Deutsche wollen weniger Stress - doch wie?

Seite 4: Die antike Stoa

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Wem diese Gedanken komisch vorkommen oder wer Schwierigkeiten mit "östlichen Weisheiten" hat, dem sei gesagt, dass sie genausogut unserem eigenen Kulturkreis entstammen. So finden sich in der antiken Schule der Stoa und dann vor allem beim römisch-griechischen Sklavenphilosophen Epiktet (ca. 50 bis 138 n. Chr.), von dem es heißt, er sei selbst gelassen geblieben, als sein Herr ihm das Bein verstümmelte, eindrucksvolle Passagen: "Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge." Du bist nicht deine Gedanken. Und Epiktet fährt fort:

So ist zum Beispiel der Tod nichts Furchtbares - sonst hätte er auch dem Sokrates so erscheinen müssen -, sondern nur die Meinung, er sei etwas Furchtbares, das ist das Furchtbare.

Epiktet, Handbüchlein der Moral, 5

Oder am Beispiel von Beleidigungen:

Bedenke: Nicht wer dich beschimpft oder dich schlägt, verletzt dich, sondern nur deine Meinung, daß diese Leute dich verletzen. Wenn dich also jemand reizt, so wisse, daß es deine eigene Vorstellung ist, die dich gereizt hat.

Epiktet, ebenda, 20

Wenn wir dazu jetzt noch die Überzeugung nehmen, dass man im Falle einer Provokation "seinen Mann stehen" muss, dass es die Ehre zu verteidigen gilt, weil man sonst eine "Memme" (veraltend für Feigling; ursprünglich war es ein Wort für die Mutter bzw. Mutterbrust) ist, dann versteht man vielleicht, warum sowohl die meisten Täter als auch die meisten Opfer von Gewaltverbrechen Männer sind.

Dabei sagen Beleidigungen viel mehr über den Geisteszustand des Beleidigers als des Beleidigten aus. Das sieht man auch sehr deutlich hier im Diskussionsforum. Wer sich aber beleidigen lässt, der räumt dem anderen Macht über die eigenen Gedanken und Gefühle ein. Das formulierte Epiktet sehr deutlich an der folgenden Stelle:

Wenn jemand deinen Körper dem ersten besten, der dir begegnet, ausliefern würde, dann wärest du entrüstet. Daß du aber dein Denken jedem Beliebigen auslieferst, so daß es beunruhigt und verstört wird, wenn er dich beleidigt - dessen schämst du dich nicht?

Epiktet, ebenda, 28

Zu den Lebensphilosophen und Weisen oder Ethikern in diesem Sinne zählten unter den Stoikern auch der Anwalt und Konsul Cicero, der Kaiser Mark Aurel, Musonius und Seneca (der Jüngere). Ihre Lehre verspricht bis heute apatheia, autarkia und ataraxia: Freiheit von Affekten, Selbstgenügsamkeit und Unerschütterlichkeit, im Endergebnis Seelenruhe.

In den vorherigen Absätzen sahen wir, dass psychisches Leiden oft mit dem Denken begann, konkreter mit Überzeugungen und Meinungen, altgriechisch dogmata. Dass dogmata die Seelenruhe stören, wussten aber schon Jahrhunderte vor den Stoikern die Skeptiker, allen voran Pyrrhon von Elis (ca. 360 bis 270 v. Chr.).

Daher wollten die Radikalen unter ihnen völlig adogmatisch, also ohne jegliche Meinung leben. Die weniger Radikalen - sogenannten akademischen Skeptiker - dachten, man müsse nur falsche Meinungen aufgeben und könne die Richtigen bewahren. Pyrrhon erreichte jedenfalls ein außergewöhnlich hohes Alter.

Ost und West ist einerlei

Der Kreis zwischen West und Ost schließt sich jetzt, wenn man weiß, dass Pyrrhon Alexander den Großen (365-323 v. Chr.) auf dessen Indienfeldzug (326 v. Chr.) begleitete - und dort Kontakt mit indischen Weisen hatte, den sogenannten Gymnosophisten (wer mehr darüber lesen möchte).

Diese bekamen ihren Namen daher, dass sie nackt (altgriechisch gymnos) waren, weil sie Kleidung für unnötig hielten. Es waren Asketen, die indische Philosophen oder Yogis gewesen sein könnten, vielleicht auch Jains oder frühe Buddhisten.

Ob wir es östlich oder westlich nennen - das spielt letztlich keine Rolle. Und schon Jahrhunderte vor Alexanders Feldzug gab es lebhaften Handel zwischen den Völkern. Die aus jener fernen Zeit erhaltenen Quellen stoßen hier aber an ihre Grenzen.

Der springende Punkt ist, dass sowohl der Buddhismus mit seiner Meditation, der philosophisch angehauchte Yoga, insbesondere mit Ideen des Advaita Vedanta, die antiken Skeptiker, die Stoiker oder eben auch die genannten neuen Ansätze in der Psychotherapie auf das Ergebnis hinauslaufen, dass wir uns nicht mit unseren Gedanken und Gefühlen zu identifizieren brauchen.

Was Erwartungen mit uns machen

Andernfalls kann psychisches - und in letzter Konsequenz auch physisches - Leid entstehen. Drei niederländische Yogalehrer haben das anhand eines Alltagsbeispiels in einem schon lange vergriffenen Buch wie folgt erklärt. Es geht schlicht darum, dass man Freunde besuchen will:

So schöpfen wir Bilder, Erwartungen, und nachdem du die Wohnungstür hinter dir zugezogen hast, bist du nicht wirklich auf dem Weg zu deinen Freunden, sondern bist du unterwegs zu deinen eigenen projizierten Erwartungen. Wenn sich die Tür bei deinen Freunden öffnet, dann betrittst du nicht wirklich ihre Wohnung… sondern deine eigene projizierte Situation: Du betrittst etwas, von dem du ein vollständiges Bild in dir hast, dass es so-und-so sein wird - kurzum, du betrittst eigentlich eine Art Traum. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass die Situation, so wie du sie antriffst, etwas anders aussieht als das, was deine Erwartungen projiziert haben. Und das Ergebnis könnte sein, dass du dich nicht gänzlich wohl fühlst und dir eine Ausrede ausdenkst, um so schnell wie möglich wieder zu gehen. Oder, noch schlimmer, du setzt deine Freunde unter Druck, vielleicht auf eine sehr subtile Art und Weise, damit sie sich so verhalten, wie du es geträumt hast, dass sie sich zu verhalten haben, wenn du bei ihnen bist!

Keers/Lewensztain/Malavika, 1977, S. 41; Übersetzung S. Schleim

Dem möchte ich die Beschreibung der Gedanken- und Gefühlswelt eines Pariser Fußballfans und Hooligans in Philippe Claudels Roman "An meine Tochter" entgegenstellen, der später im Roman auch noch jemanden brutal zusammenschlagen wird:

Sie beschimpfen die elf Spieler der gegnerischen Mannschaft als 'Kinderficker' und 'Arschlöcher' und den Schiedsrichter als 'Neger', 'Kanaken' oder 'Kameltreiber', falls er ein wenig braun aussieht und ein Foul pfeift, wo sie keines bemerkt haben. […] So geht er in das Café im Erdgeschoss des Krankenhauses [wo er arbeitet] und trinkt dort zehn Bier, 'um mich aufzuheizen', bevor er das Stadion betritt, wo Alkohol verboten ist. Die Bereitschaftspolizei pfercht ihn und die anderen auf vergitterten Tribünen gruppenweise wie in Hundezwingern zusammen, als wären sie gefährliche Viehherden, die unter verschärfte Bewachung gestellt werden, und [er] stößt Kriegsgeheul aus, macht den Nazigruß, zeigt den Stinkefinger, schreit obszöne Beleidigungen, entfaltet mehrere Meter lange, bemalte Spruchbänder, auf denen in riesigen Buchstaben geschrieben steht: 'Marseille! Die Pariser Ultras ficken euch!', wenn die Pariser Mannschaft Marseille zu Gast hat, oder: 'Lens! Die Pariser Ultras ficken euch!', wenn sie Lens zu Gast hat, oder auch: 'Straßburg! Die Pariser Ultras ficken euch durch!', wenn sie Straßburg zu Gast hat, und ein bisschen Abwechslung muss sein, und so weiter für jede eingeladene Mannschaft, die meistens unter einem Hagel von Schrauben, Muttern, Nägeln, Flaschenscherben und mit Urin und Exkrementen gefüllten Präservativen vom Platz geht. Das tut er 'aus Liebe zum Sport', denn wie sagt er so oft zu mir: 'In unserer verrückten Welt ist und bleibt der Sport das einzig Wahre.'

Philippe Claudel, Position 481 im eBook

Alles beginnt im Denken

"Du bist nicht deine Gedanken!", möchte ich da erwidern, und würde wahrscheinlich doch nicht verstanden. Es ist aber so, dass kein Krieg, keine Körperverletzung, kein Betrug, kein Streit und auch kein psychischer Stress entstehen würde, wenn da nicht erst ein Gedanke oder ein Gefühl, wahrscheinlich beides wäre.

Da scheint es mir die Mühe wert, sich einmal damit auseinanderzusetzen. Nicht indem man es unterdrückt, denn wie ein Ball, den man unter Wasser drückt, kommt es dann doch hochgeschossen. Sondern indem man es sich schlicht: anschaut.

Quellen:

Epiktet zitierte ich in der Übersetzung von Kurt Steinmann: Handbüchlein der Moral. Stuttgart: Reclam.

Philippe Claudel: An meine Tochter. Deutsch von Christiane Seiler. Rowohlt digitalbuch.

Wolter A. Keers, Jacques Lewensztain und Kumari Malavika (1977). Yoga als Kunst van het ontspannen. Utrecht: Het Spectrum.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.