Deutsche wollen weniger Stress - doch wie?

Seite 3: Eine Bedienungsanleitung für uns selbst

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Wie Körper und Geist funktionieren, das verrät uns aber niemand so richtig. Bei der Geburt eines Menschen wird kein Handbuch mitgeliefert. Und zum Arzt oder Psychologen gehen wir meist erst dann, wenn es schon ein ernsthaftes Problem gibt.

Das ist natürlich die Marktlücke für die Fülle an Selbsthilfeliteratur und -Kursen. Oder eben für den Hype um Meditation, Mindfulness und Yoga. Wo es aber so viel gibt, da kann die Auswahl schwerfallen.

Es gibt auch keine unabhängigen Qualitätskriterien: Jeder kann sich Coach, Lebensphilosoph oder Yogalehrer nennen, anders etwa als bei psychologischen Psychotherapeuten oder Ärzten.

Ein Wegweiser könnte dann vielleicht die Tradition sein, nämlich in dem Sinne, dass sich wahrscheinlich bewährt hat, was es schon lange gibt. Und dabei ist nicht nur an einige Jahre oder Jahrzehnte zu denken, sondern womöglich an Jahrhunderte oder Jahrtausende.

Auch wenn sich unsere Gesellschaften in diesem Zeitraum dramatisch verändert haben - die eingangs erwähnten neuen Technologien sind hierfür das beste Beispiel, wobei ich mich schon gar nicht mehr daran erinnern kann, wie wir in den Zeiten vor E-Mails und Handys Verabredungen getätigt haben - so sind unsere Körper wegen der nur langsam voranschreitenden biologischen Evolution doch relativ gleich geblieben. Und vielleicht ist dieses Auseinanderklaffen von Kultur und Natur in unserem Leben schon eine der Ursachen für unsere Stressprobleme.

"Du bist nicht deine Gedanken"

Eine zentrale Botschaft, die uns östliche Meditation und auch der eher philosophisch-besinnliche Yoga mitteilen, könnte man wie folgt auf den Punkt bringen: "Du bist nicht deine Gedanken."

Damit ist gemeint, dass sich für uns ununterbrochen Gedanken und Gefühle manifestieren, wir uns mit diesen aber nicht identifizieren müssen. Dabei geht es jedoch nicht darum, etwas zu unterdrücken, sondern schlicht urteillos wahrzunehmen. Das meint man mit Mindfulness, zu deutsch auch Achtsamkeit.

Zum Verständnis dieser Idee kann man sich einen Kinobesuch vorstellen. Vielleicht ist es ein Horrorfilm oder ein Thriller oder ein Liebesfilm, der uns bewegt. Wenn die Story packend ist, wenn niemand neben uns quasselt oder zu laut mit dem Popcorn raschelt und uns somit an die Umgebung erinnert, dann fällt unsere Wahrnehmung vielleicht mit dem Film zusammen, dann fühlen wir uns als einer der Charaktere und dann erleben wir Freude, Überraschung, Angst oder Schrecken der Handlung vielleicht sogar am eigenen Leib. Wahrnehmender und Wahrgenommenes fallen dann in eins.

Dabei kann dieses Ineinanderfallen gerade das Besondere am Kinobesuch sein und als lustvoll und intensiv erfahren werden: Einmal aus dem Alltagstrott heraustreten und sich für zwei Stunden in ein anderes Leben, in eine andere Welt begeben und treiben lassen.

Das mag beim Kinobesuch noch unproblematisch sein. Wenn Menschen aber vielleicht zehn, fünfzehn oder gar zwanzig Stunden am Stück in ein Computerspiel eintauchen, am nächsten Tag wieder und wieder, und gar nicht mehr in ihr körperlich-gesellschaftliches Leben zurückfinden, dann kann das problematisch werden (ICD-11 erschienen: Computerspielen kann als psychische Störung diagnostiziert werden).

Leben auf Autopilot

Wenn nun im Leben alles mehr oder weniger rund läuft, wenn alles "funktioniert", dann kann das Zusammenfallen von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem problemfrei sein. Vielleicht stellt sich noch die Frage, wie bewusst jemand sein eigenes Leben lebt, oder ob derjenige nicht vielmehr im Modus des Autopiloten vorbeizieht. Aber diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Und warum fühlen sich dann trotzdem so viele gestresst?

Problematischer ist es aber, wenn jemand Denk- und Verhaltensmuster hat, die zu permanentem Stress führen: Nie zufrieden sein können; immer mehr, immer besser sein wollen; die kleinsten Makel als Scheitern werten; sich keine Pausen gönnen; sich selbst ablehnen; sich einreden, etwas nicht gut zu können oder gar ein Versager zu sein; denken, dass einem alles zu viel ist; sich unattraktiv fühlen, hässlich, zu dick, zu dünn.

Die Ursachen dieser Muster liegen meistens in der Vergangenheit, mitunter schon in der frühesten Kindheit. Ihre Folgen realisieren sich aber in unserer Gegenwart. Immer und immer wieder.

Durch die Trennung von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, also durch das Durchbrechen der Identifikation mit Gedanken und Gefühlen, kann man sich überhaupt erst einmal der Tatsache bewusst werden, dass man diese Denk- und dazugehörige Verhaltensmuster (sich etwa immer zu viel vorzunehmen) hat. Und dass sie Probleme verursachen.

Durch die anschließende Erfahrung, dass diese Gedanken und Gefühle eben nur das sind: Gedanken und Gefühle, die kommen und gehen und mit denen wir nicht unbedingt etwas anfangen müssen, können sie abklingen und an Macht über uns verlieren. Dieses Wissen über Achtsamkeit haben sich auch die neueren Mindfulness-basierten Ansätze in der Psychotherapie zunutze gemacht und inzwischen seit vielen Jahren angewandt.