Die Ohnmacht der schweigenden Masse

Seite 2: Das Wachstum behindern?

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Wer die aufstrebende Mittelklasse in Ländern wie Indien oder Bangladesch betrachtet, kann sehen, dass sie ihr Verhalten vom Westen übernommen haben. Die Menschen, die sich dort für mehr Bürgerrechte und gegen die Umweltzerstörungen einsetzen, werden von der Mittelklasse im Regen stehen gelassen, weil deren Aktivitäten das Wachstum des Landes behindern, wird ihnen vom Hindu-Kapitalisten Narendra Modi erzählt oder von der Autokratin Hasina Wajed.

"Du musst mehr Verständnis für die Masse der Menschen dieser Stadt haben. Sie haben Verpflichtungen. Kinder und ein geregeltes Arbeitsverhältnis", sagt der Sprachlehrer Andreas. Wie meistens ist er auch heute auf dem letzten Drücker zur abendlichen Fahrraddemo angerauscht gekommen: Arbeit an der Universität. Dann den Sohn vom Kindergarten abgeholt. Anschließend Arbeiten korrigiert, dann zu einer Bezirksversammlung geradelt: "In Mitte wollen sie so schnell wie möglich die Fahrradwege ausbauen. Aber die deutsche Bürokratie wie auch die AfD und CDU machen jeden Meter Fahrradweg zur Geduldsprobe."

Natürlich hat er Recht: Es gibt in Deutschland viel mehr Menschen, die versuchen, Demokratie zu leben, als man sehen kann. Doch auch sie werden nicht vorrankommen, wenn die schweigende Masse sie im Regen stehen lässt. Einfacher ist es da, sich über die Ostdeutschen auszulassen und ihnen mangelndes Demokratieverständnis vorzuwerfen, weil im Westen immerhin verstärkt Grün gewählt wird. Die Grünen in der jetzigen Form sind jedoch nichts anderes als der kleinste Schritt in die richtige Richtung. In ihrem Buch Die Grüne Lüge legt Kathrin Hartmann dar, dass ein grünes Wirtschaftswachstum nicht die Lösung sein kann, diesen Planeten zu retten.

Bei Extinction Rebellion, Fridays for Future oder Critical Mass mögen die meisten nicht wissen, dass Karl Marx im Kapital vorausgesagt hat, das die Endstufe des Kapitalismus die Bildung der riesen Konzerne sein wird (die Konzentration des Kapitals). Aber fast alle engagierten jungen Menschen nehmen wahr, dass dies so ist. Zudem wird die Übernahme der Wirtschaft durch immer größere Konzerne durch Studien belegt.

Eine Fahrraddemo von Critical Mass dreht ein paar Runden um den großen Stern in Berlin. Foto: Gilbert Kolonko

Auch ohne Marx wissen sie, dass die Konzentration des Kapitals und die Dynamik der Globalisierung die Kluft zwischen Arm und Reich unaufhaltsam wachsen lässt. Dazu sehen sie, dass dieser ungezügelte Raubbau an der Natur ihre Zukunft versaut, weil ihnen die Daten der Wissenschaft es sagen.

Die Utopie der engagierten Jungen: eine Welt eines nachhaltigen Wirtschaftssystems, ohne Ausbeutung und mit Chancengleichheit. Als jemand, der seit 20 Jahren den Anstieg der science-fiction-artigen Umweltzerstörungen in Südostasien verfolgt, kann ich gar nicht anders, als zu zustimmen: Es sieht katastrophal aus.

Die "schweigende Masse" tut dann immer erwachsen demokratisch und wirft den engagierten jungen Menschen vor, dass die ganze Wirtschaft zusammenbricht, wenn die Jungen so weiter machen: Genau die gleiche Vorwürfe, wie sie die Springer Presse in den 1980ern für die aktiven Grünen benutzt haben. Heute tun selbst Axel-Springer-Medien, ihre Leser und die neoliberale Wirtschaftsexperten so, als wären sie schon immer vorbildliche Umweltschützer im eigenen Land gewesen und schimpfen auf die Inder, die jetzt mit Kohle ihre Wirtschaft anheizen. Die Leitmedien und Neoliberalen Indiens verweisen auf die eigene Wirtschaft und beschimpfen die Umweltschützer, engagierte Studenten und Aktivisten.

Dabei zeigen die jungen Menschen von Fridays for Future über die Teilnehmer von Extension Rebellion und die Wissenschaftler doch die Lösung auf: Nachhaltigkeit. Das Problem ist der Lösungsweg: Alles muss sich ändern - die Wirtschaft, die Politik, das Bewusstsein und so das Handeln der schweigenden Masse. Das stellte auch Professor Ludwig Ellenberg bei seinem Vortrag in der Urania-Berlin fest: Wie viele Menschen haben Platz auf dieser Erde. Die Auflistung der erforderlichen Taten war so lang, dass die Mehrheit der Hörer sie lieber überhörte und stattdessen ihre Hoffnungslosigkeit kundtat.

Dabei stellt sich bei der näheren Betrachtung heraus, dass alle Forderungen eins gemein haben: Sich selbst bewusst zu machen, dass ihr oder sein Handeln Folgen hat und für den Einzelnen bleiben die Taten überschaubar. Zu diesem Schluss kam auch ein Berliner Polizist aus dem gehobenen Dienst. Er bestätigte mir gegenüber, dass die junge Generation von Kollegen angewiesen wird, so viele Strafzettel zu schreiben wie möglich, um mit dieser Art von Aktivität den Personalmangel zu kaschieren.

"Wenn sie zu mir kommen, frage ich die jungen Kollegen, ob sie schon einmal die Aussage gehört haben, "der Polizist dein Freund und Helfer". Ich versuche den jungen Kollegen klar zu machen, dass oft ein Gespräch mehr Positives bewirkt als ein Strafzettel. Am Ende wird jeder Verwarnte mit anderen Menschen über sein Erlebnis sprechen und wir entscheiden mit unseren Verhalten, ob es eine Wutrede über die Polizei sein wird, oder ob der Bürger eine Geschichte von einem Freund und Helfer weitererzählt."

So ist auch jeder Mensch, der versucht, mit Geduld mit anderen ins Gespräch zu kommen, ein Aktivist, der ein kleines Stück verändert, denn der Kapitalismus will, dass wir miteinander konkurrieren und wenn wir miteinander reden, soll es über Fußball, die neue Kamera oder das Auto sein. Dazu sollen wir uns auf die Lohnarbeit konzentrieren, also den entfremdeten Teilbereich, in dem die meisten tätig sind, ohne dass sie wissen, was ihre Tätigkeit fürs Ganze bedeutet. Die deutsche Autoindustrie wird nicht wegen der Aktivisten bis zu eine Million Arbeitsplätze verlieren, sondern weil Industriebosse und Bundesregierung die nächste industrielle Revolution verschlafen haben.

Extension Rebellion, Critical Mass oder Fridays for Future sind nicht die Lösung, doch sie sind wichtige und unterstützenswerte Bewegungen und Teil der Lösung: Nur Druck von der Straße kann die Politik zum Umdenken zwingen, denn auch mehr Fahrradwege und der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel fallen nicht vom Himmel. Genauso wichtig sind Menschen, die den Mut und die Kraft haben, im ländlichen Raum Alternativen aufzubauen.

Ebenso wichtig sind aktive und engagierte Kommunalpolitiker, die in zermürbender Arbeit kleinste Fortschritte zustande bringen. Auch die Vernetzer, die Aktivisten in verschiedenen Ländern miteinander in Kontakt bringen. Wichtig sind auch die Mahner die stets darauf hinweisen, dass dies nur kleine Stücke auf dem Weg zu einem Systemwechsel sind: Hin zu einem nachhaltigem Wirtschaften. Aber auch für sie gilt: Die eigene Wichtigkeit nicht über die der anderen stellen - jeder ist nur ein kleiner Teil der Lösung.

Noch trauen sich die Befürworter der einfachen, national geprägten Lösungen zumindest in Deutschland nicht in Massen auf die Straße. Das liegt auch daran, dass sie bequem sind, deswegen wollen sie ja starke Führer, die ihnen alles abnehmen.

Nur eigenes, bewusstes Handeln, ohne Führeranspruch hilft und diejenigen, die glauben, mehr zu wissen, können es unter Beweis stellen, indem sie mehr aushalten und Schutz und Unterstützung für die Zögernden bieten. Die anderen, die Nationalisten, Hindufanatiker oder die Islamisten können sich nicht vereinen, weil sie den Hass auf die anderen brauchen. Dazu haben sie keine Antwort auf die Zerstörungen des globalen Kapitalismus.

Im Gegenteil: Sie fördern die bittere Konkurrenz und Ausgrenzung unter den Menschen, die das jetzige System braucht.