem letzten Transatlantiker klar sein: "Bidenomics" bedeuten nicht weniger "America first". Im Gegenteil, Protektionismus ist eine Konstante der Präsidentschaft Bidens – in mancher Hinsicht ist er hier sogar konsequenter als Trump.

Handelsblatt, 01.08.2021

Dieses massive wirtschaftliche Aufrüstungs-, Schutz- und Unabhängigkeitsprogramm ist eine Kampfansage sicher in Richtung China, aber auch an Deutschland und die EU. Schließlich sind diese Nationen beziehungsweise Staatenbündnisse die für die USA ernstzunehmenden Gegner auf den Weltmärkten. Von wem sonst will sich Washington verloren gegangene Marktanteile zurückerobern? Es wird also ökonomisch ungemütlich für Deutschland – und nun auch militärisch.

Die Nation wird eingereiht in die US-amerikanische Front gegen Russland und gezwungen, die Beziehungen zu Moskau einzustellen. Donald Trump dürfte feuchte Augen bekommen haben, als er hörte, dass Berlin nun nicht nur das Ziel der Nato erfüllt, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militär auszugeben – sondern es sogar übertrifft. Auf einmal werden Waffen sogar in ein Kriegsgebiet geliefert. Und mal eben werden 100 Milliarden Euro locker gemacht für die größte Aufrüstung, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Deutschen erlebt haben.

Eine enorme Verschuldung zusätzlich zu den bereits umfangreichen Staatskrediten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie facht die Inflation weiter an. Doch das zählt in Kriegszeiten nicht. Den "Partner" Russland gibt es nicht mehr, er soll kleingemacht werden. Was dann übrig bleibt, teilt der Sieger USA unter sich und den Rest unter seinen Vasallen auf.