Die Schweizer möchten ihre Ungleichheit bewahren

In einer Volkabstimmung lehnte eine Mehrheit der Schweizer die Forderung ab, dass die höchsten Gehälter in einem Unternehmen die niedrigsten nicht mehr als um das Zwölffache übersteigen sollen

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Es ist wohl die demokratischste Volksabstimmung, die je in der 200jährigen Geschichte des Kapitalismus abgehalten wurde. Heute durften die Schweizer Eidgenossen darüber abstimmen, ob die höchsten Gehälter die niedrigsten maximal um das Zwölffache übersteigen dürfen (Muss der Chef der Schokoladenfabriken Lindt und Sprüngli 230 Mal mehr verdienen?). Die sogenannte "1:12"-Initiative reiht sich ein in Initiativen zur Kontrolle des städtischen Wohnbaus (Wohngeld vom Vermieter) und die Kontrolle der Managergehälter (Völker, hört die Signale der Eidgenossen!). Einen längeren Jahresurlaub hatten die zu Unrecht als behäbig geltenden Schweizer bereits abgelehnt.

Bild: Heinrich Frei

"Die Schweiz ist sozialistischer als Deutschlands Linke", titelte der Autor bei Telepolis. Daraufhin hat der Zürcher CVP-Vorstand gegen den Zusatz "sozialistisch" einen Leserbrief geschrieben. Die Basler Roche-Milliardenerbin Beatrice Oeri ärgerte sich gar derart über mein Lob ihrer Aktivitäten, dass die ihr gehörende Tageswoche Artikel von mir bis heute nicht veröffentlichen darf.

Aber ich kann nicht anders: Wieder zeigt die Schweiz mit der 1:12-Abstimmung, dass sie selbst skandinavischen Ländern in Sachen Demokratie weit voraus ist. Dass überhaupt über angebliche Privatgüter abgestimmt werden darf, kann als staatsrechtliche Sensation gelten. Im deutschen Grundgesetz gilt das Eigentum als unantastbar. Wer wie viel verdient, wird als eine reine Frage der privaten Vereinbarung zwischen Firmen und deren Führungspersonal angesehen. Tarifautonomie sozusagen.

Die Gleichung hohe Leistung=hoher Verdienst wird seit Jahrzehnten für jede Null in Nadelstreifen vorgebetet. Sie erweckt bei den weniger oder gar erheblich geringer verdienenden Leistungsträgern das unangenehme Gefühl, minderleistende Loser zu sein.

Wenn man etwa an überbezahlte Staats- und Konzernangestellte wie Ron Sommer, Klaus Zumwinkel, Birgit Breuel, Hartmut Mehdorn, Jogi Löw, Jürgen Schrempp und Rüdiger Grube denkt, könnte man der Schweizer Initiative doch erhebliche Sympathien abgewinnen.

Während der Respekt für die Leistung der Höheren und Oberen in den Vereinigten Staaten Grundbestandteil des American Dream ist, in dem suggeriert wird, dass auch du und ich zu ihnen gehören können, gilt in der Schweiz wie in Skandinavien besonders hohes Einkommen als Ausdruck verschobener Maßstäbe.

Dabei träfe die 1:12-Initiative gerade in der Schweiz die Gutverdiener am wenigsten, fangen doch zumindest in Unternehmen und Behörden bereits die untersten Gehälter bei 5.000 Franken monatlich, nicht wie in Deutschland bei 1.600 Franken an. Nach einer Berechnung der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) wären in der Schweiz gerade einmal 4.400 Personen davon betroffen, die über 12 Mal mehr verdienen als die Angestellten mit dem tiefsten Lohn im gleichen Unternehmen. In 96.2% der von KOF untersuchten Firmen liegt der Abstand vom geringsten zum höchsten Gehalt unter 1:8. Der Median der Lohnspreizung liegt sogar nur bei 1:2,2. "In der Tat sind höchst ungleich verteilte Löhne innerhalb einer Unternehmung demnach eine Ausnahmeerscheinung", so der Bericht.

Dennoch lehnten die Schweizer nun die Initiative mit großer Mehrheit ab, wie erste Hochrechnungen zeigen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die als nächstes anstehende Abstimmung für ein bedingungsloses Grundeinkommen ebenfalls abstürzen wird. Die Schweizer möchten sich doch ein gesundes Maß an Ungleichheit bewahren, die ja zugleich die Quelle des selbstbewussten und rotzfrechen Schweizer Bürgertums ist.

Dieses möchte kein Bittsteller beim Staat oder Arbeitgeber sein. Die Eidgenossen erhöhen im Zweifelsfall lieber die Steuern, wenn es darum geht, die Ärmeren abzufedern. Durch die Deckelung der Topgehälter bekommt aber kein Niedrigverdiener mehr - so scheinen die meisten Wähler gedacht zu haben. Eine Sympathiebekundung für Topverdiener ist das dennoch nicht.