Diderots Traumtagebuch
Seite 4: Auntie und die Anhalter
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"Weit draußen in den unerforschten Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers des westlichen Spiralarms der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne. Um sie kreist in einer Entfernung von ungefähr achtundneunzig Millionen Meilen ein absolut unbedeutender, kleiner blaugrüner Planet, dessen vom Affen stammende Bioformen so erstaunlich primitiv sind, dass sie Digitaluhren noch immer für eine unwahrscheinlich tolle Erfindung halten."
So beginnt das Kultbuch "Per Anhalter durch die Galaxis" des britischen Autors Douglas Adams, erstes in einer Serie von fünf. Adams, der im Mai 2001 im Alter von nur 49 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb, hatte schon lange vor Wikipedia die Vision einer offenen, von Nutzern verfassten Enzyklopädie.
In seiner Buchserie ist "Per Anhalter durch die Galaxis" auch der Titel einer Mischung aus Lexikon und Lifestyle-Magazin, das über die besten Drinks im Universum ebenso informiert wie über beinahe alle Planeten und ihre Bewohner (der Eintrag über die Erde begnügt sich mit den zwei Worten "größtenteils harmlos"). Doch der größte Vorteil des "Anhalters" ist der auf dem E-Book in großer, freundlicher Schrift aufgedruckte Text "Keine Panik". Dieser Schriftzug ziert auch die Startseite von H2G2. H2G2 steht für "Hitchhiker's Guide to the Galaxy" (zweimal H, zweimal G), der englische Originaltitel der Serie. Realisiert wurde die Website von Adams' Firma "The Digital Village"; aus Kostengründen wurde sie noch vor Adams' Tod im Februar 2001 von der BBC übernommen, die sich damit einen Image-Zugewinn erhoffte. "Auntie" BBC hatte in den 1970ern schon die Radioserie, auf der Adams' Bücher beruhen, finanziert.
Wie bei Everything2 muss man sich auch bei H2G2 zunächst registrieren, wenn man mitschreiben möchte. Dabei muss man die BBC House Rules akzeptieren, in denen unter anderem festgelegt ist, dass Englisch die einzige erlaubte Sprache ist. Artikel werden entweder als einfacher Text verfasst (wobei es einige wenige Formatierungs-Tricks für Links und dergleichen gibt) oder in der auf XML basierenden GuideML-Syntax.
Unterschieden wird bei H2G2 zwischen der offenen und der redigierten "Guide". Um in der offenen Version zu bleiben, muss ein Artikel nur der Hausordnung genügen, die redigierte Version ist dagegen strengen redaktionellen Kontrollen unterworfen. Artikel, die diese Qualitätskontrolle durchlaufen haben, werden auf der Hauptseite von H2G2 hervorgehoben und im Kategorienverzeichnis aufgelistet. Dazu müssen sie zunächst von anderen Autoren in einem Peer-Review-Prozess kommentiert und beurteilt werden, anschließend kümmern sich sogenannte "Sub-Editors", unbezahlte Freiwillige, darum, den Artikel nachzubearbeiten, die besten Einträge werden schließlich von "Scouts" an das H2G2-Team weiterempfohlen, das ggf. letzte Korrekturen vornimmt und den Artikel dann in die redigierte Version der "Guide" aufnimmt.
Jeder registrierte Leser kann Artikel für die Peer-Review-Phase vorschlagen, so dass es einen stetigen Fluss von Artikeln aus dem offenen Bereich in die redigierte Fassung gibt. Artikel, die alle Phasen durchlaufen haben, können jedoch von ihren Autoren nur noch schwer aktualisiert werden, was einer der Hauptkritikpunkte am derzeitigen System ist.
Ansonsten funktioniert H2G2 erstaunlich gut. Der offene Bereich erinnert ein wenig an Everything2; einzelne Artikel sind aber deutlich weniger intensiv verlinkt und häufig sogar völlig linkfrei. Die Qualitätskontrolle funktioniert dagegen wesentlich besser als bei E2, die in drei Hauptkategorien ("Life", "The Universe", "Everything", nach dem Titel des dritten Teils der Buchreihe) und zahlreichen Unterkategorien angeordneten redigierten Artikel sind meist von mittlerer Länge und von einheitlich hoher Qualität. Der Stil ist nicht unbedingt enzyklopädisch, sondern wie beim Romanvorbild häufig eher locker und humorvoll; zu Beginn des Projekts wollte jeder gerne wie Douglas Adams schreiben, doch mittlerweile hat sich ein etwas seriöserer Stil etabliert. Über 5.000 Einträge finden sich bereits in der redigierten Guide, was angesichts der starken Qualitätskontrolle ein recht stattliches Ergebnis ist.
Wie sieht es mit einzelnen Artikeln aus? Der redigierte H2G2-Artikel über Homöopathie ist eindeutig "A Sceptical View" betitelt und hinterfragt die Praxis in etwa 24000 Zeichen ausführlich. Der entsprechende Wikipedia-Text ist etwa genauso lang, vertritt aber den gewohnten neutralen Standpunkt, was in diesem Fall vielleicht nicht unbedingt vorzuziehen ist.
Viele Artikel in H2G2 sind aber tatsächlich eher Reiseführer-Material; in der Kategorie London findet man z.B. Reisen in London, Billige Haarschnitte in London, Cockney Rhyming Slang, Der ultimative Führer für den Londoner Untergrund usw. Dafür gibt es weit weniger typische Enzyklopädie-Artikel, so z.B. nur uneditierte Texte über Judaismus und George Bush, letzterer lautet zur Zeit so: "I'd hate to be called George Bush, it's like being called George Muff, George Fuzz or George Slice of Hairy Pie." Nonsens dieser Art würde natürlich nie den Weg in die redigierte Fassung finden.
H2G2 ist eine interessante Sammlung von Lifestyle-Artikeln und Texten über ungewöhnliche Themen, aber noch keine allgemeine Enzyklopädie. Außerdem ist es auch und vor allem eine Community: Jedem Artikel ist ein Diskussionsforum angefügt, daneben gibt es noch offene Foren zu diversen Themen und sogar die kleine Community-Zeitschrift The Post. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich H2G2 von Wikipedia, wo Diskussionen meist spröde und sachbezogen sind.
Als Projekt unter der Schirmherrschaft der BBC ist H2G2 auch deren redaktioneller Kontrolle unterworfen. So wurden zum Beispiel während der britischen Parlamentswahl 2001 "heavy politics" in Kommentaren strikt untersagt, bestimmte Benutzernamen wie "OBL" (Osama Bin Laden) während des Afghanistan-Kriegs verboten, Diskussionen zu "problematischen" Themen wie dem Kinderporno-Skandal um Peter Townshend zensiert und Kommentare und Artikel über den Irak-Krieg komplett gelöscht (siehe H2G2 Announcements, wo sich die entsprechende Ankündigung derzeit noch findet). Erst am 24. April wurde die Regel aufgehoben, und bis heute findet sich kein Artikel über den Krieg in der redigierten "Guide". Offenbar möchte die BBC nicht mit politisch zu brisanten Texten assoziiert sein, was das Projekt für seriöse enzyklopädische Arbeit wenig brauchbar macht.
Nicht zuletzt solche Zensurmaßnahmen sind es, die viele ehemalige Fans zu Wikipedia treiben. So z.B. Martin Harper, der einen eigenen Guide for H2G2 Researchers geschrieben hat. Wer es über Monate nicht geschafft hat, seinen H2G2-Artikel zu aktualisieren, dürfte von der Schnelligkeit des Wiki-Prinzips beeindruckt sein.
Störend fällt bei H2G2 eine generelle Trägheit der Site auf. Das liegt zum einen am unnötig komplexen Layout, zum anderen an der sehr langsamen Volltextsuche. Mit Performance-Problemen haben fast alle Projekte dieser Art zu tun: Da praktisch alle Seiten dynamisch generiert werden und sich häufig ändern, sind die Software- und Hardware-Anforderungen nicht zu unterschätzen.
Fazit
Wikipedia ist und bleibt das interessanteste Projekt in der Kategorie "kollaboratives Schreiben". Weder H2G2 noch Everything2 sind "Open Content" - Einträge gehören den Autoren und dürfen außerhalb dieser Systeme ohne explizite Erlaubnis nicht weiter verwendet werden. Wenn BBC H2G2 einstellt oder damit anfängt, rigoros Einträge zu löschen, gibt es für die "Researcher" keine Ausweichplattform, kein Datenpaket zum Download, das es ihnen erlauben würde, ihren eigenen Ableger ins Leben zu rufen. Bei Everything2 ist zwar die Software frei verfügbar, aber für die Inhalte gilt das gleiche. Jeder kann dagegen den gesamten Text aller Revisionen der Wikipedia-Artikel herunterladen und für eigene Zwecke weiterverwenden.
Abgesehen davon überzeugt das Prinzip des gemeinsamen Bearbeitens - in der Tendenz sind Wikipedia-Artikel ausgeglichener und stilistisch einheitlicher als solche in H2G2 (nur redaktionelle Nachbearbeitung) und Everything2 (keinerlei Bearbeitung außer durch den Autor selbst). Redigierte H2G2-Texte haben dafür den Stempel der Autorität - ob dieser Stempel verdient ist, sei dahingestellt, denn die "Sub-Editoren", die einen Text nachbearbeiten, werden mehr oder weniger zufällig zugeordnet und verstehen oft nichts von dem jeweiligen Thema, es sind eher Korrekturleser als Faktenprüfer.
Langfristig kann man hoffen, dass hochwertigeres Material aus E2 und H2G2 von den jeweiligen Autoren nach Wikipedia portiert wird, was bereits zu einem gewissen Grad geschieht: Nutzer beider Communities wandern zur freien Enzyklopädie ab. Spin-Off-Projekte wie Disinfopedia dagegen haben von Anfang an eine Open-Content-Lizenz gewählt und ermöglichen so den freien Datenaustausch.
Insgesamt ist es beeindruckend, welche Menge an teilweise beeindruckend nützlichen Inhalten von Freiwilligen kostenlos in die verschiedenen Wissensdatenbanken eingespeist wird. "Das Web ist ein Werkzeug, das es denjenigen, die ein Leben haben, erlaubt, von der Arbeit derjenigen, die keines haben, zu profitieren", schreibt Geoffrey Nunberg zynisch in der New York Times. Tatsächlich sind Online-Communities, ob Rollenspiel oder Wissensdatenbank, oftmals sehr zeitintensive Hobbies. Ob es aber im Sinne eines erfüllten Lebens ergiebiger ist, Wissen in eine freie Datenbank einzutragen oder sich einen neuen Hollywood-Film im Kino anzuschauen, sei dahingestellt. Aus Nunbergs Zitat spricht die klassische Verächtlichkeit gegenüber den "Geeks", die sich auf merkwürdigen Websites tummeln, statt "normalen" Hobbies nachzugehen. Wie beim Phänomen der Weblogs ist es aber vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis auch Oma Meier ihre Strickmuster in einer offenen Wissensdatenbank einträgt.
Erik Möller ist einer der Autoren der englischen Wikipedia und Mitentwickler der Wikipedia-Software "Phase III". Auf Everything2 hat er gerade einmal Stufe 3 ("Messdiener") erreicht, immerhin aber den essenziellen Node "Alternatives to Everything2" verfasst.