Deutschland - überrollt, überfremdet, überfordert?!?

Seite 6: Die EU-Binnenwanderung als stärkster Faktor der Migration

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Fokussiert man sich nicht auf das Ausnahmejahr 2015, sondern betrachtet die gesamte Periode 2001-2015, so relativiert sich vor dem Hintergrund der Gesamtzuwanderung von Ausländern die viel diskutierte Flüchtlingsproblematik, zumindest in zahlenmäßiger Hinsicht. Denn im Saldo dieser 15 Jahre erfolgte eine Gesamtzuwanderung aus der erweiterten EU, vorzugsweise aus der Region Ost- und Südosteuropa, von rd. 1,4 Mio. Personen. Denen steht eine (unsaldierte) Gesamtzuwanderung von Flüchtlingen unter Einschluss des absolut außergewöhnlichen Jahres 2015 von rd. 1,7 Mio. gegenüber.

Da aber der unterjährige Fortzug speziell von Flüchtlingen nicht separat in der Zuwanderungsstatistik ausgewiesen wird, sondern in den allgemeinen Fortzugszahlen enthalten ist, kann - selbst unter Berücksichtigung des Extremjahres 2015 - bei EU- und Flüchtlingszuwanderung für den Zeitraum 2001-2015 ein nahezu gleich hohes Zuwanderungssaldo unterstellt werden. Der Zuwanderungssaldo aus den Drittstaaten ohne Schutz lag in dieser Zeit auch oberhalb der Millionengrenze bei rd. 1,2 Mio.

Es zeichnet sich aber bei genauerem Hinschauen ab, dass die Zuwanderungsprozesse im Rahmen der EU-Binnenmigration sich zur zahlenmäßig bedeutendsten Wanderungsentwicklung in Deutschland entwickeln. Die EU-Erweiterung auf 28 Mitglieder mit Dienstleistungs-, Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit hat eine zunehmend gewichtigere Rolle bei der Zuwanderung nach Deutschland gespielt - und wird sie aller Voraussicht nach auch für einen längeren Zeitraum in der Zukunft spielen.

Auch wenn eine kommende Rezession zu einem Absinken von kurzer Dauer führen wird, bleibt der Arbeitskräftebedarf in Deutschland vorerst weiter hoch und damit auch die EU-Binnenmigration. Deren bereits hohe und weiter wachsende Bedeutung wird deutlich, wenn man Flüchtlings- bzw. Drittstaatszuwanderung und EU-Zuwanderung speziell ab dem Jahr der einsetzenden Arbeitnehmerfreizügigkeit im Jahr 2007 betrachtet. So zogen in dieser Phase des "entgrenzten" Arbeitsmarktes von 2007 - 2015 im Saldo gegenüber den rd. 0,67 Mio. Drittstaatszuwanderern ohne Schutzantrag und den rd. 1,44 Mio. Flüchtlingen bereits 1,55 Mio. EU-Binnenmigranten nach Deutschland.

Um die eigentliche Tendenz im Zuwanderungsgeschehen zu erkennen, muss die einzigartige Höhe der Flüchtlings- und auch Drittstaatszuwanderung im Ausnahmejahr 2015 an dieser Stelle einmal außer Betracht gelassen werden. Statt der Realwerte von 2015 werden für den Flüchtlings- bzw. Drittstaatszuzug die Durchschnittswerte der Salden aus den letzten 27 Jahren angesetzt (1989-2015). Da dadurch auch die sehr relevanten Flüchtlingszeiten 1989 ff und 2014/15 enthalten sind, ist eine zu geringe Durchschnittsbildung ausgeschlossen. Damit wird als Jahresdurchschnitt ein Saldo für Flüchtlingszuwanderung von rd. 141.000 bzw. von 60.000 für Drittstaatszuwanderung ohne Schutz angesetzt.

Diese, zwecks Tendenzaussage geringer anzusetzende Zuwanderung wird auch durch die aktuellen Daten gestützt. 2016 ist die Zuwanderung von Schutzsuchenden bereits wieder auf 224.000 gefallen (ohne die bereits in 2015 zugewanderten, aber erst 2016 registrierten Fälle). Von Januar bis September 2017 kamen im Übrigen nur 151.000 Asyl(Erst)Antragsteller; die Zahl von 200.000 wird wohl nicht mehr erreicht werden. Beide Daten bestätigen, dass für einen realistischen Vergleich der Zuwanderung von Flüchtlingen und EU-Binnenmigranten eher der langfristige Mittelwert angesetzt werden kann.

Die dominierende Rolle der EU-Binnenmigration erschließt sich dann auf einen Blick (Abb. 7: blau). Sie übertrifft mit deutlichem Abstand beide anderen Zuwanderungsformen. Die Diskussion, der zufolge Deutschland vor allem aufgrund der Flüchtlingszuwanderung ein Einwanderungsland ist und bleibt, geht damit nicht unerheblich an der aktuellen tatsächlichen Entwicklung vorbei.

Sicher rechnen kann man mit einer weiter verstärkten Zuwanderung aus der bisherigen EU. Das gilt erst recht bei Aufnahme möglicher sieben weiterer Beitrittskandidaten, die dann ebenfalls erleichterten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben werden. Hierzu zählen Montenegro, Serbien und (noch) die Türkei als Beitrittskandidaten mit laufenden Verhandlungen, Albanien und Mazedonien als Beitrittskandidaten ohne laufende Verhandlungen und die potenziellen Beitrittskandidaten Bosnien-Herzegowina sowie Kosovo.

Eine Frage der Zeit ist, wann im Zuge der geschlossenen Assoziierungsabkommen mit der Ukraine und Georgien auch Arbeitsmigration von dort eröffnet wird. Auch das ist am Ende lediglich eine Frage des Arbeitskräftebedarfs in Deutschland.

Abbildung 7

Die "Obergrenze" und ihre Faktenbasis

Die isolierte Flüchtlingszuwanderung wird - zumindest aktuell - nicht der faktenbasierte Indikator für die von der CSU geforderte Obergrenze sein. In der Kategorie der Schutzsuchenden mit Asyl-Erstantrag liegt das Mittel der jährlichen Zuwanderung der 25 Jahre im Zeitraum 1990 bis 2014 bei 110.000 Personen. Schließt man das außergewöhnliche Extremjahr 2015 mit ein, liegt der Jahresdurchschnitt bei 142.000. Und im langjährigen Mittel über 63 Jahre von 1953-2015 sind es nur 74.000. Eine vor diesem Hintergrund auf 200.000 limitierte Obergrenze allein für Schutzsuchende macht keinen Sinn, da sie in den allermeisten Jahren sowieso nicht erreicht würde, und wäre den politischen Streit erst recht nicht wert.

Bemerkenswert ist stattdessen der Umstand, dass die von der CSU seit langem geforderte Obergrenze von 200.000 mit dem Mittelwert der Zuwanderungssalden aus allen drei Kategorien von 1990 bis 2014 identisch ist. Wenn die CSU-Forderung nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, so bilden die hier aufgeführten Zuwanderungsdaten den Hintergrund für diese Forderung. Diese Zeitachse erfasst mit 1990 das Jahr der Wiedervereinigung und reicht mit 2014 bis zum letzten Jahr vor der extremen Zuwanderungsspitze in 2015. Erfasst sind alle drei Kategorien EU-Binnenmigration sowie Zuwanderung aus Drittstaaten mit und ohne Schutzantrag.

Abbildung 8

An dieser so definierten Obergrenze als Richtwert ändert sich auch nichts Wesentliches dadurch, dass statt des Zeitraums 1990-2014 andere Bezugsräume gewählt werden. Nimmt man die Gesamtzeit von 1953-2015, so liegt der jährliche Durchschnittssaldo bei rd. 176.000. Selbst in der aktuelleren und kürzeren Periode 2001-2015 liegt der Durchschnittssaldo bei 289.000, und ohne das Extremjahr 2015 nur bei 191.000.

Mit Ausnahme von einzelnen Extremjahren ist nicht zu erwarten, dass über einen bestimmten Zeitraum von z. B. fünf oder zehn Jahren die Gesamtzuwanderung nach Deutschland im Mittel über dem Wert von 200.000 bis 250.000 liegen wird. Dies erst recht nicht, wenn kriegerische Großkonflikte in Nachbarregionen ausbleiben und - wie von Bundesregierung und EU-Kommission geplant und schon teils umgesetzt - die Zuwanderung von Migranten etwa aus Afrika kontingentiert wird.

Die von der CSU geforderte Obergrenze bedeutet also nicht, dass der vielzitierte "Zweihunderttausendundeinste" Flüchtling dann abgewiesen werden muss. Denn die Obergrenze bildet nur den Saldo der Zuwanderung ab. Wenn 500.000 Personen (200.001 Flüchtlinge, 199.999 EU-Binnenmigranten, 100.000 Arbeitsmigranten aus Drittstaaten) kommen und insgesamt 300.000 wieder fortziehen, ist der Einhaltung der Obergrenze genüge getan.

Und diese ist - auch als Saldo - nicht im ganz strikten Sinne zu verstehen. Wie zu hören ist, soll die Obergrenze in gewisser Weise "atmen", d. h. dann sind es im einen Jahr im Saldo 250.000 und im anderen 150.000. Maßnahmen zur Sicherstellung der Obergrenze können nicht die EU-Binnenmigration tangieren, da diese nicht (direkt) reglementierbar, sondern frei ist. Vielleicht lässt man diese auch aus der einzuhaltenden Obergrenze ganz heraus und erhält dadurch noch mehr Spielraum.

Gesteuert werden soll die Zuwanderung - wie gegenwärtig geplant - aber zum einen über extraterritoriale Antragsstellen (etwa in Afrika), wo vor Ort Kontingente bei den Zuwanderungen mit und ohne Schutz zusammengestellt werden sowie im Rahmen der EU-internen Umverteilung. Zum anderen soll eine Kontingentierung der Zuwanderung durch grenznahe Registrierungs- und Abschiebezentren (sog. Flughafensystem) erreicht werden, so dass Zuwanderungen, die nicht aus Schutzgründen erfolgen, direkt verhindert werden, es sei denn, dass im Einzelfall Bedarf nach entsprechender Arbeitskraft vorliegt. Flankiert wird der gesamte Steuerungsprozess bereits heute durch Stärkung der Küstenwache z. B. in Libyen.

Die nachfolgende Abbildung fasst die bisher beschriebene Entwicklung der Zuwanderung von 1953 bis 2015 noch einmal zusammen und veranschaulicht insbesondere die drei großen Einwanderungswellen, ihre Auslöser sowie den Anteil der Migration aus EU sowie Drittstaaten mit und ohne Schutz.

Abbildung 9