Die AfD und Tabus in der Debatte: Warum die politische Mitte versagt

Bild: Leonhard Lenz / CC0 1.0 Deed

Der undifferenzierte Kampf gegen Rechts führt in eine demokratische Sackgasse. Über Fehler im Umgang mit den Extremisten. Einwurf zur Debatte.

Potsdam hat die Demokraten geweckt. Heißt es. Nicht nur die deutschen Medien haben in den letzten Wochen einen Massenprotest rege begleitet, der sich – oft unterschiedslos und gleichermaßen – gegen neonazistische Bestrebungen sowie "gegen rechts" richtete.

Auch Mitglieder der Regierungsparteien begleiteten den Protest und inszenierten sich dabei – ebenso unterschiedslos – als Vertreter von Exekutive und Verkörperung der Demokratie selbst. Und damit als Spiegelbild jener "antidemokratischen" Partei, der immer noch knapp jeder fünfte deutsche Wähler seine Stimme geben würde.

Derweil versucht die rechtskonservative Öffentlichkeit, die mutmaßliche Diskussion über die verfassungswidrige Ausweisung "nicht assimilierter" Staatsbürger als privates Treffen zu markieren oder den Skandal, unter Verweis auf die Mitwirkung des – durchaus stark politisierten – Verfassungsschutzes, in Abrede zu stellen. Und scheitert damit.

Der "Nazi" als sozialer Kitt?

Das ändert jedoch nichts daran, dass das neue Bekenntnis zur Demokratie letztlich nur ein symbolischer Akt bleibt. Einer, der die unvermeidliche Zerreißprobe nur verlängern wird, vor die die realen Verhältnisse Deutschland und seine Regierung stellen.

Für die Ampel war Potsdam ein Geschenk auf Zeit. Denn der "Nazi" wird als sozialer Kitt nicht mehr lange taugen.

"Inhalte überwinden" ist keine Satire mehr

Wie Telepolis berichtete, hatte der Protestforscher Tareq Sydiq kürzlich im Magazin Focus erklärt, dass der "Wandel des Narrativs" als der größte Erfolg der "Demos gegen rechts" zu verbuchen sei.

Ein Erfolg, der für Sydiq darin besteht, dass "nicht ständig über Inhalte der AfD gesprochen" wird. Ein Erfolg im Kampf um die symbolische – und auch: strategische – Kommunikation, könnte man auch sagen, der den "einfachen Antworten" der Rechtspopulisten endlich erfolgreich seine eigenen einfachen Antworten entgegensetzt.

Wo es nicht mehr um Inhalte geht, bestimmen Identität und "groupthink" den Diskurs. Martin Sonneborns Die Partei hatte bereits 2013 mit dem Slogan "Inhalte überwinden" für die Bundestagswahl geworben.

Inzwischen hat die Realität die Satire längst eingeholt. Doppelmoral und Begriffsverwirrung haben in unserer Zeit der multiplen Krisen Hochkonjunktur.

Widersprüchlicher Patriotismus: Standort-Patrioten

Oder wie finden Sie noch aus dem folgenden Labyrinth der Begrifflichkeiten?

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der nach eigener Aussage (und von Correctiv) bestätigt, mit Deutschland "nie etwas anzufangen" wusste und die "rechte" Vereinnahmung des Begriffs Patriotismus zeitlebens verurteilte, fordert nun bekanntlich einen "Standort-Patriotismus".

Das, während er zusammen mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit für Deutschland beklagt – wenn auch nur in Bezug auf die Unternehmensbesteuerung.

Darf man sich dann noch wundern, wenn jene "Standort-Patrioten" die Regierung für dieses mangelnd-wirtschaftliche Ergebnis verantwortlich machen? Nicht "Nazis" wohlgemerkt, sondern neben den großen Wirtschaftsverbänden auch weite Teile des deutschen Mittelstands?

Und deutet das nicht darauf hin, dass wir nach den erschütternden Corona-Jahren nun abermals eine Entsolidarisierung der Gesellschaft unter dem Banner der Solidarität beobachten? Und haben nicht abermals die sogenannten Leitmedien wesentlich dazu beigetragen, diese Entsolidarisierung salonfähig zu machen?

Machtpolitik im Tugendmantel

So hieß es während der Corona-Krise bekanntlich in der nun plagiatsgeplagten Süddeutschen Zeitung "Mehr Diktatur wagen", während das SPD- und damit regierungsnahe Redaktionsnetzwerk Deutschland unmittelbar nach Ausbruch des Ukraine-Krieges mit "Mehr Macchiavelli wagen" nachlegte (später im Übrigen auch konservative Stimmen bei Welt und Tichys Einblick).

Die Definition des Macchiavellismus in den Worten der Bundeszentrale für politische Bildung erinnert jedenfalls in beunruhigender Weise daran, was Olaf Scholz über die "roten Linien" gesagt hat.

Eine "rücksichtslose Machtpolitik, die die Erhaltung des Staates und die Staatsraison über alles stellt, sich von keinerlei moralischen Bedenken, üblicherweise eingehaltenen Normen und (ggf.) rechtlichen Grenzen einschränken lässt.

Bundeszentrale für politische Bildung, Macchivellismus

Weiter noch führt das "Staatslexikon" der Görres-Gesellschaft (aus):

Machiavellistische Politik ist ferner Machtpolitik. Es geht um die Kunst der Machteroberung, -behauptung und -ausdehnung. Darüber hinaus gehört zum M. eine Politik des Scheins. M. ist politische Illusionskunst, der machiavellistische Politiker ein Meister der Heuchelei, List und Verstellung.

Die traditionellen Tugenden eines (christlichen) Herrschers (Gerechtigkeit, Milde, usw.) braucht er nicht wirklich zu besitzen, aber er muss den Anschein erwecken können, tugendhaft zu sein. Er versteht also, was anderen wertvoll und heilig ist für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren.

Staatslexikon: Macchiavellismus

Wie Telepolis an anderer Stelle dargelegt hat, diente der italienische Staatsphilosoph Niccolò Macchiavelli auch dem Ideenvater des technokratisch-sozialistischen Weltstaats, H.G. Wells, als Inspiration.

Das soll man also wagen? Mehr "einfache Antworten" auf die Frage nach gut und böse? Mehr Gedanken in der Logik von Freund und Feind, wie sie von Carl Schmitt zum Prinzip der Politik erhoben wurde?

Nein, auf Schmitt wird man sich wohl kaum berufen können, denn der wurde schließlich von den "echten" Nazis zelebriert. Und doch lassen sich auch die "Guten" von seiner Freund-Feind-Logik einnehmen.

Rückhalt von den Reichen und Gebildeten

Denn jener pseudo-inklusive Kampf "gegen rechts" macht speziell denen ein politisches Angebot, die mit Bauern, Handwerkern oder Transporteuren und deren Lebensrealität fremdeln.

Die eine äußere Autorität in Sicherheit wiegen kann, dass sie zu den "Guten" gehören. Für die Direktiven von "Vater Staat" ist ein autoritärer Charakter, den die Kritische Theorie fälschlicherweise ausschließlich bei den Rechtsradikalen verortet hat, besonders empfänglich.

Diese psychologische Dimension droht die Absage an den Dialog komplett zu machen. Telepolis hat darüber an anderer Stelle bereits ausführlicher berichtet.

Aber wer ist das eigentlich, der angesichts jenes "erfolgreichen Narrativs" noch unerschütterliches Vertrauen in die Regierung fasst? Reiche und formal Gebildetere, bilanziert eine Studie der für ihren politischen Einfluss umstrittenen Bertelsmann-Stiftung.

Auf der Strecke bleiben die Mittelschicht und die sozial Schwächeren. Demonstriert da also wirklich noch die Mitte der Gesellschaft? Und steht sie wirklich politisch auf der Seite der sozialen Demokraten?

Mehr scheint es, als ob hier verabsolutierte Ideale verteidigt werden, die in der Realität schon lange erodieren. Selbst die progressivsten unter den Progressiven fragen sich – etwa in puncto "woke" Kultur und sexuelle Selbstbestimmung von Schutzbefohlenen – ob das noch die Ideale sind, für die sie unbedingt einstehen wollen.

Wenn man also wirklich "gegen rechts" ist: Wie lange will man dieser Gruppe noch die Definitionshoheit über soziale Missstände überlassen?