Deutschland - überrollt, überfremdet, überfordert?!?
Seite 2: Die Periode des "Wirtschaftswunderlandes" 1953 bis 1973
- Deutschland - überrollt, überfremdet, überfordert?!?
- Die Periode des "Wirtschaftswunderlandes" 1953 bis 1973
- Die Periode großer Wirtschaftskrisen und der arbeitsmarktpolitischen Kehrtwende 1974-1988
- Die Periode des Zusammenbruchs des "Ostblocks" und der Kriege in Jugoslawien, Afghanistan und Irak: 1989-2000
- Die Periode der EU-Osterweiterung, Finanzkrise sowie des Syrienkriegs 2001-2015
- Die EU-Binnenwanderung als stärkster Faktor der Migration
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Schutzsuchende waren in den ersten 21 Jahren der Bundesrepublik Deutschland so gut wie gar nicht Teil der Migration. Wenn überhaupt, so waren es in dieser Zeit vor allem Flüchtlinge aus den sog. Ostblockstaaten, die vom deutschen Asylrecht Gebrauch machten. Ihnen wurde nahezu uneingeschränkt Schutz gewährt, da ihnen regierungsseitig zum Beweis der Überlegenheit des westlichen Modells ein Aufenthaltsrecht auch unabhängig von der asylrechtlichen Prüfung zugesichert worden war.
So kamen etwa 1956 im Zuge des sog. Ungarn-Aufstands rd. 6.000 Flüchtlinge nach Deutschland. Über den Gesamtzeitraum 1953-1973 hinweg waren die Antragszahlen allerdings im Vergleich zu heute marginal. Durchschnittlich wurden 4.800 Asylanträge im Jahr registriert (Abb. 1: grün; die konkreten Zahlen in dieser und den anderen beiden Kategorien sind in den meisten Diagrammen wegen zu großer Unübersichtlichkeit nicht eingeblendet).
Ursache für die Zuwanderung von Menschen aus anderen Staaten war in dieser Zeit nahezu ausschließlich die boomende deutsche Wirtschaft und der nicht gedeckte Arbeitskräftebedarf. Ausgelöst durch den hohen Arbeitskräftemangel schloss Deutschland 1955 ein Anwerbeabkommen mit Italien ab. Es folgten weitere Verträge mit Griechenland und Spanien (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Durch diesen aktiv gemanagten stetig steigenden Zustrom von "Gastarbeitern" wurde die hiesige Arbeitskräftelücke für viele Jahre geschlossen.
Dabei war (auch) damals die Haltung der Deutschen zur Zuwanderung gespalten, sogar leicht überwiegend negativ, wie eine Umfrage des Allensbacher Instituts im Jahr 1956 ergab (Noelle, Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957). Auf die Frage "Sind Sie dafür oder dagegen, dass italienische Arbeiter nach Deutschland geholt werden?" antworteten 55% der Befragten mit "Dagegen". Von den 55% ablehnenden Antworten gab die große Mehrheit (41%) als Begründung an, dass es genügend deutsche Arbeitskräfte gebe. Nur 20% waren explizit dafür und unter Umständen dafür waren 6%. Noch nicht davon gehört hatten 18%.
Wie sahen in diesen Boom-Jahren die konkreten Zuwanderungszahlen aus? In der sog. Wanderungsstatistik von DESTATIS bzw. der Genesis-Online Datenbank (hier und hier) werden die jährlichen Zuzüge und Fortzüge von Personen gezählt, die aus dem Ausland über die deutsche Grenze kommen. Aus diesen wird dann jährlich ein Saldo gebildet, d. h. entweder überwiegen die Zuzüge die Fortzüge, wodurch ein "Überschuss" an Zuzügen entsteht (auch Netto-Zuwanderung), oder umgekehrt.
Die Politik der Anwerbeabkommen hatte insoweit eine deutliche Veränderung der Bevölkerungsstruktur in Deutschland zur Folge. Die Netto-Zuwanderung von Menschen aus anderen Staaten stieg von rd. 25.000 in 1955 innerhalb der nächsten zehn Jahre sukzessive auf den Spitzenwert von 300.000 i. J. 1965 (Abb. 1: rot & blau). Bereits am 10. September 1964 hatte man die Ankunft des millionsten "Gastarbeiters" in Deutschland gefeiert. Kurzfristig unterbrochen wurde dieser stete Anstieg der Zuwanderung durch die im Herbst 1966 einsetzende Rezession. Die bis dahin positive Netto-Zuwanderung stürzte infolgedessen rapide ab. Bereits 1966 sank sie um 200.000 auf rd. 100.000 ab und im Folgejahr 1967 lag sie sogar bei minus 200.000.
Mit der Rezession von 1966/1967erfuhr die "Wirtschaftswunderrepublik" einen tiefen Einschnitt. Nach den Boom-Jahren mit einem Wachstum von bis zu zwölf Prozent trat erstmals Arbeitslosigkeit auf, wenn auch gemessen an den Erfahrungen der folgenden Jahrzehnte "nur" von 2,1 Prozent in 1967. Die entstandene Unsicherheit führte in der Arbeitsmarktpolitik bundesweit zu kritischen Diskussionen über den Sinn der Ausländerbeschäftigung. 1967 sorgte Bundeskanzler Ludwig Erhard für Schlagzeilen mit dem Ausspruch, wenn jeder Deutsche eine Stunde in der Woche länger arbeite, brauche man die ausländischen Arbeitskräfte nicht.
Mit dem wieder einsetzenden Wirtschaftsaufschwung ab 1968 drehte sich der Trend der Wanderungsbewegungen für sechs Jahre wieder um, wobei nach einem kurzfristigen Hochschnellen auf einen Zuwanderungsüberschuss von jeweils rd. 540.000 in 1969/70 dieser sich in den Jahren bis 1973 dann auf durchschnittlich 340.000 wieder etwas reduzierte. Das Jahr 1973 hat dann im Weiteren zu einer grundlegenden Kehrtwende in der Zuwanderungspolitik geführt.
In den 21 Jahren von 1953 bis 1973 sind effektiv rd. 3,9 Mio. Ausländer nach Deutschland eingewandert. Darunter befanden sich rd. 100.000 Zuwanderer mit Schutzantrag (Abb. 1: grün). Im Mittel kamen in dieser Periode jährlich rd. 4.800 Asyl-Antragsteller. Bei den restlichen rd. 3,8 Mio. Zugewanderten (97%) handelte es sich um die seinerzeit sog. "Gastarbeiter". Da damals noch die aus sechs Staaten bestehende EWG (BE, DE, FR, IT, LU, NL) existierte, rekrutierte sich der Hauptanteil an Arbeitskräften aus den seinerzeitigen Drittstaaten der EWG (Abb.: rot). Aus der EWG kamen fast ausschließlich Italiener.
Hinter den beschriebenen saldierten Zuwanderungswerten verbirgt sich im Übrigen eine Dynamik, die den eigentlichen Kern der jährlichen Wanderungsprozesse ausmacht und die mit der bloßen Stichtags bezogenen Ausländerbilanz (zum 31.12. eines Jahres) nicht erfasst wird. Denn hinter dem Zuwanderungsüberschuss von z.B. 540.000 i. J. 1969 verbergen sich rd. 910.000 Zuzüge von ausländischen Arbeitskräften und 370.000 Fortzüge. Die unterjährigen Zu- und Fortzugsprozesse sind daher sehr volatil und kennzeichnen die Dynamik der tatsächlich stattfindenden jährlichen Wanderungsprozesse. Die Summe aller Wanderungsbewegungen im Sinne aller Zu- und Fortzüge i. J. 1969 liegt somit bei 1,3 Millionen. Diese haben gesellschaftliche Wirkungen wie entsprechende Zahlen von An- und Abmeldungen bei den Meldebehörden, das Ein- und Ausziehen aus Unterkünften, das Aufsuchen von Geschäften, Arztpraxen etc..
Betrachtet man die gesamten Wanderungsprozesse in der Zeit von 1953 bis 1973 vor diesem Hintergrund, so erfolgten in den 21 Jahren dieser Periode rd. 9,6 Mio. Zuzüge und rd. 5,8 Mio. Fortzüge, insgesamt also 15,4 Mio. Wanderungsbewegungen. Gemessen allein an der Anzahl der 9,6 Mio. Zuzüge machten die zugewanderten 100.000 Schutzsuchenden einen Anteil von rd. 1% aus.