Die Doppelzüngigkeit der Gesundheitspolitik

Seite 2: Allgegenwärtige Manipulationsversuche

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Sobald man einen Supermarkt betritt, werden Versuche unternommen, das Kaufverhalten zu manipulieren: Der Bäcker mit frischem Brot- und Kaffeeduft am Eingang? Soll eine angenehme Atmosphäre erzeugen und Appetit machen. Obst und Gemüse am Anfang? Wenn Menschen denken, schon etwas Gesundes gekauft zu haben, dann greifen sie später auch eher zu ungesunden Produkten.

Im Wartebereich vor den Kassen finden sich heutzutage zwar seltener Alkohol- und Tabakprodukte (wie pervers für Süchtige!), dafür aber so gut wie immer Süßigkeiten. Haben Sie sich als Eltern schon einmal gefragt, warum die bunt eingepackten Schokoladeneier vorzugsweise auf der Höhe von Kinderhänden zu finden sind?

Auch ein beliebter wie perfider Trick: Das teure Produkt für zehn Euro kauft zwar kaum einer - liegt es auch im Regal, greifen die Kunden aber eher zu dem aus dem mittleren Preissegment für drei Euro statt zu der Discount-Alternative für einen.

Gegen Kindermarketing

Das ist natürlich alles etwas vereinfacht ausgedrückt; aber um einmal eine Zahl zu haben: Eine Initiative gegen Kindermarketing in den Niederlanden, an der sich zahlreiche Organisationen aus Wissenschaft, Gesundheitssektor und Verbraucherschutz beteiligen, schätzt den Anteil ungesunder Nahrungsmittel bei Werbung für Kinder auf 94%. Die Supermarktkette Plus lenkte jüngst ein, verwendet dabei aber auch eine andere Definition von "ungesundes Produkt" als die Initiative.

Um zum Schluss zu kommen: Warum nenne ich die Gesundheitspolitik also "doppelzüngig"? Weil unterstellt wird, die Konsumentinnen und Konsumenten wüssten alles und könnten alles, während auf der anderen Seite große und mächtige Interessengruppen sehr viel dafür tun, Wissen zu verschleiern und Verhalten zu manipulieren. Karl Kollmann schrieb hier kürzlich, dass Verbraucherschutzverbände vergessen hätten, neben einem "Recht auf Konsum" auch an einen "Schutz vor Manipulation" durch Werbung und Marketing zu denken (Das Recht auf Konsum).

Ungleiche Verantwortung

Die Verantwortung für Gesundheitsschäden wird aber mehr und mehr dem Individuum aufgebürdet. Das passt natürlich hervorragend in das neoliberale Schema. Der Staat profitiert dabei erst durch die Einnahme von Steuergeldern und tut hinterher so, als könnte er nichts dafür, wenn er Sozial- und Gesundheitsleistungen einschränkt.

Das schreibe ich auch als jemand, der im Alter von 14 bis 19 Jahren viel geraucht hat, als es noch an jeder Straßenecke Zigarettenautomaten gab, in die man nur ein 5-Mark-Stück einzuwerfen brauchte. Wie es uns mit 30, 40, 50... Jahren einmal gehen würde, daran haben wir als Jugendliche natürlich nicht einmal im Traum gedacht.

Soll darum alles verboten werden, was ungesund ist? Eher nicht. Sollen Werbung und Marketingtricks dafür verboten werden? Vielleicht. Soll die Verantwortung nur einseitig bei den Konsumentinnen und Konsumenten gesucht werden? Auf gar keinen Fall. Mindestens müssen die Unternehmen, die davon profitieren, mit zur Kasse gebeten werden, einschließlich der Hersteller, Werbetreibenden und Verkäufer.

Oder seien wir doch ehrlich: Eine gesunde Gesellschaft, so schön sie auch wäre, würde mit unserem Kapitalismus gar nicht funktionieren. Wahrscheinlich würden 90% der Lebensmittelindustrie bankrottgehen, wenn alle Menschen sich gesund ernährten. Dann ist es aber auch nicht fair, von den Konsumierenden nur gesundes Verhalten zu erwarten.

Vor das Strafgericht!

In den hier angedeuteten Beispielen geht es vor allem um öffentliches und privates Recht. In den Bereich des Strafrechts hat die Schriftstellerin Juli Zeh dies in ihrem internationalen Bestseller "Corpus Delicti" übertragen. Wer in dieser Welt nicht genügend trainiert oder seine Blut- oder Urinproben nicht zur Kontrolle schickt, der wird vors Strafgericht gestellt. Rauchen? Ein Kapitalverbrechen!

Wir leben freilich (noch) nicht in dieser Dystopie. Viele von uns sammeln aber heute schon Daten, die sich in Zukunft einmal hervorragend zum Feststellen "sozialwidrigen Verhaltens" würden verwenden lassen: Vielleicht kaufen Sie Cola, Chips oder fettes Fleisch manchmal mit einer personengebundenen Bonuskarte.

Denken Sie etwa immer noch, das Unternehmen wolle Ihnen ein Geschenk machen? Und der Staat würde ernsthaft etwas für Ihren Datenschutz unternehmen?