Die Klugheit der Bakterien, Gödels Theorem und kreative genomische Netze

Ein neues Bild von der Evolution

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Eshel Ben-Jacob lehrt an der School of Physics and Astronomy der Tel Aviv University und hat die Bacterial Cybernetics Group gegründet.

Siehe auch Howard Bloom: Bakterienkolonien und globales Gehirn

Der reduktionistische Ansatz hat lange Zeit die westliche Philosophie beherrscht und unseren Blick auf die Welt sowie unser wissenschaftliches Denken bestimmt1. Das Universum ist das mechanische Universum von Laplace, in dem es keinen Platz für Erneuerung oder Kreativität gibt. Die Annahme ist im Gegenteil, daß sich die Systeme in der Natur, wenn man sie unbehelligt läßt, der maximalen Entropie nach dem Zweiten Gesetz der Thermodynamik nähern.

Begriffe wie Kognition, Intelligenz oder Kreativität werden als Illusionen von uns betrachtet. Der erstaunliche Evolutionsprozeß von der unbelebten Materie über Organismen mit wachsender Komplexität bis zur Emergenz von Intelligenz gilt lediglich als erfolgreiche Akkumulation von Irrtümern (zufälligen Mutationen), die durch natürliche Selektion verstärkt werden (das darwinistische Bild2).

Die Vorherrschaft des Reduktionismus im wissenschaftlichen Denken verdankt sich weitgehend den unbestreitbaren Erfolgen der Wissenschaft, die nicht von den noch immer ungelösten fundamentalen Fragen behindert wurden. Die Macht des darwinistischen Bildes begründet sich nicht nur durch dessen Leistungen, sondern auch durch die Bestürzung, die aus der anscheinend einzigen Alternative des Vitalismus entstanden ist3.

Aber ist der Vitalismus die einzige Alternative? Könnte es ein anderes, weder darwinistisches noch vitalistisches Bild geben? Dieser Aufsatz soll ein alternatives Bild vorstellen. Meine grundlegende Annahme ist, daß die in der Natur beobachtete Kreativität keine Illusion, sondern Teil einer objektiven Realität ist, und daß sie als solche in die wissenschaftliche Beschreibung der Realität aufgenommen werden sollte. Wenn wir jedoch Wissenschaft als die Möglichkeit verstehen, auf der Grundlage des gegenwärtigen Wissens über ein System dessen künftigen Zustand und künftiges Verhalten vorherzusagen, dann widerspricht ein kreativer Prozeß den Glaubenssätzen der Wissenschaft. Schließlich bedeutet Kreation die Emergenz von etwas Neuem und Unvorhersehbarem, das sich nicht unmittelbar aus dem Gegenwärtigen herleiten läßt.

Die von mir vorgeschlagene Lösung dieses Paradoxons führt zu einem neuartigem Bild der Evolution, in dem Fortschritt nicht ein Ergebnis der erfolgreichen Akkumulation von Fehlern bei der Replikation des genetischen Codes ist, sondern das eines gestalteten kreativen Prozesses. Fortschritt geschieht dann, wenn ein Organismus paradoxalen Umweltbedingungen, einander widersprechenden äußeren Bedingungen ausgesetzt ist, die ihn dazu zwingen, auf sich widersprechende Weise zu reagieren. Selbstverständlich kann dies ein Organismus nicht innerhalb seines bestehenden Rahmens leisten. Das neue Bild einer kreativen kooperativen Evolution basiert auf der kybernetischen Kapazität des Genoms und der Emergenz von Kreativität als der Lösung, die kooperative komplexe Systeme für ein existentielles Paradox finden.

Im zweiten Kapitel beginne ich mit den klassischen Experimenten von Luria und Delbrück, die zum ersten Mal gezeigt haben, daß zufälligen Mutationen vor dem Einsatz des selektiven Drucks geschehen4. Diese Ergebnisse wurden als Beweis des darwinistischen Bildes verstanden und führten zum gegenwärtigen neo-darwinistischen Paradigma der Wissenschaften vom Leben. Ein Jahrzehnt später, während der 50er und frühen 60er Jahre, wurde eine Reihe von großen Entdeckungen gemacht, von denen nur eine, nämlich die doppelte Helixstruktur der DNA, allgemein bekannt geworden ist.

In Kapitel 3 mustere ich diese wichtigen Entdeckungen kurz, die eigentlich zu einer Veränderung des Paradigmas hätten führen sollen, da sie darauf hinwiesen, daß das Genom eine dynamische Struktur ist, die sich selbst ändern kann.

Das ist für unser neues Bild des Genoms fundamental. In Kapitel 4 betrachte ich die jüngsten Entwicklungen in der adaptiven Mutagenese, die eine direkte Mutation als Reaktion auf einen nicht-tödlichen selektiven Druck zeigen. In allen diesen Experimenten wirkt der selektive Druck auf die einzelnen Bakterien.

Meine Überzeugung von der Existenz kooperativer genetischer Veränderungen brachte mich zu neuen Experimenten, in denen der selektive Druck auf die Kolonie wirkt. Sie führten zu wichtigen neuen Beobachtungen von Veränderungen des Morphotyps in Kolonien unter Stress (Kapitel 5). Dabei handelt es sich um genetische Veränderungen, die für die Kolonie, aber nicht unmittelbar für die einzelnen Zellen von Vorteil sind.

Das neue Verständnis vom Genom als eine adaptive kybernetische Einheit mit Selbstwahrnehmung wird in den Kapiteln 6-8 vorgestellt. Das Genom ist aus meiner Sicht nicht nur ein Behälter zum Speichern., sondern eine komplizierte kybernetische Entität, die weit über eine universelle Turingmaschine hinausgeht5. Sie enthält, metaphorisch gesprochen, einen Benutzer, einen Prozessor und einen Hardware-Ingenieur sowie Techniker. Der Prozessor selbst übertrifft die universelle Turingmaschine, da die Struktur während der Berechnungen dynamisch ist und sich adaptiv nach den von den Berechnungen erzwungenen Anforderungen verändert. Die entscheidende Komponente ist der "Benutzer", der von der Umwelt aufgezwungene Schwierigkeiten erkennen und Probleme formulieren kann, die nach einer Lösung verlangen. Dieser "Benutzer" besitzt Informationen über die früheren und gegenwärtigen Fähigkeiten des Systems, die er zur Geltung bringen kann, wenn er nach einer Lösung für ein aktuelles Problem sucht. Er kann die Berechnungen auch interpretieren und ihnen eine Bedeutung zuweisen. Überdies nehme ich an, daß das Genom über eine Selbstwahrnehmung verfügt.

In Kapitel 8 schlage ich vor, daß von einem System folgende Bedingungen erfüllt werden müssen, damit es eine Selbstwahrnehmung besitzt:

  1. Es muß im Gegensatz zu einer aus Elementen bestehenden Struktur eine aus Agenten gebildete Zelle sein.
  2. Es muß sich in der Zeit evolutionär entwickeln.
  3. Es muß ein offenes System sein, das konstant Energie und Information mit der Umwelt austauscht.
  4. Es muß eine fortgeschrittene Sprache mit einer Selbstbezüglichkeit auf Sätze und ihre Grammatik besitzen.

Zunächst mag es so scheinen, als würde die Annahme, daß das Genom eine adaptive kybernetische Einheit mit Selbstwahrnehmung ist, ausreichen, um die Evolution zu erklären (Kapitel 9). Aber so ist es nicht. Ein aus Gödels Theorem abgeleitetes Lemma setzt der Selbstverbesserung Schranken. Es besagt, einfach ausgedrückt, daß ein System nicht ein anderes System bilden kann, das komplexer als es selbst ist.

In Kapitel 10 benutze ich die Unterscheidung zwischen Kuhns normaler Wissenschaft (Problemlösung innerhalb des wissenschaftlichen Paradigmas) und wissenschaftlichen Revolutionen (Kreation eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas) als eine Metapher ein, um horizontale Veränderungen des Genoms gegenüber vertikalen Sprüngen zu definieren. Die Erweiterung des Gödelschen Theorems sollte implizieren, daß das Genom keine Sprünge ausführen kann. Aber genau dies könnten die wichtigsten Veränderungen in der Evolution sein.

Sind wir wieder bei zufälligen Mutationen angekommen? Könnte es sein, daß die horizontalen Veränderungen des Genoms von diesem selbst als Reaktion auf die Umwelt geformt werden, während die dramatischeren vertikalen Sprünge sich der darwinistischen Evolution verdanken? Ich glaube nicht und schlage deshalb als Alternative das neue Bild einer kooperativen Evolution vor.

Ich gehe, erstens, davon aus, daß die vertikalen Sprünge des Genoms in Reaktion auf ein bestehendes Paradox erfolgen. Das kreative Paradox und mein Bild, in dem die Paradoxien die Motoren der Kreativität sind und als neue Prinzipien dienen, auf dem sich das neue Paradigma begründet, stelle ich in Kapitel 11 vor. Auf der Grundlage des gegenwärtigen Wissens über genetische Kommunikation in einer Kolonie unter Stress schlage ich in Kapitel 12 vor, daß die Kolonie ein genomisches Web darstellt, wobei ich den Begriff des Web deswegen anstelle desjenigen des Netzwerks benutze, um hervorzuheben, daß die Bestandteile Agenten mit Selbstwahrnehmung und keine Elemente sind. Das genomische Web ist im Verhältnis zum einzelnen Genom ein "Supergeist". Folglich ist ein Paradox für das Genom ein Problem für das Web, das wiederum seine Kreativität auf der Ebene des Genom ausübt. Das Web ist, anders ausgedrückt, viel komplexer als das einzelne Genom, weswegen es ein neues und komplexeres Genom schaffen kann, das einen vertikalen Sprung über die Version des zuvor bestehenden Genoms darstellt. Deswegen verwende ich die Begriffe kooperative Selbstverbesserung oder kooperative Evolution. Im Kapitel 13 schließe ich die Überlegungen mit einigen Implikationen des neuen Bildes und mit Spekulationen über dessen Gültigkeit für Eukaryoten ab .

Die Experimente von Luria und Delbrück: Vorhergehende Zufallsmutationen

Der Ursprung der Mutationen wurde zu einer der grundlegendsten Fragen in den biologischen Wissenschaften, seit Darwin Mutationen eine Schlüsselrolle in seiner Theorie der natürlichen Selektion zuwies. Darwin verstand Mutationen (Variationen zwischen Individuen) nicht notwendigerweise als zufällig und dachte, daß die Umwelt bestimmte (adaptive) Mutationen herbeiführen könne. Aber er sagte, daß es sinnvoll sei, sie so lange als zufällig zu behandeln, wie wir ihren Ursprung nicht kennen6.

1943 führten Luria und Delbrück7 ein entscheidendes Experiment durch, um die Existenz von zufälligen Mutationen, d.h. von Mutationen, die nicht mit der Umwelt verbunden sind, zu beweisen. Sie setzten Bakterien einem tödlichen selektiven Druck aus: der Bakteriophage T1. Da diese Bakteriophage sofort die nicht resistenten Zellen tötet, können nur Zellen mit einer bereits zuvor erfolgten Mutation, die Resistenz bewirkt, diese Behandlung überleben. Luria und Delbrück setzten Bakterienpopulationen einer solchen tödlichen Umwelt aus und stellten die Zahl der überlebenden Zellen in den verschiedenen Populationen der Petrischalen fest. Aus der Verteilung der überlebenden Zellen zogen sie die Schlußfolgerung, daß sich die entscheidenden Mutationen zufällig vor der Aussetzung der Bakterien an den selektiven Druck vollzogen hätten, also daß sie zufällig entstanden seien und nicht aus der Umwelt gekommen wären.

Wie Delbrück8 selbst sagte, konnten nur Zellen mit einer zuvor geschehenen bestimmten Mutation das Experiment überleben, während die nicht angepaßten Zellen sofort und ohne Möglichkeit starben, eine Mutation als Reaktion auf den Druck auszuführen. Das Experiment bewies die Existenz von Zufallsmutationen, aber schloß die Möglichkeit nicht aus, daß es auch nicht zufällige Mutationen geben könnte.

Trotzdem dienten diese Experimente zur Unterstützung des neo-darwinistischen Dogmas, das davon ausgeht, daß alle Mutationen zufällig sind und nur während der DNA-Replikation erfolgen. Diese "Verdrehung" der Interpretation läßt sich als ein Bestandteil des Ziels des Neo-Darwinismus - oder der "Neuen Synthese" - verstehen, alle vitalistischen oder teleologischen Vorstellungen durch die ausschließliche mechanistische Erklärung aller Phänomene aus der Biologie zu entfernen.

Neue Entwicklungen in den 50er Jahren: Von den Genen zum Genom

Die Bestätigung von zuvor erfolgten Zufallsmutationen durch Luria und Delbrück fügten sich gut in den reduktionistischen Ansatz ein. Sie schien auch mit den Entwicklungen in der Quantenmechanik in Übereinstimmung zu stehen, wie sie in dem damals einflußreichen Buch von Schrödinger "Was ist Leben?"9 reflektiert wurden. Delbrück, der zunächst ein von Schrödinger beeinflußter Physiker war, versuchte die Evolution, einschließlich der Entstehung des Geistes, in die reduktionistische Perspektive der Physik einzubinden. In seinem Buch "Mind from Matter"10 weist er auf die dabei auftretenden Schwierigkeiten ein, aber er scheint den reduktionistischen Ansatz übernommen zu haben, der 1953 mit der Entdeckung der Helixstruktur der DNA11 eine gewaltige Bestätigung fand. Zusammen mit dem fünf Jahre zuvor erfolgten Beweis für die Theorie "Ein Gen - ein Enzym"12 und den Entdeckungen der Messenger- und Tranfer-RNA führte dies zur Durchsetzung des neo-darwinistischen Bildes, in dem das Gen das grundlegendste Element darstellt. Es ist als eine Vererbungseinheit definiert13, die eine bestimmte Position im Genom oder Chromosom besitzt, auf den Phänotyp des Organismus in einer bestimmten Weise einwirkt, in verschiedenen Allelen mutieren und sich mit anderen Genen rekombinieren kann. Gegenwärtig kennt man drei verschiedene Klassen von Genen: 1. Strukturgene, die in mRNA übersetzt und dann in Proteine umgesetzt werden; 2. Strukturgene, die in ribosomale RNA- oder Transfer-RNA-Moleküle übersetzt werden; 3. Regulatorgene, die nicht übersetzt werden und deren primäre Aufgabe die Steuerung der Produktsynthese von anderen Genen ist, die aber auch andere Gene an- und ausschalten können.

Die Regulatorgene und die Theorie des Operon, d.h. einer Anzahl von Genen, die unter der Steuerung eines Regulatorgens koordiniert arbeiten, wurden von Jacob und Monod14 1961 eingeführt. Sie stellen eine unter einer ganzen Reihe von großen Entdeckungen während der 50er Jahre dar, die das Bild eines statischen Genoms hätten zerstören müssen, das lediglich als Speicher dient. Hinweise auf die Notwendigkeit eines neuen Bildes lassen sich in der Tat auch in dem Buch "Die Logik des Lebendigen" von Francois Jacob15 finden. Weitere Hinweise sind:

  1. Die Entdeckung der Transpositionselemente durch McClintock 195016. Das ist eine Klasse von DNA-Sequenzen, die von einem Ort auf dem Chromosom zu einem anderen wandern können. Sie können auch zwischen Plasmiden, die man gelegentlich als bewegliche Elemente bezeichnet, übertragen werden und beispielsweise Resistenz gegenüber Antibiotika mit sich bringen17.
  2. Erkenntnisse über Bakteriophagen, also daß die DNA in den Wirt eindringen kann, während der Großteil der Proteine außerhalb bleibt, die genetische Rekombination mit dem Chromosom des Wirts, die genaue Struktur von verschiedenen Phagen, die nicht-infektiöse Replikation von Phagen etc.
  3. Erkenntnisse über Plasmide und ihre Eigenschaften, ausgehend von der Entdeckung des Lambda-Plasmids durch Lederberg, das man später Episom nannte18. Allgemein sind Plasmide genetische Elemente außerhalb des Chromosoms, die man bei einer Vielzahl von Bakterienarten gefunden hat und die normalerweise einen bestimmten Vorteil für die Wirtszelle, beispielsweise Resistenz gegenüber Antibiotika, Erzeugung von Colicinen etc., mit sich bringt. Die Plasmide, die auf natürliche Weise als auch bei der von Menschen ausgeübten Gentechnik ein wichtiges Werkzeug darstellen, sind zweireihige ringförmige DNA-Moleküle in der Größe von 1 bis 200 Kbar19. Sie können in das Wirtschromosom eingebaut werden. Ihre Replikation erfolgt entweder autonom oder sie ist mit der des Wirts verbunden. In einer Wirtszelle können zwischen einem und hundert Plamiden sein. Man kann sie benutzen, um DNA-Sequenzen von einer Zelle auf eine andere zu übertragen. Manche können eine Konjugation (eine vorübergehende Vereinigung von zwei Zellen zum Austausch genetischen Materials) auslösen, andere können während der Konjugation übertragen oder die Übermittlung unbeweglicher Plasmide unterstützen. Plasmide können auch Gene replizieren, Gene von einer Stelle zu einer anderen verschieben und Gene wie die Regulatorgene steuern. Man muß betonen, daß die Aktivität der Plasmide selbst von inneren oder äußeren Bedingungen so gesteuert wird, als hätten sie direkte Kommunikationskanäle mit der Umgebung der Zelle.
  4. 1954 zeigte Ryan20, daß genetische Veränderungen nicht nur während der Replikation geschehen können. Er setzte Bakterien einem nicht-tödlichen Druck aus, indem er ihnen Nahrung gab, die sie nicht verdauen konnten, und nur ganz wenig verdaubare Nährlösung, die zur Replikation der Bakterien nicht ausreichte. Er beobachtete die Entstehung neuer Mutanten, die die Nahrung verdauen konnten, was auf genetische Veränderungen außerhalb der Replikation hinwies.

Nimmt man alle diese Erkenntnisse zusammen, so sollten diese zu einem neuen Bild geführt haben, was aber nicht geschehen ist. Das Genom wird auch heute noch einfach als Ansammlung aller Gene definiert, die sich in einem einzelnen Gameten befinden21.

Ich stelle ein neues Bild des Genoms als einer adaptiven kybernetischen Einheit mit Selbstwahrnehmung vor. In diesem Bild gehört zum Genom das Chromosom, die ganzen extra-chromosomalen Elemente und die gesamte "chemische Maschine", beispielsweise die Enzyme, die an der genomischen Aktivität und der Herstellung von Proteinen beteiligt sind. Das neue Bild ist auf den zuvor beschriebenen Erkenntnissen und auf dem gegenwärtigen Wissen über weitere genetische Elemente begründet, die ich hier aus Platzgründen nicht beschreiben kann.

Der Begriff "Element" ist mißverständlich, da es sich in Wirklichkeit um Agenten handelt22. Ich schlage daher vor, sie als kybernetische Agenten oder Kybernatoren zu bezeichnen. Mein neues Bild basiert auch auf den bekannten Möglichkeiten des Genoms, sich selbst zu verändern, sowie auf den Ergebnissen der Experimente, die in Kapitel 4 und 5 vorgestellt werden.

Adaptive Mutagenese

Auch wenn Ryan Veränderungen im Genom nachgewiesen hat, die nicht während der Replikation geschehen, konnte er nicht zeigen, daß sich die Veränderungen in Zusammenhang mit dem spezifischen Selektionsdruck vollzogen haben. 1984 führte Shapiro23 ein ähnliches Experiment durch. Er verwendete jedoch gentechnisch veränderte Bakterien mit einer Deletion, wodurch sie vor der "Verdauung" bestimmter Nährungslösungen geschützt waren. Er beobachtete die Entstehung korrigierender Mutationen, die den Bakterien es ermöglichten, die Nahrung aufzunehmen. Die Mutationen ereigneten sich nicht unmittelbar nach dem Beginn des Selektionsdrucks, d.h. nach der Aussetzung an einen hohen Grad nicht genießbarer Nahrung, sondern sie setzten mit einer Verzögerung von zwei Tagen ein und traten dann weiter in einer fast kontinuierlichen Rate über mehrere Tage hinweg auf. (Diese und spätere Beobachtungen über die besondere Weise solcher Mutationen führte uns zur Überzeugung24, daß die Bakterien zwei Tage Zeit benötigen, um das ihnen gestellte Problem zu identifizieren und eine Lösung zu finden, was ich in Kapitel behandeln werde.)

1988 zeigten Cairns und seine Mitarbeiter25 die Besonderheit dieser Mutationsereignisse. Eine bestimmte Mutation wird nur dann mit hoher Frequenz auftreten, wenn sie zur Beseitigung des Selektionsdrucks notwendig ist, d.h. während einer Selektion hinsichtlich dieser Mutation und nicht wegen anderer Bedingungen von Stress. Die vorweggehende Selektion, die die bestimmte Mutation auslöst, löst keine anderen Mutationen aus. Daraus schlossen Cairn und seine Mitarbeiter, daß diese Mutation adaptiv ist, also daß die Bakterien irgendwie mutieren, um sich dem Selektionsdruck anzupassen. Diese Experimente und die Schlußfolgerungen aus ihnen lösten eine heftige Diskussion unter den Biologen aus und führten zu weiteren Experimenten. Diese widerlegten einige herkömmlichere Interpretationen und wiesen auf die aktive Rolle der Bakterien bei adaptiven Mutationen hin26.

Zu den interessantesten Experimenten in Bezug auf unser Thema gehören die von Hall mit zweifachen Mutationen27 Hier wurden zwei Mutationen in zwei Genen benötigt, um das Wachstum der Bakterien zu ermöglichen. Das wichtigste Ergebnis dieser Experimente ist die Verdoppelung der Verzögerungszeit, die der Entstehung der adaptierten Mutanten vorangeht.

Kürzlich durchgeführte Experimente von Galitski et al.28 und Radicelli et al.29 begannen meine Hypothese30 zu bestätigen, daß die Bakterien, um adaptive Mutationen sowie andere nicht-zufällige Mutationen durchzuführen, kybernetische Elemente - im Fall von Galitski Plasmide - zu verwenden, die diese Mutationen von einer Zelle zu einer anderen übertragen. Daher können diese Mutationen "synchronisierte, autokatalytische und kooperierende genetische Variationen" sein.

Auch wenn dies noch längst nicht allgemein anerkannt wird, entsteht allmählich ein Bild von problemlösenden Bakterien, die ihr Genom an von der Umwelt gestellten Problemen anpassen können. Das ist ein radikal anderes Bild als das herrschende von der unlebendigen, passiven DNA, die als Speicher zur Herstellung von Proteinen dient.