Die Lebenserwartung der Menschen nimmt seit 150 Jahren kontinuierlich zu

Nach Auswertung von demografischen Studien warnen Wissenschaftler die Politiker davor, aufgrund falscher Voraussagen die Augen vor den Folgen für die sozialen Sicherheitssysteme zu schließen

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Schon jetzt könnte sich die zunehmende Vergreisung der Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten auch in den Wahlen niederschlagen. Zu erwarten ist, dass eine konservative Politik mit den Themen Sicherheit und Angst vor Zuwanderung sich stärker durchsetzen könnte, wenn die Alten die Wahlen dominieren und so den Kurs der Politik bestimmen. Eine statistische Analyse der Lebenserwartung zeigt, dass wahrscheinlich der künftige Einfluss der alten Menschen auf die Gesellschaften unterschätzt wurde, denn hier lässt sich kein Trend erkennen, der zu einem allmählichen Gipfel der Lebenserwartung führt.

James W. Vaupel, Direktor des Program on Population, Policy and Aging at Duke's Terry Sanford Institute of Public Policy und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung; und Jim Oeppen von der Cambridge Group for the History of Population and Social Structure, Cambridge University, England, haben für eine Studie Daten über die Langlebigkeit aus Industrieländern wie Australien, Holland, Island, Japan, Schweden, der Schweiz und den USA über einen Zeitraum von fast 200 Jahren ausgewertet. Entgegen der Erwartung, dass demnächst nicht nur eine Verlangsamung, sondern auch der Gipfel der Lebenserwartung erreicht werden würde, sehen die Wissenschaftler dafür aber keine Hinweise, wie sie in ihrem Beitrag in der aktuellen Ausgabe von Science schreiben. Ganz im Gegenteil, zumindest seit 1840 hat die Lebenserwartung kontinuierlich lineare zugenommen und ist beispielsweise bei schwedischen Frauen von 45 auf 85 Jahre gestiegen. Seit 150 Jahren habe die Lebenserwartung jedes Jahrzehnt um 2,5 Jahre zugenommen. Der Fortschritt sei so "außergewöhnlich linear", so die Wissenschaftler, dass sie möglicherweise für absehbare Zeit auch weiterhin linear ansteigen könne.

Die Lebenserwartung ist ein Durchschnittswert und nicht mit dem höchsten erreichbaren Lebensalter zu verwechseln. Der älteste Menschen, der bekannt ist, wurde 122 Jahre alt. Die ansteigende Lebenserwartung, die sich weltweit während der letzten 200 Jahre von 25 Jahren für Frauen auf 70 Jahre und für Männer auf 65 Jahre mehr als verdoppelt hat, ist für die Forscher ein "regelmäßiger Verlauf eines kontinuierlichen Fortschritts", der auf viele ineinander greifende Faktoren wie Ernährung, Ausbildung, Wohlstand, Hygiene oder den Stand der Medizin zurückgeht. So verdankte sich der Rückgang der Mortalität bis zu den 1950er Jahren vor allem der Reduzierung der Kindersterblichkeit, während die Lebenserwartung später aufgrund der besseren Überlebensbedingungen für die Menschen über 65 Jahren anstieg. Bei den japanischen Frauen lag 1950 die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren bei 78 Jahren. Jetzt liegt sie bei 87 Jahren.

Im Jahr 2070 könnte die Lebenserwartung von Frauen in den USA bereits bei 101 Jahren liegen, offiziell geht man nur 84 Jahren aus. Heute schon könnten weibliche Neugeborene in Frankreich oder Japan, den Ländern mit der höchsten Lebenserwartung, davon ausgehen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 50:50 hundert Jahre alt zu werden.

Die Wissenschaftler verstehen die Ergebnisse ihrer Studie vor allem als Signal für die Politiker und die Gesellschaften. Weiterhin kontinuierlich steigende Lebenserwartung verändern die Gesellschaften und führen zu drastischen Mehrausgaben beim Gesundheits-, Sozial- und Rentensystem, auf die man sich jetzt schon einstellen müsste. Das haben Politiker bislang weitgehend versäumt, weil man im Hinblick auf die Kosten von "optimistischen" Berechnungen einzelner Demografen ausgegangen sei. Diese seien fälschlicherweise von einer Obergrenze ausgegangen, die bald erreicht würde. So habe eine Demograf 1928 ausgehend von amerikanischen Statistiken die Grenze der Lebenserwartung auf rund 64 Jahre angesetzt, als sie noch bei 57 Jahren lag. In Neuseeland betrug für Frauen die Lebenserwartung aber schon 1921 fast 66 Jahre. Ähnliche Grenzen wurden auch von anderen Wissenschaftlern vorhergesagt.

Solche Fehleinschätzungen sind für Vaupel und Oeppen nicht nur Fälle für die Wissenschaftsgeschichte. Voraussagen über die Lebenserwartung haben ganz praktisch und möglicherweise volkswirtschaftlich desaströse Folgen, da von ihnen die Kostenerwartungen für die sozialen Sicherheitssysteme oder das Gesundheitssystem ausgehen. Hier habe man, da dann keine großen politischen Entscheidungen anstehen, meist eine langsame Zunahme und ein baldiges Ende des Anstiegs der Lebenserwartung zugrunde gelegt. So liegt die offizielle Voraussage in Japan aus dem Jahr 1997 für die Lebenserwartung von Männern und Frauen bei 82,95 Jahren, realistischer aber sei, dass sie um die 91 Jahre liege. Zwar könne der Rückgang der Mortalität sich in den nächsten Jahrzehnten verlangsamen, aber zu erwarten seien auch weitere Fortschritte in der biomedizinischen Forschung, die erst in den letzten Jahren etwa mit der Genforschung wichtige Fortschritte gemacht hat, die erst noch durchschlagen werden.

Gleichmäßig aber ist die Lebenserwartung aber natürlich nicht für alle Menschen in allen Ländern und aus allen Schichten gestiegen. Und auch zwischen Männern und Frauen gibt es einen erheblichen Unterschied. So ist die Differenz in der Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren zwischen Frauen und Männern von 2 auf 6 Jahre zugenommen.