Die Stadt, der Turm und die Schrift

Seite 2: Schaut auf die Stadt. Prüft sie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Stadtmauer der Blütezeit Uruks war um 9 km lang. Im Mythos ist sie von Gilgamesch ins Werk gesetzt. Im Epos heißt es:

Schau seine Mauer an, die wie Kupfer strahlt … Berühre die Schwelle, sie ist uralt … Steig auf die Mauer von Uruk, beschreite sie (…) und prüfe das Ziegelwerk.

Die Mauer war durch Halbrundprofile gegliedert. Kunst und Handwerk. Während wir eine Ware möglichst fertig und makellos haben wollen, dachten die Alten von der Herstellung und der Verwendung her. Der Prozess geht in die Beschreibung der Qualität ein, so auch beim größten griechischen Epiker Homer. Möchte er einen Speer beschreiben, so sagt er, der beste Speermacher habe ihn aus einer Esche geschnitten, welche auf felsigem Boden hundert Jahre gewachsen ist."2 Das Davor und Danach, das nie ganz Fertige, gewinnt im heutigen Bauen wieder an Aktualität. Und wenn es um die Szenografie zeitgenössischer Städte geht, sprechen wir - etwas inflationär - vom "Narrativ".

Rekonstruktion einer Tonstiftfassade aus Uruk. Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum / Olaf M. Teßmer

Gilgamesch wird auch mit dem Bau des Eanna-Heilgtums für die Göttin Inanna (Ischtar) in Verbindung gebracht, obwohl sie nach verschmähter Liebe den Himmelsstier auf ihn gehetzt hatte. Liebe und Krieg sind Inannas Metiers. Sie hatte in Uruk und anderen Städten über Jahrtausende die kultische Vorherrschaft inne. Der männliche Stadtgott Anu war sekundär. Das Symbol Inannas war das Schilfringbündel.

Bauen mit Schilf - das bis heute im Irak nicht verlernt worden ist - gehört zur ältesten Vorgeschichte des alten Uruk. Als Muster, gesetzt aus kleinen Tonstiften, hat es sich offensichtlich an den gemauerten Gebäuden erhalten. Obwohl naturalen Ursprungs, wurde auch das Schilfringbündel immer weiter abstrahiert, bis zum Schriftzeichen. Darüber hinaus ist eine Urform auch der europäischen Kunst, die Volute, an ihm ablesbar.

Ein Löwenbezwinger; vermutlich Enkidu, Kampfgefährte von Gilgamesch. Aus dem Palast von Sargon II., 8. Jahrhundert v.Chr. (Louvre). Bild: Tang Lung. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

In der Stadt kreuzen sich der Kosmos und die Welt

Den Stadtgöttern Uruks wurden Zikkurate gewidmet, terrassenförmig gestufte Turmbauten, die in weitläufige Tempelanlagen eingegliedert wurden. Uruk gilt als die Keimzelle der Zikkurate, die in andern Städten wie Ur und Babylon größere Ausmaße annahmen. Die Idee, dass in der Stadt der Kosmos und die Welt sich im Palast der Götter kreuzen, färbte bis ins 20. Jahrhundert ab.

Bruno Taut, der die Einheit von Mensch, Natur und Kosmos suchte und in der östlichen Architektur fand, machte aus der Zikkurat die "Stadtkrone". Das konnte auch ein Volkshaus der Arbeiterpartei sein. So mystisch, wie die Idee ist, so real ist der Kern: die Stadt als Zentrum der Herrschaft, gegründet an der Weltachse. Mit dieser Achse und ihren Ableitungen projizieren sich die himmlischen Herrscher auf die Fläche der Erde. Die Welt kann vermessen und geordnet werden, und die reale Autokratie ist legitimiert.

Eine strenge geometrische Ordnung ist in der Geschichte der Städte meist Wunschdenken geblieben, und sie verträgt sich auch nicht mit dem Mythos, der logische Ordnungen durchschlägt, zeitliche Folgen verdreht und räumliche Grenzen überschreitet. Geheimnisvoll bleibt die Rolle eines Priesterfürsten, der als Relief und Plastik auftaucht, über schützende Kräfte zu verfügen scheint und Inanna Weihegaben wie zum Erntedank darbietet. Auch hütet er Widder ihrer Herde. Im bekanntesten Fund "sitzt" er in einem Topf, der unter einem Tempel gefunden wurde. Wie und warum auch immer er dort hineingekommen ist, üben jedenfalls der Inhalt des Kruges und sein Zerbrechen eine große Faszinationskraft in der Mythengeschichte aus, nicht erst bei Heinrich v. Kleist, sondern schon im Ritus des späten Uruk.

Nicht minder rätselhaft ist die Sage von Sargon, dem Herrscher von Akkad, der Uruk seinem Reich einverleibte (nach 2340 v. Chr.). Seine Mutter gebar ihn heimlich und setzte ihn in einem Weidenkörbchen auf einem Fluss aus. Er wurde zum Liebling Ischtars. Das gleiche Schicksal widerfuhr an anderer Stelle Moses, der zum analytischen Fall für Sigmund Freud wurde. Manche Legende, auch die im Gilgamesch-Epos beschriebene Sintflut, fand Eingang ins Alte Testament. Daran ist die Stadt jedoch nicht zugrunde gegangen. Im wechselnden Kräfteverhältnis der mesopotamischen Stadtstaaten versuchte Uruk mit einer geschmeidigen Verwaltung und der Popularität seiner Kulte sich zu behaupten. Es pulsierte zwischen Ausdehnung und Schrumpfung. Suburbanisierung und Reurbanisierung würden wir es heute nennen. Aber nach den Eroberungszügen Alexanders des Großen dämmerte die hellenistische Kultur herauf, die von Uruk nicht mehr absorbiert werden konnte. Das letzte Keilschriftdokument aus dem Jahre 108 v.Chr. ist eine Klageverzichtserklärung.