Die Schattenseiten der Kunst

Die Tate Gallery lud einen Künstler ein, eine "kritische" Netzkunstarbeit zu machen. Sie bekam mehr Kritik als ihr lieb ist.

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Tate Britain, die Dachorganisation für alle Tate-Galerien, lud den Künstler Graham Harwood ein, eine Netzkunstarbeit für deren Website zu machen. Harwwods Vorschlag war, eine Art "Hack" der offiziellen Tate-Website zu machen. Im Erscheinungsbild würde sie der offiziellen Tate-Site gleichen, doch die Inhalte würden eine andere Sprache sprechen.

Ein "Hack" ist Harwoods Site gewiss nicht geworden. Jegliche gR00RlzwaShere-Mentalität ist hier grundsätzlich abwesend. Graham Harwood hat sich stattdessen in Geschichtsbüchern, Tate-Katalogen und -Archiven auf die Suche nach signifikanten Bits gemacht und diese in einer sorgfältigen Auswahl rekombiniert. Der Künstler irisch-englischer Abstammung, bekannt geworden durch seine CD-ROM-Arbeiten und seine Arbeit mit der Gruppe Mongrel, kultiviert eine tiefsitzende Ablehnung gegenüber den Mechanismen der britischen Klassengesellschaft in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Was ihm besonders anstoßerregend erscheint, ist die Legitimation der Macht durch die Kunst. Deshalb spricht seine Variante der Tate-Geschichte von den Schattenseiten der Kunstgeschichte, von ihren Auslassungen (Missing Links), von den Schicksalen der Übersehenen, Ausgebeuteten, Unterdrückten und bringt diese in einen mehr oder minder konkreten Zusammenhang mit der Tate-Sammlung, Helden der englischen Kunstgeschichte wie Turner oder Gainsborough und der Entstehungsgeschichte der Tate-Galerie selbst.

Turner, modifiziert durch Harwood

In Zeiten wie diesen, wenn sich Netzkunst meist selbstbezüglich und apolitisch mit den Eigenschaften des Netzes beschäftigt und für diese Bequemlichkeit auch noch "kritische" Anerkennung findet, ist ein so zorniger Künstler rar. In seinen Bildcollagen etwa morpht Harwood einen Turner mit toten oder typhuskranken Sklaven, die von ihren Peinigern über Bord geworfen werden. Und in einer Gainsborough-Collage wird dessen Portrait mit den äußeren Zeichen fortgeschrittener Syphilis versehen. Diese Bildsprache wird mit Texten wie dem folgenden kombiniert:

In dieser Sammlung habe ich mit den kaputten Links der Tate-Sammlung zu spielen versucht, habe die Haut von Leuten, die mir nahe stehen, eingepflanzt, Teile der Sammlung durch den Schlamm der Themse gezogen und andere mit relevanten Krankheiten angesteckt. Das ist eine persönliche Antwort auf die kulturellen Haltungen, die mir in der Aura der Sammlung begegnet sind.

Graham Harwood

Eine weitere "Antwort" Harwoods ist die Bezugnahme auf die "top 10 tasty babes". "Tasty babes", geläufige Bezeichnung für die nackten Frauen auf Seite 3 der Sensationspresse wie etwa "The Sun", ist ein recht infamer Hinweis darauf, dass die Nackten der Kunstgeschichte im prüden viktorianischem Zeitalter als Pornographie-Ersatz dienten. Doch Harwood enttäuscht jegliche Erwartungen auf wohlproportionierte weibliche Nacktheit. Eines seiner "tasty babes" zum Beispiel zeigt bloß einen leeren Rahmen und trägt den Titel "Sozialwohnung nach der Privatisierung, 1979 - 2000".

"Sozialwohnung nach der Privatisierung, 1979 - 2000"

Die englische Geschichte kann auf 300 Jahre ungebrochenen "Fortschritts" verweisen, ohne radikale soziale Umwälzungen. Ein Teil dieser "Tradition" ist es, dass Armut als selbstverschuldetes Ergebnis der moralischen Versumpfung der Armen verstanden wurde und in manchen Kreisen immer noch wird. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Armut zum Verbrechen erklärt und Arme wurden in Gefängnisse gesteckt, die schlimmer waren als alle Aufbewahrungsorte für Kriminelle. Der Reichtum der Oberschicht wiederum beruhte auf Imperialismus, Kolonialismus und Ausbeutung von Sklavenarbeit. Auch der Gründer der Tate-Sammlung, der Zuckerfabrikant Henry Tate, profitierte zumindest noch indirekt von den Folgen der Sklaventransporte. Harwood hält seinen Finger unerbittlich in solche schwelenden Wunden und verweist zum Beispiel darauf, dass das englische Wort "patron" Ende des 18.Jahrhuderts zugleich für "Sklavenhalter" und "Kunstgönner" stand. (England begann sich erst dann international gegen Sklaverei zu stellen, als die Exportchancen seiner technologisch überlegenen Textilindustrie von billiger Sklavenarbeit bedroht waren.)

Die Kritik hält nicht in der Vergangenheit an, sondern zieht Parallelen bis hin zur Gegenwart in Blairs "neuem" Großbritannien. "Neu entstehende soziale Eliten scheinen es für notwendig zu halten, ihr "natürliches" Recht auf Reichtum und Privilegien zu legitimieren", sagt Harwood. "Die Form, die uns daran besonders interessiert, ist die Benutzung von Ästhetik, um die gesellschaftliche Positionierung neuer ökonomischer Kräfte zu verhandeln. Die Konstruktion einer britischen, nationalen Kunstsammlung bei Tate [...] ist ein Beispiel für wirtschaftliche Macht, die sich um die Politik der Ästhetik der Macht organisiert."

Das ist nun doch alles scheinbar etwas zu hart für Harwoods Auftraggeber von Tate Britain. Direkter Ansprechpartner innerhalb der Tate-Hierarchie war Researcher Matthew Gansallo. Laut der Zeitung "The Guardian" habe Gansallo gesagt, man sei nun dabei, das Projekt einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und Änderungsvorschläge "in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler" auszuarbeiten. Der markanteste dieser "Vorschläge" ist, vor jeder Verwendung des Wortes "Tate" auf Harwoods Site das Wort "Mongrel" davorzusetzen, damit es auch jedem Betrachter völlig klar ist, dass es sich um eine "mongrelisierte" ("mongrel", engl.: Mischling, Bastard) Fassung der Tate-Site handelt. Davon ist der Künstler, der sich zur Zeit in Australien aufhält, naturgemäß wenig begeistert. Eigentlich hätte die Mongrel-Tate-Site circa gleichzeitig mit der Eröffnung der Tate-Modern-Galerie ans Netz gehen sollen. Weniger als Hack sondern eher als eine Art Schatten- oder Chamäläons-Site hätte sich die Mongrel-Variante jedesmal dann in einem eigenem Fenster öffnen sollen, wenn ein User die offizielle Tate-Site aufruft. Viele User hätten dieses zweite Browser-Fenster wahrscheinlich gar nie bemerkt, da es sich im Hintergrund geöffnet hätte, manche aber schon. Gansallo, der bislang laut Harwood ausgesprochen unterstützend gewesen war und ihm Archivmaterialien zur Verfügung gestellt hatte, scheint von seinen Vorgesetzten bei Tate in die Schranken gewiesen worden zu sein und ob die Mongrel-Tate-Site jemals ans Netz gehen wird, ist derzeit sehr ungewiss.