Die Phrenologie kehrt im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz zurück

Die Partien im Gesicht von Männern und Frauen, die angeblich zur Erkennung der sexuellen Orientierung am wichtigsten sind.

Wissenschaftler glauben, dass mit einem trainierten künstlichen neuronalen Netzwerk die sexuelle Orientierung von Menschen aus deren Gesichtern abgelesen werden kann

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Wissenschaftler von Standford University wollen gezeigt haben, dass aus Gesichtern die sexuelle Orientierung der Menschen abgelesen werden kann. Das ist eine verwegene Behauptung, möchte man sagen, und erinnert an die angebliche Wissenschaft der Phrenologie aus dem 19. Jahrhundert, wo man etwa wie der Arzt Franz Joseph Gall oder der Psychiater Cesare Lombroso glaubten, aus der Schädelform auf das Gehirn und vor allem auf charakterliche Eigenschaften oder die Intelligenz eines Menschen schließen zu können, was auch zu einer Grundlage der "Rassenkunde" wurde.

Jetzt also vermisst man Schädel nicht mehr kraniometrisch, sondern Gesichter mittels Bilderkennungs- und KI-Programmen. Die Wissenschaftler Yilun Wang und Computerpsychologe sowie Big-Data-Wissenschaftler Michal Kosinski gehen davon aus, dass die physiognomischen Ansätze, die für rassistische Ideologien herhalten mussten, zu Recht abgelehnt werden. Man habe aber "die Untersuchung und sogar Diskussion der Verbindungen zwischen Gesichtsmerkmalen und dem Charakter" zum Tabu gemacht, schreiben sie in ihrer Studie was zu dem verbreitetem Glauben geführt, es gebe keine solchen Verbindungen. Das sei falsch.

Charakter könne Gesichtszüge beeinflussen, so würden in jungen Jahren sehr extrovertierte Frauen mit dem Alter attraktiver werden. Auf der anderen Seite könnten Gesichtszüge den Charakter verändern. Da die Mitmenschen auf das Aussehen eines Menschen mit Erwartungen und Verhaltensweisen reagieren, würde dies auch den Charakter des Betroffenen verändern. Schöne Menschen würden ein besseres Feedback erhalten und dadurch extrovertierter werden. Zudem gebe es viele Faktoren, die die Gesichtszüge und den Charakter beeinflussen, Hormone, Umwelt oder Gene. Verwiesen wird auf den Testosteronspiegel.

Weil es angeblich solche Verbindungen gebe, könnten die Menschen auch genau "den Charakter, die psychischen Zustände und die demografischen Merkmale aus den Gesichtern ablesen, folgern sie. Verwiesen wird auf Studien, deren Validität aber nicht geprüft wird, die zeigen würden, dass wir "leicht und genau" das Geschlecht, das Alter, die ethnische Herkunft oder die emotionale Befindlichkeit aus den Gesicht ablesen können, mit einer geringeren Genauigkeit angeblich auch die politischen Ansichten, die Ehrlichkeit, die Persönlichkeit, die Wahrscheinlichkeit, eine Wahl zu gewinnen, oder eben die sexuelle Orientierung. Es wird dann zwar eingeräumt, dass es den Menschen schwer falle, den Charakter einer Person aus dem Gesicht richtig zu erkennen, aber das bedeute nicht, "dass wichtige Hinweise nicht deutlich dargestellt" seien, es könne ja auch so sein, dass die Menschen diese nicht entdecken und interpretieren können.

Hypothese: Im Uterus werden geschlechtsspezifische Gesichtszüge durch Hormone geprägt

Da die Autoren davon ausgehen, dass sich aus dem Gesicht mehr ablesen lassen soll, als Menschen vermögen, haben sie diese Hypothese mit einem Computer Vision-Programm und einem Deep-Learning Netzwerk (DNN) getestet. Das künstliche neuronale Netzwerk soll dem Gehirn ähneln, weil es mit vielen Zwischenlagen zwischen Eingangs- und Ausgangsschicht in dem Fall visuelle Erkennung lernt und damit große, vielschichtige Netzwerke von verbundenen Neuronen im Neokortex simuliert.

Für den Test wurde die sexuelle Orientierung ausgewählt. Diese sei nämlich eine "intime psycho-demografische Eigenschaft, die nicht leicht von anderen entdeckt wird". Nach Studien schnitten Versuchspersonen dabei nur ein wenig besser ab, als hätten sie sich zufällig entschieden. Eine Studie habe aber gezeigt, dass Schwule und Lesben dabei etwas besser abschneiden zu scheinen als Heterosexuelle. Warum Menschen, wenn das biologisch determiniert sein soll, so schlecht abschneiden, wäre eigentlich evolutionär seltsam, da Menschen ansonsten viel aus Gesichtern und deren Mimik ablesen - und der Blick auf das Gesicht bzw. dessen Abscannen bei Begegnungen auch ganz wichtig ist.

Nach der angeblich weithin akzeptierten pränatalen Hormontheorie (PHT) soll die gleichgeschlechtige Orientierung bei Männern durch Aussetzung von zu wenigen und bei Frauen durch Aussetzung von zu vielen androgenen Hormonen im Uterus festgelegt werden. Und weil die androgenen Hormone auch für die Geschlechterunterschiede im Gesicht verantwortlich seien, müssten Schwule mehr weibliche und Lesben mehr männliche Gesichtszüge als Heterosexuelle haben. Also hätten schwule Männer kleinere Kiefer und Kinne, längere Nasen und eine größere Stirn, während dies bei Lesben andersherum sein sollte. Und weil die Hormone auch das Verhalten bestimmen, würden Homosexuelle auch etwa eine geschlechtsspezifische Mimik besitzen und sich entsprechend verschönern, was durch die Gay-Kultur noch verstärkt werden könnte.

Bislang sei diese (biologistische) Annahme der Gesichtsunterschiede aber von Untersuchungen nicht wirklich bestätigt worden. Das könne an den Versuchen mit zu wenigen Bildern im Vergleich liegen oder darin begründet sein, dass Homosexuelle, die oft diskriminiert und in manchen Ländern auch verfolgt werden, gelernt hätten zu kontrollieren, wem sie ihre sexuelle Orientierung kenntlich machen. Bei dieser Annahme müssten sie allerdings in der Lage sein, die von den Autoren angenommene Prägung der Gesichter zu "überschreiben" oder zu verbergen.

Künstliche Intelligenz soll Merkmale aus Gesichtern besser als Menschen ablesen

Im Grunde haben die Wissenschaftler das künstliche neuronale Netzwerk zunächst mit einem Set an Gesichtsbildern trainiert, die dabei 4000 Punkte in den Gesichtern berücksichtigt. Dann wurde es mit über 300.000 Fotos von mehr als 36.000 Männern und 38.000 Frauen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren aus Datingbörsen gefüttert, damit es anhand der erworbenen Unterschiede lernt, die sexuelle Orientierung aus dem Gesicht abzulesen. Es waren etwa gleich viele homo- und heterosexuelle Menschen, wobei die sexuelle Orientierung nach dem gesuchten Partner festgelegt wurde. Da nur Bilder von weißen Amerikanern und Amerikanerinnen in einem bestimmten Alter verwendet wurden, ist die Aussagekraft des Tests von vorneherein eingeschränkt.

Die Trefferquote bei der Erkennung des Homosexuellen lag, wenn es um die Auswahl zwischen einem homo- und einem heterosexuellen Mann ging, bei 81 Prozent, wenn von der Person nur ein Foto vorlag. Gab es von beiden 5 Gesichtsfotos soll die Trefferquote auf 91 Prozent gestiegen sein. Bei Frauen lag sie mit 71 bzw. 83 Prozent niedriger. Getestet wurde der trainierte Algorithmus dann auch an Bildern von Facebook-Seiten, wo es eine vergleichbare Trefferquote von 74 Prozent gab, woraus die Wissenschaftler schließen, dass Gesichter von Homosexuelle auch in verschiedenen Kontexten erkennt werden können. In einem Versuch wurden Menschen eine Auswahl der Fotos von jeweils einer homo- und einer heterosexuellen Person vorgelegt, deren Trefferquote bei Männern bei 0,61 und bei Frauen bei .54 lag.

Bei der Klassifizierung waren bei Männern Nase, Augen, Augenbrauen, Wangen, Haarkontur und Haut am wichtigsten, bei den Frauen die Nase, die Mundwinkel, die Haare und der Halsausschnitt. Angeblich hatte schwule Männer längere Nasen, schmalere Kiefer und eine größere Stirn als heterosexuelle. Geschlechtsspezifisch atypisch sei auch, dass sie weniger Gesichtshaare und eine hellere Gesichtshaut haben sollen. Und die lesbischen Frauen sollen eher eine kleinere Stirn und dunklere Haare haben, sie würden sich auch weniger schminken und stärker geschlossene Kleidung, erkenntlich am Halsausschnitt, tragen. Auch an der Gesichtskontur ließe sich die sexuelle Orientierung ablesen.

Daraus ziehen die Wissenschaftler das Ergebnis, dass Gesichter mehr zeigen, als wir Menschen erkennen können, dass KI-Programme also die sexuelle Orientierung von Gesichtern ablesen können. Das wäre eine starke Bestätigung der pränatalen Hormontheorie. Neben den angeblich hormonell festgelegten Gesichtszügen gebe es andere Merkmale, bei denen sich Natur und Kultur durchdringen. So könnte nach Ansicht der Wissenschaftler die angeblich geringere Zahl der Bartträger bei den schwulen Männern auf die geringere Gesichtsbehaarung oder auf die herrschende Mode oder vielleicht auch auf Ernährung oder allgemein den Lebensstil zurückzuführen sein.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich auch andere psychologische Merkmale, Vorlieben und Verhaltensprägungen aus Gesichtern ablesen lassen, obgleich sie natürlich warnen, aus ihren Erkenntnissen nicht den Schluss zu ziehen, dass alle schwulen Männer stärker weibliche Gesichter haben müssen. Und sie heben hervor, dass ihre Ergebnisse auch nicht bedeuten, dass die sexuelle Orientierung von Gesichtern festgelegt werden kann (was sie natürlich trotzdem suggerieren). Tatsächlich steigt durch die Versuchsanordnung, wie sie einräumen, die Trefferquote, weil in der Gesellschaft nicht genau so viele homo- und heterosexuelle Menschen leben. Würden nicht nur zwischen den Gesichtern von zwei Menschen unterschieden werden, sondern etwa bei 100 Fotos zwischen 6-7 von Homosexuellen und dem Rest von Heterosexuellen. So wären unter den 100 Männern aus 1000, die am wahrscheinlichsten als schwul klassifiziert wurden, nur 47 wirklich schwul gewesen. Die in den Tests erreichte Genauigkeit ließe sich aber weiter erhöhen, sind sie sich sicher, wenn man mehr Bildern von einer Person mit höherer Auflösung als Trainingssetz und leistungsfähigere DNN-Algorithmen einsetzt.

Natürlich wird am Ende noch gewarnt, dass Versuche wie die ihren, aus Gesichtsbildern etwa im Internet, von Überwachungskameras oder aus Ausweisen, die sexuelle Orientierung (oder andere Eigenschaften) abzulesen, auf vielfaches Interesse bei Behörden oder Unternehmen stoßen könne. Durch ihre Forschung wollen sie angeblich die Menschen vor den Risiken warnen, die auf sie zukommen könnten. Sie selbst hätten nur vorhandene Mittel eingesetzt und öffentlich zugängliche Daten, die Personen, deren Fotos verwendet wurden, sind jedoch ebenfalls nicht gefragt worden. Die Digitalisierung und die Entwicklung der KI bedrohe zunehmend die Privatheit und Intimität der Menschen, hier ihrer sexuellen Orientierung.

Sie hoffen, schreiben die Wissenschaftler, dass ihre Erkenntnisse die homosexuelle Gemeinschaft dazu anregt, Techniken zu entwickeln und politische Lösungen durchzusetzen, um die daraus entstehenden Risiken für Homosexuelle auf der ganzen Welt zu reduzieren. Man habe in diesem Sinne die Ergebnisse an einige LGBTQ- Organisationen weiter gegeben. Das alles klingt scheinheilig.

Denkbar wäre natürlich auch, dass Partner sich gegenseitig testen, was sie "wirklich" sind, dass Jugendliche, die unsicher sind, so ihre Orientierung finden oder bestätigen wollen, oder dass in Ländern, in denen Homosexualität verboten ist, nach Homosexuellen gefahndet wird. Geheimdienste oder Kriminelle könnten schauen, wer vielleicht leichter erpressbar oder verführbar sein könnte. Der Economist legte seiner aktuellen Titelstory und seinem Cover die Studie unter dem Titel "Nowhere to hide" und dem Zusatz "Leben im Zeitalter der Gesichtserkennung" zugrunde.