Die Entzauberung neoliberaler Propaganda und Desinformation

Eine Replik auf Rainer Zitelmann

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Streitschrift und Replik auf Rainer Zitelmanns Äußerungen in: Warum Intellektuelle den Kapitalismus nicht mögen sowie dessen Stellungnahme in "Ich bin es gewohnt, Außenseiter zu sein!"

I Einführung:

Vier Vorabbemerkungen:

1.1 Diese Gegendarstellung wendet sich nicht nur mit dem Anspruch der Aufklärung und Richtigstellung an die TP-Leserschaft, sondern insbesondere auch an Herrn Zitelmann persönlich mit der Bitte, doch mal zu dieser Kritik Stellung zu nehmen! Sofern Sie, Herr Zitelmann, tatsächlich einen um Wahrheitsfindung und Erkenntnisgewinn bemühten Diskurs suchen, sollte eine Erwiderung doch eigentlich kein Problem darstellen.

1.2 Wenn im Folgenden von Neoliberalismus die Rede ist, dann ist damit niemals die Variante des Ordoliberalismus (Rüstow, Röpke & Eucken als "Vertreter" der Freiburger Schule, in Deutschland unter dem Label "soziale Marktwirtschaft" bekannt) gemeint, sondern die gemäß Mises & Hayek (Österreichische Schule), sowie die nach Milton Friedman (Chicagoer Schule).

1.3 Hinsichtlich Rainer Zitelmans Darstellung der Neigung gewisser Intellektueller zum Maoismus vermag der Autor dieser Zeilen nichts zu sagen, weil es dafür fundamental an Wissen mangelt. Somit ist die Grundlage für eine qualifizierte Beurteilung nicht gegeben. Da eine qualifizierte dazu nicht möglich ist, verkneift sich der Autor im Sinne von Dieter Nuhrs Einsicht "Wenn man kein Ahnung hat, einfach mal Fresse halten" jegliche. In diesem Kontext behält Herr Zitelmann selbstverständlich recht, dass "ad hominem" nicht Argumente in der Sache ersetzen kann, wie jedoch augenscheinlich nicht wenige Kommentatoren zu meinen glauben. Tatsächlich geht es um die Inhalte von Zitelmanns Äußerungen. Diese bieten genug Anlass zu fundierter Kritik. Sollte sich Kritik allerdings in persönlichen Angriffen erschöpfen, dann ist das eine Bankrotterklärung, die implizit davon zeugt, dass es zu einem Disput in der Sache nicht reicht.

1.4 Es ist mit dem Verfassen dieser Gegendarstellung zu einer zeitlichen Überschneidung mit dem am 21. März 2018 erschienen TP-Artikel "Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht" gekommen. Darin konkretisiert Herr Zitelmann gewisse Sachverhalte, aus deren Unklarheit sich zuvor Fragen ergeben haben. Dies betrifft die Punkte 2.1, 2.5, 2.8.2 und 2.8.3.

Dazu wird eine weitere Gegendarstellung erscheinen, welche in media res geht und im Detail das krude neoliberale Gegengebäude darstellt und widerlegt. Dort werden insbesondere die Themen Kapitalismus und Neoliberalismus zu hinreichend klärender Darstellung geführt.

II In der Sache

2.1 Zitelmann: Der Kapitalismus ist eine spontane Ordnung, kein Gedankenkonstrukt.

Diese Aussage schreibt dem Kapitalismus drei Eigenschaften zu. Eine davon ist falsch: Kapitalismus ist keine "Ordnung" (davon fabuliert auch Hayek), sondern ein systemisch instabiler Prozess. Der Autor vertritt als Maschinenbau-Ing. die bislang unwiderlegte These, dass Kapitalismus u.a. ein selbstverstärkender Rückkopplungsprozess ist (von solchen Phänomenen hat der gemeine Neoliberale jedoch i.d.R. keinen blassen Schimmer). Diese sind stets systemisch instabil. Außerdem besitzt ein immanent wachstumsbedürftiger Prozess Ähnlichkeit mit zwingend kollabierenden Phänomenen wie Krebs oder einem Schneeballsystem. Beides ist das Gegenteil von "Ordnung". Nichts desto trotz: Immerhin zwei von drei Zuschreibungen sind korrekt. Darin erschöpft sich die einzig wenigstens halbwegs korrekte Aussage zum Kapitalismus. Dessen restliche Behauptungen zum Kapitalismus besitzen, wie diese Replik den Nachweis führen wird, die Substanz einer geplatzten Seifenblase.

2.2 Zitelmann: Warum Intellektuelle den Kapitalismus nicht mögen

Diese These beinhaltet bemerkenswerte Implikationen:

2.2.1 Sind dann diejenigen, die Kapitalismus mögen, was ja insbesondere dessen Hauptprofiteure anbetrifft, also die Extremreichen, nicht intellektuell? Also eher dumm? Wie bringen Sie, Herr Zitelmann, dies mit der gemeinhin bemühten neoliberalen Propaganda in Einklang, die obszön Reichen wären deswegen so reich, weil "sie es verdient hätten", da selbige so erfolgreich, also schlau, auf "dem Markt" agieren würden?

2.2.2 Wie sieht es mit den ganzen durch Extremreiche gesponserten Steigbügelhalter, Zuträger und Lobbyhuren in neoliberalen think tanks aus, wo perfide Methoden ersonnen werden, um Politik und Gesellschaft zu manipulieren? Also den Handlangern der Geldmächtigen, deren Beeinflussungstechniken bislang so erfolgreich waren, dass gesellschaftliche dringend nötige Debatten über schwerwiegende Probleme entweder vernebelt oder gar nicht erst geführt werden? Walter Ötsch: Die Anfänge des Neoliberalismus

2.2.3 Waren Mises, Hayek und Friedman in Zitelmanns Augen keine Intellektuellen?

2.3 Zitelmann: Von Ideologien würde ich im Zusammenhang mit dem Liberalismus nicht sprechen. Aber es gibt einen "Unterbau", der nur von vielen linken Intellektuellen nicht zur Kenntnis genommen wird. Wer hat von Hayek, von Mises oder Friedman wirklich gelesen? Ich finde, in deren Werken steckt viel mehr Substanz ...

2.3.1 Hayek, von Mises oder Friedman waren nicht Liberale, sondern Neoliberale. Das ist ein gewaltiger Unterschied: Im Liberalismus wollten anfänglich liberale Bürgerbewegungen gegen die absolutistische Einflussnahme eines feudalen Systems (17. Jahrhundert) mehr persönliche Freiheit und Selbstbestimmung erlangen und später gegen den Umstand vorgehen, dass der Staat zu sehr in die persönliche Freiheitsrechte normaler Bürger eingreift.

Neoliberalismus knüpft zwar begrifflich daran an, hat aber de facto wenig bis nichts damit zu tun: Nach außen hin, als Erzählung für die Gesellschaft, verkünden neoliberale Propagandisten zwar, es würde "Freiheit" angestrebt und der Staat sei per se schlecht und müsse "zurückgedrängt" werden (> Nachtwächterstaat) - in Wahrheit aber ist gerade die völlig durchgeknallte Ideologie Neoliberalismus wesensmäßig zutiefst auf den Staat angewiesen, der durch eine politische Handlangerkaste willfährig die neoliberalen, gesellschaftszerstörenden Forderungen (Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung, Lohndumping, Sozialstaatabbau (s.u.), Steuersenkungen (für Reiche und Konzerne), Austeritätspolitik und Schuldenbremse) in Gesetze presst und gegen die Gesellschaft exekutiert.

Wir schlagen Dinge vor, die von den Leuten als reiner Wahnsinn angesehen werden. Und im Handumdrehen werden sie Gegenstand der Regierungspolitik.

Madsen Pirie, Präsident des Londoner "Adam Smith Institute", über die Schleifung des britischen Wohlfahrtsstates

Die angebliche angestrebte Freiheit gilt in allererster Linie den Konzernen, die schalten und walten können sollen, wie es denen beliebt - ohne irgendwelche "hinderlichen" Arbeitsschutz-, Umweltschutz- oder Verbraucherschutzrechte, also all die unter Blut, Schweiß und Tränen erkämpften Schutzrechte, die Teil dessen sind, was unter "aufgeklärter und zivilisierter Gesellschaft" subsumiert wird. Letztlich läuft Neoliberalismus auf einen menschenverachtenden Sozialdarwinismus hinaus, wo sich der Starke unbehelligt gegenüber dem Schwachen durchsetzt, da Letzterer seiner Schutzrechte beraubt wurde:

Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.

Jean-Jacques Rousseau

Um es in aller Härte zu formulieren: wer im Zusammenhang von Hayek, von Mises oder Friedman von "Liberalismus" anstatt "Neoliberalismus" fabuliert, betreibt Lesertäuschung durch falsches wording bzw. Label:

Wer Dinge falsch benennt, trägt zum Unheil in der Welt bei.

Albert Camus

Der Liberalisierungsweg war ein Irrweg und das Wort Liberalisierung ist ja auch schon sehr, sehr schief: Also wenn ich Märkte, die geordnet gehören, entfessle und ein Chaos entfessle und eine Geldlawine auf die Welt loslasse, dann kann man das Liberalisierung nennen, aber es war Interessenpolitik ... Es war im Interesse der Reichen und es hat die Welt in etliche Schwierigkeiten geführt.

Max Otte, Professor für allgemeine und internationale Betriebswirtschaftslehre im der Phoenix-Doku "Die große Geldflut - Wie Reiche immer reicher werden"

Eine der neoliberalen Hauptforderungen ist der Abbau des Sozialstaates (sozial= gesellschaftlich). Das Prinzip des Sozialstaates ist nicht nur im deutschen Grundgesetz in Artikel 20 konstitutiv festgelegt, sondern durch die Ewigkeitsklausel sogar unabänderbar festgeschrieben. Mit anderen Worten: Neoliberalismus ist in seinem Kern nicht nur zutiefst asozial (als logische Folge der asozialen Gesinnung seiner Apologeten: siehe 2.3.3), sondern in diesem Punkt sogar verfassungswidrig (während Neoliberale auf der anderen Seite oftmals so tun, als würden sie unbedingt für die Einhaltung des Gesetzeswerkes eintreten)!

2.3.2 Der Kognitionsforscher Professor Rainer Mausfeld spricht davon, dass mitunter sogar die Existenz von Neoliberalismus geleugnet wird. Hier nun bringt Herr Zitelmann die Variante ins Spiel, den ideologischen Charakter des Neoliberalismus zu leugnen. Das ist postfaktisch at its worst.

2.3.3 "... viel mehr Substanz"? Ausgerechnet bei Hayek, Mises und Friedman? Ein kurzer Faktencheck hingegen offenbart dem hinreichend Sachkundigen Folgendes:

2.3.3.1 Mises ersann eine "Methode absoluter Wahrheitsfindung durch "rein logische Überlegungen": Die "Praxeologie". Als deren einzige korrekte Methode sah von Mises logisch-deduktives Schließen. Die Praxeologie könne so objektive, a priori wahre Gesetze feststellen:

Die durch widerspruch- und fehlerfreies Denken gewonnenen Sätze der Praxeologie sind nicht nur vollkommen sicher und unbestreitbar wie die Sätze der Mathematik; sie beziehen sich mit aller ihrer Sicherheit und Unbestreitbarkeit auf das Handeln, wie es im Leben und in der Wirklichkeit geübt wird. Die Praxeologie vermittelt daher exaktes Wissen von wirklichen Dingen.

Ludwig von Mises (1940), Nationalökonomie, S. 20

Sowohl, um sich einen Eindruck zu verschaffen, als auch zur Belustigung geeignet (aber nur für Personen mit hinreichend logisch-kritischem Denkvermögen).

Mises fand mit diesem Kopfkonstrukt nicht einmal unter seinen damaligen Gesinnungsgenossen Anhänger. Hinsichtlich der Affinität von Intellektuellen zum Maoismus kritisiert Herr Zitelmann (zu Recht) "verabsolutierten Wissenserwerb". Aber bei Mises findet er "viel mehr Substanz"? Wie das? Wie geht das zusammen? Doppelstandard? Womöglich wird Herr Zitelmann sogar der Bewertung zustimmen, dass Praxeologie Unsinn ist. Aber vermutlich eben nur das. Der Rest sei dennoch substanziell? Nun ist es aber extrem unwahrscheinlich, dass jemand ein derart krudes gedankliches Konstrukt ersinnt, welches dermaßen abseits der Lebenswirklichkeit liegt, dass es jeder Beschreibung spottet, ansonsten "ganz vernünftig" denkt.

2.3.3.2 Hayek lehnte die empirische Überprüfbarkeit seiner Thesen kategorisch ab!

Dadurch prallt jede Kritik auf empirischer Basis ab, weil sich seine Vertreter darauf zurückziehen können, dass entweder noch nicht genug Wettbewerb herrscht oder die Resultate als Produkt des Marktspiels hingenommen werden müssen. M.a.W., Hayeks Ansatz schließt alle Formen aus, die auf eine Überprüfbarkeit von Zielen und Mitteln in der politischen Gestaltung einer Gesellschaft hinauslaufen (Ptak 2008, S. 47) ....
Die Gesellschaftskonzeption Hayeks ist gegen auf empirischen Analysen fußende Kritik immunisiert.

Andreas Gick, Bachelorarbeit zum Thema "Hayeks marktliberale Gesellschaftstheorie"

... weshalb Hayek ein empirisches Wissenschafts- und Theorieverständnis ablehnte. Hayek hielt seine aprioristischen Theorien für unfehlbar. Er hat nie versucht seine Theorien empirisch zu überprüfen. Hayek rechtfertigte dies damit, dass nur bei simplen Theorien, nicht aber bei komplexen Phänomenen - wie Hayeks Arbeiten - ein empirischer Test möglich sei. Eine solche Position ist aber selbst für Vertreter des kritischen Rationalismus unhaltbar und wiegt umso schwerer, als Hayek praktische Probleme lösen wollte

Friedrich August von Hayek

"Immunisierung gegen Widerlegung" ist zutiefst unwissenschaftlich. Wer unter dieser Prämisse "unfehlbare Wahrheiten" ersinnt, hat sich in Wahrheit gedanklich und de facto grundsätzlich von seriöser Wissenschaft verabschiedet:

Das Spiel der Wissenschaft hat grundsätzlich kein Ende: wer eines Tages beschließt, die wissenschaftlichen Sätze nicht weiter zu überprüfen, sondern sie etwa als endgültig verifiziert zu betrachten, der tritt aus dem Spiel aus.

Karl Raimund Popper, bedeutendster Philosoph der Neuzeit, erdachte das wissenschaftliche Grundprinzip der Falsifizierbarkeit

Angesichts dieser Haltung ist es nicht verwunderlich, dass Hayek die Kritiker seines Konzeptes vom wissenschaftlichen Dialog ausschließen wollte. Hayek war gefangen in einem dualen Denksystem, aus dem heraus er eine duale Evolutionstheorie, ein duales Menschenkonzept (Instinkt & Vernunft) und ein duales System vom Markt (= Kapitalismus) auf der einen und dem "Nicht-Markt" (= Sozialismus) auf der anderen Seite konzipierte. Das ist beschämend unterkomplex, schwer verkürzend, grob Fakten verzerrend und damit ein intellektuelles Zeugnis der Schande. Substanz? An Irrsinn?

Am Ende seines Lebens soll Hayek seinen Irrtum eingestanden haben.

2.3.3.3 Friedmans Doktorvater Frank Knight warf selbigem grobe Vereinfachung vor. Friedmans Kopfgeburt "Monetarismus" ist durch die harte Realität längst vielfach widerlegt. Friedman postulierte eine Berechenbarkeit zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung, weil die Auffassung der Wirtschaft als deterministische Maschine verfolgte wurde. Ein Schwachsinn sondergleichen. Was aber die sog. "Wirtschaftweisen" (mehrheitlich neoliberal durchseucht) nicht davon abhält, gemäß dieses Paradigmas "Vorhersagen" zu treffen. Von über 80 hat sich nicht eine einzige bewahrheitet. Selbst bei blinden Prognosen wäre ein Zufallstreffer zu erwarten. Dass dem nicht so ist deutet auf einen systematischen Fehler hin. Was wiederum die hier vertretene Erkenntnis stützt, dass Neoliberale i.A. Kapitalismus grundsätzlich nicht verstanden haben und Neoliberalismus dessen maximaler Fehlsteuerung nahe kommt.

Außerdem sind von Friedman folgende "Bonmots" überliefert:

  • Die soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es ihre Profite zu vergrößern (The New York Times Magazine, September 13, 1970)
  • There's no such thing as a free lunch.
  • Es ist unmoralisch, Geld von den Reichen zu nehmen, um es den Armen zu geben. Den Menschen treibt die Gier, und wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.
  • Nur ein entfesselter Markt führt zu absoluter Freiheit.

Sogar der zerstörerischen Gier redete Friedman das Wort:

  • Is there some society, that doesn't run on greed?

Zum Thema Gier andere Personen:

Geldgier zersetzt Herz und Hirn der Menschen. Sie wirkt wie die Pest. Die Armut nimmt zu und treibt die Menschen weltweit in die Heimatlosigkeit, Gewalt und Fanatismus besorgen den Rest.

Norbert Blüm

Was ist der Kern des Bösen? Was gibt ihm die Kraft, also was ist die Kernkraft des Bösen? Habgier - Gier und Habgier!

Georg Schramm

Mit unserer Gier und unserer Dummheit werden wir uns eines Tages selbst ausrotten.

Stephen Hawking, Gespräch mit der CNN, 2010

Ergo: Friedman besaß bei gleichzeitiger exorbitanter Einflussnahme auf Politik, Wirtschaft und damit auch die Gesellschaften eine zutiefst asoziale Haltung. Nun ficht der Vorwurf des asozialen den gemeinen Neoliberalen und/oder Hayek-Bewunderer nicht an, weil Hayek "sozial" als Anspruch grundweg ablehnte:

... so sind die Wiesel-Wörter jene, die, wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben. Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort sozial. Was es eigentlich heißt, weiß niemand. Wahr ist nur, daß eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit - und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist.

Friedrich August von Hayek: Wissenschaft und Sozialismus. In: Gesammelte Schriften in deutscher Sprache: Abt. A, Aufsätze; Bd. 7. Mohr Siebeck, 2004

Um Hayeks Haltung in Gänze den Wind aus den Segeln zu nehmen sei der Begriff asozial deshalb gegen "gesellschaftszerstörend" ausgetauscht. Damit platzt Hayeks Einwand wie eine Seifenblase.

2.2.3.4 Zwischenfazit
Man mag von Marx halten, was immer man will (in gewissen Gesichtspunkten hat dieser de facto völlig Recht behalten). Aber angesichts der vorgenannten Fakten (die auch nur einen kleinen Anriss neoliberalen Wahnsinns darstellen) müsste der belastbare Nachweis, wie die Werke dieser Apologeten wirtschaftlicher/gesellschaftlicher Zerstörung (s.u.) schlüssig mit "viel mehr Substanz" in Einklang stünden, erst noch erbracht werden. Bis dahin mutet diese Einschätzung dem hinreichend Kundigen wie tumbe Fakteninversion und Desinformation an.

Unsere These besagt, dass die Idee eines selbst-regulierenden Marktes reine Utopie ist. Eine solche Institution könnte nicht für längere Zeit ohne Vernichtung der menschlichen und natürlichen Substanz der Gesellschaft existieren; es würde Menschen physisch vernichten und seine Umgebung in eine Wüste verwandeln.

Karl Polanyi, ungarisch-österreichischer Wirtschaftshistoriker und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler

2.4 Zitelmann: da Liberalismus genau das Gegenteil von Faschismus ist.

2.4.1 In Wahrheit geht es um Neoliberalismus. Siehe 2.3.1

2.4.2 Neoliberalismus ist leider die Ideologie, die seit Jahrzehnten die Meinungshegemonie in Lehrbetrieben, Wirtschaft und Politik, welche neoliberale Forderungen in Gesetze presst und gegen die eigene Bevölkerung exekutiert, an sich gerissen hat. Neoliberalismus ist de facto ein Umverteilungssystem von unten nach oben. Dies wird mit einer "wohlkingenden" Ideologie ummäntelt (siehe auch Fazit). Da neoliberale Vollstreckung einer maximalen Fehlsteuerung des Kapitalismus ziemlich nahe kommt, liegt es in Natur der Sache, dass es praktisch allen Gesellschaften (in der breiten Masse) immer schlechter geht. Nahezu alle historischen Erfahrungen zeigen (von ganz wenigen speziellen Ausnahmen wie Griechenland und Spanien, wo die Erinnerung an Faschismus noch hinreichend frisch ist), dass Gesellschaften, die in wirtschaftliche Krisen geraten, nach rechts abdriften und der Rechtsextremismus befeuert wird. Es war kein Zufall, dass der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine schwere Wirtschaftskrise vorausging. Und es ist ebenfalls kein seltsamer Zufall, dass in sehr vielen Ländern wieder Nationalismus und Rechtsextremismus fröhliche Urstände feiert (Niederlande, Polen, Ungarn, Frankreich und last but not least Deutschland).

Durch seine Fixierung auf den Leistungswettbewerb mit anderen Wirtschaftsstandorten schafft der Neoliberalismus einen idealen Nährboden für Standortnationalismus, Sozialdarwinismus und Wohlstandschauvinismus. ...
Je stärker die Menschen unter der sozialen Kälte einer Markt-, Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft leiden, umso mehr sehnen sie sich nach emotionaler Nestwärme, die ihnen Rechtspopulisten im Schoß der Traditionsfamilie, der eigenen Nation und der "Volksgemeinschaft" versprechen.

Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft, 1.08.2016, taz-Artikel "Stolz auf den Wirtschaftsstandort"

Mit anderen Worten: es existiert ein ziemlich klarer Zusammenhang zwischen gegen die Gesellschaften exekutierter neoliberaler Umverteilungspolitik von arm nach reich und dem Aufkeimen sowie Erstarken von Rechtsextremismus. Es ist in sofern der blanke Hohn, dass sich dann ausgerechnet die neoliberal durchseuchten Parteien als "Retter vor dem Rechtsextremismus" anpreisen, die durch ihre gesellschaftszerstörende Politik selbigen erst befeuert haben. Ergänzend sei auf die Gemeinsamkeit des nationalsozialistischen Hitler-Faschismus und der Intention neoliberaler Apologeten verwiesen (siehe 2.7)

2.4.2.1 Zum Thema Faschismus existieren unterschiedliche Auffassungen:

Seit gewisser Zeit hat sich in wissenden Kreisen der Begriff "corporatocracy", nicht die Herrschaft des Volkes (democracy), sondern der Unternehmen und Konzerne, etabliert. Das lässt sich auch als eine Art Faschismus, nämlich Wirtschaftsfaschismus, bezeichnen. Die Herrschaft des Konzerne ist exakt das, was Neoliberalismus de facto vorantreibt.

2.4.2.2 Ohnehin steht Neoliberalismus in einem systemischen Konflikt zur Demokratie. Praktisch zeigt sich dieser systemische Konflikt z.B. in Freihandelsabkommen, welche sowohl Rechtsstaat wie Demokratie unterminieren (siehe: Freihandelsabkommen Wiki). Auf theoretischer Ebene hat sich sogar einer der von Zitelmann selbst bemühten Apologeten des Neoliberalismus, Milton Friedman, dazu klar geäußert:

  • But I also believe that... a democratic society, once established, destroys a free economy.

Aus Friedmans Äußerung ergibt sich folgerichtig im Umkehrschluss: Je mehr "free economy", desto weniger "democratic society". Zu den Idealen bzw. Zielen des Neoliberalismus zählt die Etablierung freier, d.h. komplett oder möglichst unregulierter Märkte. Je näher diesem Ziel gekommen werden soll, desto mehr muss - gemäß neoliberaler Dogmatik - Demokratie abgebaut werden.

Im Sinne des neoliberalen Konzepts ist die Demokratie ein Fremdkörper. Der muss weg. Neoliberalismus und Demokratie geht nicht zusammen. ... Die zweite Medaillienseite des Neoliberalismus ist der autoritäre Staat. Da machen wir uns nichts vor.

Ullrich Mies, im Interview mit Ken Jebsen

In Ergänzung zur Beurteilung Friedmans kann also zu Recht festgestellt werden, dass selbiger nicht nur zutiefst asozial, sondern obendrein auch noch antidemokratisch gesinnt war. Und ausgerechnet diese Figur wird als Schöpfer "substanzieller Werke" benannt? Entweder hat Herr Zitelmann von diesen Sachverhalten keine Ahnung oder aber er hat mit seiner Bemerkung unfreiwillig geoutet, wes Geistes Kind er ist. Wie passen überdies weniger Demokratie und mehr Corporatocracy zu "libertären Idealen" wie Freiheit und Selbstbestimmung? Herr Zitelmann, wie siehts aus?

Walter Ötsch: Neoliberalismus und Postdemokratie

2.5 Zitelmann: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.

Gibt es denn "den" Kapitalismus? Oder existieren davon unterschiedlichste Ausprägungen? Und wenn dem so ist, müsste eine qualifizierte Bewertung sich nicht um eine angemessene Differenzierung dieser "Ausprägungen" bemühen"? Sodass die oben zitierte pauschale Aussage ohnehin verfehlt ist? Könnte es also sein, dass Zitlemanns Vergleiche "des" Kapitalismus mit anderen Wirtschaftssystemen nur täuschende Ablenkungen sind, welche das tatsächliche Problem vernebeln? Nämlich was die beste, sprich für die breite Masse der Gesellschaft hilfreichste und gerechteste Steuerung des Kapitalismus ist? Was identifiziert Herr Zitelmann denn "als Problem"? Und wofür ist Kaptalismus "die Lösung"? Zur Behebung des Problems, dass sich extremster Reichtum auf eine sehr kleine Schicht von [Multi-]Milliadärden konzentriert? Während dadurch gleichzeitig die Masse der Gesellschaft verarmt? Und sich diese üble Tendenz weiter verschärft? Selbst dann, wenn es global betrachtet wird (siehe Oxfam-Studien)? Wie soll denn die Ursache eines Problems dessen Lösung sein können?

Keine Gesellschaft kann ungefährdet blühen und glücklich sein, wenn der weitaus größere Teil ihrer Mitglieder arm und verelendet ist.

Adam Smith - gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie und der Freien Marktwirtschaft.

Wir mögen Demokratie haben oder Reichtum in den Händen der wenigen, aber wir können nicht beides haben.

Louis Brandeis (Richter am Obersten Gerichtshof der USA von 1916 bis 1938

Wollt ihr dem Staat Bestand verleihen? Dann nähert die äußersten Rangstufen einander soweit wie möglich: duldet weder übermäßig Reiche noch Bettler. Diese beiden ihrem Wesen nach nicht voneinander zu trennenden Stände sind für das Gemeinwohl gleichermaßen verhängnisvoll; aus dem einen gehen die Förderer der Tyrannei und aus dem anderen die Tyrannen hervor; sie verschachern untereinander die öffentliche Freiheit (...).

Jean-Jacques Rousseau (1762)

Dieser Irrsinn, absichtlich, denn man sieht ja was geschieht, das Anheizen des Problems für dessen Lösung zu erklären, ist eine der fundamentalen Lügen, gegen die wir uns mit Macht stellen müssen, soviel Macht der Rede wir besitzen. ...dass jede "weitere Exekutierung neoliberaler Forderungen (siehe 2.2.1)/[Im Original: Krieg]" die Probleme nur vertieft, die sie [Original: er] vorgibt zu lösen.

Eugen Drewermann, Rede auf Friedensbewegung in leichter Abwandlung

Was entgegnet Herr Zitelmann denn jemandem, der feststellt: "Kapitalismus ist dialektisches Phänomen: er zeigt systemimmanent sowohl positive wie auch negative Aspekte. Welche Seite mehr zur Ausprägung kommt, ist keine Frage fiktionaler "wirtschaftlicher Naturgesetze" (ein Widerspruch in sich), einer herbeihalluzinierten "unsichtbaren Hand" oder anderer neoliberaler Absurditäten, sondern der durch politische Gesetzgebung lenkenden Rahmensetzung. Also eine Frage menschlicher/politischer Steuerung. Kapitalismus kann überwiegend positive Auswirkungen zeigen, wenn er richtig gesteuert wird (was aufgrund gewachsener Machtstrukturen auf optimale Weise nie je der Fall war. Der Ordoliberalismus war jedoch eine erste Näherung). Aber Kapitalismus ist dann Mist, wenn er neoliberal fehlgesteuert wird. Da es de facto überhaupt keinen Sachzwang gibt, Kapitalismus neoliberal fehlzusteuern, bedarf es "nur" der Entscheidung des Gesetzgebers, die neoliberale Ideologie als gesellschaftszerstörenden Schwachsinn zu verwerfen, einen Rollback neoliberal lobbyierter Gesetze zu vollziehen und sich zukünftig der neoliberalen Ideologie als verlässliche Antireferenz zu bedienen - sprich: das glatte Gegenteil umzusetzen."? Oder auf den Punkt gebracht: warum sollte "vom Besten" (dem Kapitalismus) das Schlechteste (durch Neoliberalismus) gefördert/herbeiführt werden, anstatt sich für das Beste vom Besten zu entscheiden (Anti-neoliberal gesteuerter, im Sinne der Gesellschaft konsequent durchregulierter Kapitalismus)?

2.6 Zitelmann: Der Antikapitalismus nimmt immer wieder neue, zeitgemäße Formen an, ob das nun früher der Marxismus war oder heute der Ökologismus oder die sogenannte Globalisierungskritik: Der Feind, nämlich der Markt, bleibt immer der Gleiche. Und die Lösungen, die das Heil in "mehr Staat" sehen, ähneln sich auch stets.

Diese Äußerungen bedürfen um der Wahrheit Willen multipler Gegenrede:

2.6.1 Weder Ökologismus noch Globalisierungskritik stehen de facto per se im Widerspruch zum Kapitalismus, sondern in allererster Linie zur derjenigen Variante/Form des Kapitalismus, wo eine möglichst unregulierte Wirtschaft tun und lassen kann, was sie will. Also neoliberal fehlgesteuerter Kapitalismus.

2.6.2 "Der Feind" ist keineswegs "der Markt", sondern ein möglichst deregulierter "Markt", Neoliberale, die genau dies propag[and]ieren und Geldmächtige, welche diesen Wahnsinn durch direkte und indirekte Einflussnahme befeuern.

2.6.3 Wenn ausgerechnet ein Neoliberaler wie Herr Zitelmann (siehe 2.12) das "suchen im Heil" bekrittelt, während es gerade Neoliberale sind, welche das Heil in "mehr und unregulierte[re]m Markt" versprechen (in genau diese Richtung geht 2.14), so dürfte das vom psychologischen Aspekt als "Projektion" diagnostiziert werden.

2.6.4 Nicht "das Heil", sondern eine Maßnahme zur Bekämpfung derzeitiger Probleme liegt in der Tat in einer rigoros gegen die Lobbyeinflussnahme von Geldmächtigen und Großkonzernen gerichteten strengen Regulierung der Wirtschaft im Sinne der Gesellschaft.

2.6.5 Es ist ja wenigstens heuchlerisch, wenn nicht gar verlogen, wenn Neoliberale nach außen so tun, als ob sie gegen mehr Staat wären, während sie de facto und in Wahrheit in dem Sinne mehr Staat wollen, wie dieser neoliberales Gedankenungut in Gesetze presst und gegen die eigene Gesellschaft vollstreckt (siehe auch 2.3.1).

2.7 Zitelmann: Andererseits sah ich, wie unsinnig die marxistische Sicht ist, die den "Faschismus" als letzten Abwehrkampf des Bürgertums gegen den Sozialismus sah.

Gerade Hayek und Mises sahen das Selbstverständnis der von ihnen maßgeblich miterfundenen Ideologie Neoliberalismus im Widerstand und Abwehrkampf gegen Sozialismus. In diesem Aspekt sind sich Nationalsozialismus, Hitler und neoliberale Apologeten bemerkenswert einig.

2.8 Zitelmann: "Sobald Marktmechanismen eingeführt und die richtigen Anreize gesetzt sind, damit Menschen nach Reichtum streben, folgt das Wunder des Wachstums früher oder später".

2.8.1 Neoliberale fabulieren gebetsmühlenartig von "Anreizen" und propagandieren z.B., die Arbeitslosigkeit ließe sich dadurch bekämpfen, indem nur "die richtigen Anreize" geschaffen werden, während sie gleichzeitig den Umstand, dass auch noch so viel Anreize nichts an dem Sachverhalt, dass einfach zu wenig Arbeitsplätze existieren, um alle Arbeitslosen in Lohn und Brot zu stellen, wahlweise ausblenden bzw. ignorieren oder kategorisch leugnen. In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass Neoliberalismus in Wahrheit gar kein Interesse an einer Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat, sondern im Gegenteil diese absichtlich herbeiführt:

Viele "haben nie (…) geglaubt, dass man mit Monetarismus die Inflation bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, dass [der Monetarismus] sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen. […] Hier wurde - in marxistischer Terminologie ausgedrückt - eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die industrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren.

Sir Alan Budd, konservativer Notenbanker, Beschreibung der Geldpolitik der Bank of England unter Margret Thatcher (The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21) [157] Ergänzende Information: In Thatchers erster Legislaturperiode kletterte die Arbeitslosenquote auf drei Millionen. Das waren rund 12,5 Prozent im Jahr 1983

Die Unternehmen und ihre Lobbyverbände sorgen sich auch deshalb, weil eine weitere Verknappung des Angebots freier Arbeitskräfte tendenziell zu höheren Löhnen führen und die Macht von Arbeitnehmern und Gewerkschaften stärken könnte.

SPON, 02.01.2018

2.8.2 Das klingt nach einer weiteren Bestätigung der bitteren Erfahrung, dass die allermeisten Neoliberalen Kapitalismus und die kapitalistischen Wirkprinzipien grundsätzlich nicht verstanden haben. In sofern sei Herr Zitelmann hiermit aufgefordert, meine Feststellung zu widerlegen, indem er eine belastbare Erklärung liefert, was Kapitalismus in seinem Wesen ist, wie lange es diesen gibt, was Kapital ist, woher das Wachstum kommt und wodurch der kapitalistische Wachstumsprozess getrieben wird. Dies lässt sich recht kompakt ausführen. Buchverweise daher unnötig und nicht zielführend.

2.8.3 Herr Zitelmann, würden Sie es bei der Nennung dieser beiden Punkte zur Beschreibung der Ursachen des kapitalistischen Wachstumsprozesses (Einführung von Marktmechanismen & richtigen Anreize) belassen oder würden Sie da noch Ergänzungen nachschieben wollen, wenn Ihrer Behauptung der Vorwurf gröbster Verkürzung und/oder Falschdarstellung gemacht würde?

2.8.4 Entweder sind Menschen schon materiell eingestellt, dann streben/gieren diese von selbst nach Reichtum. Oder Menschen haben erkannt, dass man sich im Leben wichtigere Ziele als schnöden Mammon setzen sollte (erstrebenswerte Ziele jenseits blanker Geldgier liegen i.d.R. außerhalb des Denkhorizonts des gemeinen Neoliberalen). Dann dürften auch Anreize nicht fruchten, hinter diese höhere Einsicht zurückzufallen. Allenfalls eine unentschlossene Gruppe dazwischen ließe sich so ködern. Es stellt sich jedoch die Frage: ist das erstrebenswert? Aus neoliberale Dogmatik sicherlich. Aber wer auch nur ansatzweise das Wesen des Neoliberalismus verstanden hat, wird dessen Ansichten eher als Antireferenz und/oder Kontraindikator denn als Ratgeber auffassen. Ergo: Anreize zum Streben nach Reichtum sind neoliberaler Schwachsinn.

2.9 Zitelmann: Im Westen verabschieden wir uns immer mehr vom Kapitalismus - und darin sehe ich eine Gefahr.

Hier wäre mal überaus aufschlussreich, an welchen konkreten (vermeintlichen) Sachverhalten Herr Zitelmann dies festmachen zu können glaubt. Welche Sachverhalte sind das im Detail, die ihn zu dieser imo absurden Einschätzung verleitet haben? Kapitalismuskritiker mögen intentional die Feinde desselben sein, de facto aber sind es Neoliberale, welche diesen zugrunde richten. Wenn es Herrn Zitelman also ernst wäre mit seiner Überzeugung des Kapitalismus als "bestem existierenden System", so müsste er folgerichtig in Sack und Asche dem Neoliberalismus absagen. Augenscheinlich tut er nichts dergleichen. Offensichtlich klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein gähnender Abgrund.

2.10 Zitelmann: Ganz zu schweigen von Büchern wie dem von Piketty, der neuen Bibel der Kapitalismuskritiker.

Im Gegensatz zum hanebüchenen Unsinn, den Mises, Hayek und Friedman verzaft haben (siehe 2.3.3) glänzt Pikettys Werk wenigstens mit belastbaren Zahlen und weist die immer extremer werdende Vermögensschieflage, die Neoliberale am liebsten totschweigen würden, nach. Wer das per se als Kapitalismuskritik auffasst, hat ohnehin zu wenig verstanden. Geschuldet ist dies der unterkomplexen dualen Denkweise eines Hayek, wo Neoliberale ihren "Neoliberalismus" genannten Glauben mit Kapitalismus gleichsetzen. Eine entschiedene Ablehnung sowohl des Neoliberalismus wie auch den Kommunismus bei gleichzeitiger Befürwortung eines im Sinne der Gesellschaft konsequent durchregulieren Kapitalismus bildet für den gemeinen Neoliberalen eine kategorische Denkunmöglichkeit.

2.11 Zitelmann: Intellektuelle haben aber eine Affinität zu Kopfkonstruktionen.

In den kruden Kopfkonstruktionen, die Mises, Hayek und Friedman ersonnen haben (siehe 2.3.3), glaubt Zitelmann jedoch "viel mehr Substanz" erkennen zu können. Weiterhin spricht er in Richtung der kritisierten Intellektuellen von "eigenen Wahrnehmungsbeschränkungen und -verzerrungen". Beides entbehrt nicht eines gewissen unfreiwillig selbstironischen Momentes. Aus psychologischer Sicht dürfte das wohl unter "verzerrte Selbstwahrnehmung" und "Projektion "laufen. Herr Zitelmann lehnt Kopfkonstruktionen aus guten Gründen ab. Aber wo bleibt dessen Ablehnung des evident irren neoliberalen Kopfkonstruktes "homo oeconomicus", welches schon beim kleinsten Abgleich mit der harten Wirklichkeit Lügen gestraft wird? Wo die Distanzierung von neoliberalen Konstrukten wie "der unsichtbare Hand", der Angebotstheorie, Say’sche Gesetz, Walras Gesetz, Trickle-down-Effekt, mathematischer Berechenbarkeit und Crowding-out-Effekt? Ist die neoliberale Dogmatik nicht ein einziges Konvolut irrer Kopfkonstrukte? Könnte es sein, dass Herr Zitelmann die Splitter in den Augen Anderer bekrittelt während er gleichzeitig eine bemerkenswerte Blindheit gegenüber dem Balken im eigenen Auge an den Tag legt?

2.12 Zitelmann: Irgendwo zwischen nationalliberal und libertär.

Das passt nicht wirklich zusammen, weil "Nationalismus (als Anteil von nationalliberal) die solidarisierten Mitglieder einer Nation mit einem souveränen Staat verbinden will" (Wikipedia), während Libertarismus den Staat komplett ablehnt und dessen Abschaffung anstrebt (im Unterschied zu Neoliberalen, welche wenigstens noch ein staatliches Grundgerüst aufrecht erhalten wollen - den sog. "Ordnungsrahmen", um privates Eigentum durch Militär und das Gewaltmonopol (Polizei etc.) zu schützen (der sog. Nachtwächterstaat).

Bemerkenswerter Weise hat Herr Zitelmann vor rund einem Jahr in einen früheren TP-Interview die Selbstbezeugung "für mich ist neoliberal ein Ehrentitel" geoutet. Auch dessen Wertschätzung für die angebliche Substanz der Werke von Mises, Hayek und Friedman sowie die zuvor kritisierten Parolen, die original dem Munde eines neoliberalen Mainstream-Dogmatikers entfleucht sein könnten, zeugen eher davon, dass Herr Zitelmann in Wahrheit ein Neoliberaler ist.

Apropos "Ehrentitel: Dass ideologisch Verblendete ihren präferierten Glauben als etwas überaus Positives verbrämen, liegt in der Natur der Sache. Neoliberale würden eher tot umfallen, als einzugestehen, dass Neoliberalismus in Wahrheit DAS Problem unserer Zeit ist. Dennoch ist diese frühere Selbstbezeugung in sofern bemerkenswert, wie sie Anlass zu der Vermutung gibt, dass die aktuelle Selbsteinschätzung nur deswegen anders lautet, weil Neoliberalen immer mehr ein eisiger Wind entgegenschlägt - zu Recht. Das wäre dann (erneut?) Lesertäuschung. Ein wahrer Ehrentitel in diesem Kontext würde lauten: "Kapitalismus-Versteher und Anti-Neoliberaler/Libertärer"

2.13 Zitelmann: Aber ich mag ... keine Utopien.

Herr Zitelmann mag Utopien ablehnen. Das ist sein gutes Recht. Meinerseits sei ergänzt: Der Autor dieser Zeilen ist ein entschiedener Gegner von Ideologien, weil diese nahezu immer dogmatische Züge aufweisen. Ideologie führt i.d.R. dazu, sich von der Suche nach besserer Erkenntnis zu verabschieden. Weder das ideologische Modell noch die Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns werden mehr kritisch hinterfragt, sondern als unerschütterliche Wahrheit geglaubt. Infolge dessen verzerrt sich die Sicht der Dinge: Fakten und stichhaltige Argumente werden nicht mehr genutzt, um einer realistischeren Sicht der Dinge zu dienen, sondern die Wahrnehmung wird solange umgebogen und Tatsachen uminterpretiert, bis sie sich in das ideologische Dogma/Weltmodell einfügen. Das hat nichts mehr mit Wahrheitsfindung zu tun - und dies sollte immer ein Anliegen sein.

Um es auf den Punkt zu bringen: Neoliberale haben sich Wahrheitsfindung und Erkenntnisgewinn verabschiedet. Sie sind besonders einfältige, naive und unkritische Ideologen, weil Neoliberalismus unter den Ideologien eine der wahnsinnigsten und zugleich wirkmächtigsten überhaupt ist. Wie ein vernünftig und kritisch denkender Mensch neoliberalen Dogmen das Worten reden kann, dürfte wohl durch das Phänomen ideologischer Verblendung, welche die Sinne vernebelt und mit Denkblockaden einhergeht, und ggf. Interessenkonflikten und Befangenheit als mittelbare Nutznießer, zu erklären sein:

"Wer Brot ich ess, des Lied ich sing"

So sehr Herr Zitelmann es auch leugnen zu können glaubt: Neoliberalismus ist eine Ideologie. Dies hat Prof. Rainer Mausfeld ausführlichst nachgewiesen. Ein Festhalten an dieser Leugnung ist Selbstbetrug und/oder Lesertäuschung.

2.14 Zitelmann: Mehr Marktwirtschaft wagen! Ist "Marktwirtschaft" nicht ein ähnlich nebulöser Begriff, wie "Kapitalismus"? Könnte es evtl. sein, dass auch "Marktwirtschaft" ähnlich missverstanden wird, wie "Kapitalismus"? Welche Marktwirtschaft meint Herr Zitelmann denn? Die soziale Marktwirtschaft? Als Neoliberaler doch eher sog. "freie Marktwirtschaft"?!

Dazu schrieb der TP-Chefredakteur Florian Rötzer 2008 in einem Artikel, der bemerkenswerter Weise mit "Der Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung!" überschrieben war:

Die als Religionsersatz verklärte Ideologie der freien Marktwirtschaft ist im Kern ein völlig irrationaler Glaube daran, dass das freie Spiel der Kräfte die beste und ... auch noch die gerechteste Gesellschaftsordnung schaffen wird, obwohl nur alle ihr schnödes individuelles Interesse verfolgen.

Ansonsten klingt die Aufforderung nach tumber neoliberaler Propaganda. Mit solchen leeren Phrasen befindet sich Zitelmann mittendrin im neoliberalen Mainstream! Außerseiter? Wo?

2.15 Zitelmann: Warum man ein "Verräter" ist, wenn man seine Meinung ändert, das bleibt das Geheimnis dieses Leserbriefschreibers.

Selbstverständlich ist eine Meinungsänderung keine valide Begründung für den Vorwurf "Verräter". Welcher ohnehin in die falsche Richtung geht: Neoliberale sind Verräter an der Gesellschaft, weil sie eine destruktive Ideologie propagandieren, welche die Gesellschaften in die Desolidarisierung, Egomanie, Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit sowie Verarmung treiben.

"Der Neoliberalismus hat das Schlimmste in uns hervorgebracht.

Paul Verhaeghe, belgischer Psychologe, Psychoanalytiker und Uniprofessor

2.16 Zitelmann: Ich war nie und bin nicht Förderer der AfD, sondern der FDP ...

Hier hat Herr Zitelmann die mutmaßliche Stoßrichtung des Vorwurfs missverstanden. Er mag nicht intentional ein Förderer der AfD sein, womöglich aber de facto, da der Kommentator doch wohl gemeint haben dürfte: "Durch Beschimpfung der Verlierer dieses Systems selbige der AfD in die Arme treiben." Liegt da tatsächlich ein Versagen korrekten Textverständnisses vor oder war das absichtliche Missdeutung?

III Fazit

So korrekt Rainer Zitelmanns Ausführungen zu maoistischen Neigungen früherer Intellektueller evtl. auch sein mögen, so verfehlt sind dessen Darstellungen zu den Themenkomplexen Kapitalismus und Neoliberalismus, welcher sachlich falsch als "Liberalismus" vernebelt wird. Herr Zitelmann mag sich womöglich in der [vermeintlichen] Rolle des Außenseiters gefallen. In dessen Äußerungen zur Wirtschaft ist dies schwerlich erkennbar: seine Verlautbarungen unterscheiden sich in nichts von neoliberalem [Propaganda-]Mainstream. Alternative Außenseiterpositionen sehen anders aus. Ganz anders: siehe z.B. Heiner Flassbeck, Heinz-Josef Bontrup, Dirk Ehnts, Michael Hartmann und Ulrike Herrmann.

Das Unterbleiben dieser viel treffenderen Kritik seitens "linker Kommentatoren" dürfte dem traurigen Umstand geschuldet sein, dass die allermeisten "Linken" von Neoliberalismus zu wenig bis gar keine Ahnung haben. Der wahre Feind heißt nämlich - unbenommen W. Buffets Klarstellung (s.u.) - nicht Kapitalismus, sondern Neoliberalismus. Dies aber passt nicht in eine verknöcherte ideologische Dogmatik und deren linke Anhängerschaft. Marx selbst dürfte, wenn er heute leben würde, dies wohl genauso sehen. Nahezu allen Kapitalismuskritikern mangelt es schon an dem fundamentalen Verständnis, dass die meisten der mannigfaltigen Missstände, welche jene zu Recht kritisieren und verurteilen, nicht dem Prozess Kapitalismus, sondern dessen ideologischer Fehlsteuerung Neoliberalismus geschuldet sind. Aus diesem Grund sind auf absehbare Zeit von dieser Seite keine konstruktiven Impulse zu erwarten, welche die Gesellschaft zumindest in Ihrer Erkenntnis des systemischen Krieges voranbringt.

Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen

Warren Buffet, erfolgreichster Investor aller Zeiten, drittreichster Mann der Welt auf die Frage "Was ist der zentrale Konflikt unserer Zeit"?

Wenn Plündern für eine Gruppe in der Gesellschaft zur Lebensart wird, schaffen sie im Laufe der Zeit ein Rechtssystem, welches dies legalisiert, und einen Moralkodex, der es glorifiziert.

Frederic Bastiat (1801-1850), französischer Ökonom und Politiker

Zu letztem Zitat:

A) Die sog. "Freihadelsabkommen", wo private Unternehmen den Staat wegen demokratisch beschlossener Gesetze aufgrund eines Sonderklagerechts auf einen vermeintlichen Gewinn verklagen können, stellt das Paradebeispiel schlechthin für die Plünderung durch ein "[Sonder-]Rechtsystem" dar.

B) Der "Moralkodex" unser Zeit (in Politik und Wirtschaft) heißt "Neoliberalismus" - auch wenn dieser zutiefst amoralisch ist. Letzteres ficht Neoliberale aber erneut nicht an, weil sie entweder eine gesunde Moral als Referenzsystem ablehnen oder selbst einer völlig kaputten und kranken "Moral" nach dem Motto "Amoral ist die neue Moral" anhängen.

C) Neoliberalismus ist nur ein Instrument der Superrreichen und Geldmächtigen, um die tatsächlich indentierte Umverteilung von arm nach reich unter einem pseudowissenschaftlichen [Welt/Wirtschafts-]Modell bzw. Mäntelchen zu verbergen. Bei Bedarf, d.h., wenn diese präferierte Ideologie das eigene wahre Ansinnen konterkariert, besteht aber letztlich auch kein Problem, davon Abstand zu nehmen (siehe Bankenrettung).

3.1 Nachwort

In einer höchst brisanten Zeit, wo ein "weiter so" neoliberalen Wahnsinns die gesamte EU incl. Deutschland in allerschwerste Krisen treibt, ist das Allerletzte, was benötigt wird, dass gewisse Protagonisten weiter neoliberalen Apologeten und deren Parolen das Wort reden.

Sofern es nicht gelingt, die hier ausgeführte Kritik vollständig und belastbar zu widerlegen (was allein aufgrund der Verweise auf diverse Fakten extrem schwer werden dürfte), so wird die Zukunft bzw. die seitens Herrn Zitelmann erhoffte Erwiderung zeigen, wie viel von dessen hehrem Ansatz "entscheidend wichtig lebenslanges Lernen ... Und Lernen heißt dabei nichts anderes, als offen und bereit dafür zu sein, bisherige Meinungen und Einstellungen zu korrigieren.", der an sich völlig korrekt ist und vom Autor dieser Zeilen geteilt wird, im Lichte der Wahrheit übrig bleibt. Oder ist Ihnen, Herr Zitelmann, diese Kritik viel zu fundiert und gut belegt, als dass Sie sich darauf einlassen, sodass Sie lieber die Flucht in die Ignoranz wählen?

Die Zeit für "change your mind on some big idea" ist gekommen, Herr Zitelmann. Jetzt! Jede bisherige Erfahrung mit Neoliberalen allerdings hat gezeigt, dass keine dieser Figuren bereit war, Abstand von seiner zerstörerischen Ideologie zu nehmen - egal wie sehr zuvor hehre Ziele von Lernbereitschaft und geistiger Offenheit propagiert wurden. Es sind schwerste Vorbehalte angezeigt, ob Herr Zitelmann hier die löbliche Ausnahme bilden wird.

In sofern gelte es den Buchtitel "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" um folgende Zusatzbemerkung zu ergänzen: - vorausgesetzt, er wird hinreichend kompetent im Sinne der Gesellschaft geregelt. Ein neoliberal fehlgesteuerter Kapitalismus IST sehr wohl ein Problem. Ein derart gewaltiges, welches geeignet ist, die Welt in den Abgrund zu stürzen.

Oder besser und prägnanter: Neoliberalismus ist nicht die Lösung, sondern das Problem.

Der Autor ist Dipl-Ing. Maschinenbau, Jahrgang 64