Die Politik des Essens: Sie sind glücklich und die Welt ist schön

Seite 2: Wer mehr wissen will als andere, muss mehr hingucken und lernen

Dodin Bouffant ist ein in ganz Frankreich berühmter Künstler. Ein Chefkoch, er kocht für Prinzen und Könige, am liebsten aber für seine Freunde.

Bouffants Fans bewundern ihn als den "Napoléon der Kochkunst", er selbst verbindet Bescheidenheit mit Selbstbewusstsein, er ist konsequent und kompromisslos, aber er predigt nicht, sondern zeigt einfach seine Kunst, indem er kocht – gemeinsam mit seiner von Juliette Binoche gespielten Köchin Eugenie, mit der ihn ein sehr vertrautes Verhältnis verbindet, mit seiner Gehilfin Violette und mit der jungen Pauline, die ein außergewöhnliches Talent hat.

Bild: © Stéphanie Branchu, Curiosa Films, Gaumont, France 2 Cinéma

Dodin Bouffant erkennt dies und nimmt Pauline unter seine Fittiche. Er eröffnet ihr eine neue Welt – das Leben als Schule des Geschmacks. Das Verhältnis zwischen Dodin und Pauline ist ein von gegenseitigem Respekt und Bewunderung getragene Lehrer-Lieblingschülerin-Verhältnis, in das sich auch Vater-Tochter-Atmosphären mischen – und womöglich noch anderes, Zukünftiges. Denn wer weiß?

Vielleicht wird Pauline zehn Jahre später auch seine Geliebte, oder doch Adèle, von der wir erst gegen Ende hören. Kochen und Essen sind jedenfall hier immer erotisch aufgeladen – dieses Verhältnis ist das eigentlich interessante dieses Films, sehr viel interessanter, als das zwischen Dodin und seiner Köchin Eugenie.

Pauline hat beim ersten Bissen von "Baked Alaska" fast geweint. "Baked Alaska" heißen auf Französisch "Omelette Norwegiennes". Sie hat geweint vor Glück, dem Glück des Genusses.

Nietzsche wusste es:

Allgenügsamkeit, die alles zu schmecken weiß, das ist nicht der beste Geschmack. Ich ehre die widerspenstigen, wählerischen Zungen und Mägen, welche "Ich" und "Ja" und "Nein" sagen lernten.

Wer mehr wissen will als andere, muss zuhören, hinschauen und lernen.

Zivilisation ist das Gegenteil von Zweckgerichtetheit

Auf ganz beiläufige Art beginnt man zu verstehen: Geschmacksschulung, Geschmackstraining – erst das ist Zivilisation.

Zivilisation ist das Gegenteil von zweckgerichtetem Essen. Es geht beim Essen nicht darum, ein besserer Mensch zu werden; es geht auch nicht um Gesundheit, und auch nicht um Ernährung, und reine Sattwerden. All das ist Barbarei. Sondern es geht einzig und allein um Genuss und Stil. Das Gegenteil von Fast Food. Man isst nicht, um satt zu werden.

Dieser Film feiert die keineswegs zwecklose Zwecklosigkeit des Genusses. Er ist eine Feier der Künste, eine Feier des Überflusses und eine Feier der Zwecklosigkeit, die natürlich aus Sicht dieser Menschen keineswegs zwecklos ist.

Das Geschirr ist ebenso wichtig. Es ist Teil des Kunstwerks: das Silberbesteck, die Kristallgläser. Später dann im Speiseraum: Blumen in jeder Ecke, die vielen Kerzenleuchter, vier mindestens, die nur für eine einzige Person angezündet werden, die hier isst.

Keiner denkt an Nachhaltigkeit. Und die, die isst, ist eine Bedienstete. Dieser Film löst auch alle Diskurse um Klassismus und Klassenverhältnisse für einen langen Film-Augenblick ins Nichts auf. Hier sprechen und verhalten sich zwei Menschen tatsächlich auf Augenhöhe, und auch die beiden anderen Dienstmädchen Violette und Pauline sind Teil einer Familie, nichts anderes.

Freiheit geht durch den Magen

Insofern ist dieser Film ein Kunstwerk der Verfremdung: Man sieht eine Welt, in der Menschen ganz anders leben und denken, als wir.

Sie sind glücklich und die Welt ist schön.

Kriterien und Werte werden hier auch genannt: Opulenz und Genauigkeit, Eleganz und Anmut. Es geht den Menschen in diesem Film unausgesprochen und beiläufig, aber unanzweifelbar immer wieder um Genuss, um Opulenz, um Überfluss, um das Zuviel, zugleich um die Lust am Experimentieren, um eine Kontrolle, die mit Kontrollverlust spielt, die die Bereitschaft zum Kontrollverlust mit einbaut.

Eine Kunst, die zu tun hat mit dem Loslassen-können. Dieses Verhältnis zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ist das Entscheidende, hier kommt es auf den Moment an, auf das berühmte "Bauchgefühl", die Intuition.

Insofern ist dies nicht nur ein Film für alle, die gerne Kochen oder dauernd Kochsendungen ansehen. Für die aber sowieso. Freiheit geht durch den Magen. Ein Film für alle und keinen.