Die Stadt, der Turm und die Schrift

Seite 3: Babel oder Jerusalem?

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Spätestens im 6. Jahrhundert v.Chr. hatte Babylon der alten sumerischen Stadt den Rang abgelaufen. Unter Nebukadnezar erreichte die neue Metropole ca. 200.000 Einwohner. Sie war im Verhältnis zur damaligen Weltbevölkerung riesig. Die Architektur - wie das in Berlin gezeigte Ischtar-Tor - wurde monumental.

Aber Megalomanie rächt sich, womit einer der Gründe für den Untergang von Städten angesprochen ist. Eine Zivilisation überhitzt und erschöpft sich. Grob wird in anthropogene und natürliche Faktoren des Niedergangs eingeteilt. Zu letzteren zählen Erdbeben, Vulkanausbrüche und Epidemien. Mehr und mehr von dem, was natürlich wirkt, ist jedoch mit menschlichem Zutun entstanden. In Afrika werden Teile der Bevölkerung durch AIDS dezimiert. Und wer wird heute Klimaverschiebungen als naturgegeben entschuldigen?

Digitale Rekonstruktion: Die Zikkurat für die Göttin Inanna/Ischtar vom Ende des 3. Jahrtausends v.Chr. Bild: artefacts-berlin.de; wissenschaftliches Material: Deutsches Archäologisches Institut

Regionale Klimaveränderungen etwa durch Abholzungen hat es bereits in der Antike gegeben. Flüsse schwellen an und versiegen und Häfen verlanden. Bewässerungssysteme erfüllen nicht mehr ihre Funktion. Das spielte beim Niedergang Babylons hinein, aber auch schon in Groß-Angkor. Die Erosionen sind nicht nur ökologischer Art, sondern auch wirtschaftlich. Die Landwirtschaft konnte sich bei den "Alten" zurückbilden wie in der Neuzeit die Industrie. Sprichwörtlich sind auch Kriege, Plünderungen und Brandschatzungen. Sie vernichten nicht nur Städte, sondern auch umgekehrt. Moskau zerfiel unter der napoleonischen Besatzung, die sich daraufhin von selbst auflöste. Ein gesteigerter Ressourcenverbrauch löst die Exstenzgrundlage auf. Dazu können die Einheimischen beitragen, die in Zeiten des Zerfalls, der in Rom rund gerechnet 1000 Jahre dauerte, sich an den Ruinen bedienten. Schockartig ist dagegen die Explosion des Unsichtbaren im Atomkraftwerk.

Uruk/Warka Grabungsteilnehmer 2. Ausgrabungskampagne 1929/30. Bild: Deutsches Archäologisches Institut, Orient-Abteilung

Strategische, ökologische und wirtschaftliche Gründe einer Ansiedlung sind ebensolche des Verschwindens - und der Neugründung auf versunkenen Mauern. Insofern Städte Geschichte haben, Geschichte schreiben, entziehen sie sich allzu rationaler Planung - wie die Sprache.

Den Verfall mitbedenken

Dem Epos von Aufstieg und Fall kommt (in der Johannes-Offenbarung) die Moral zu Hilfe, um es einleuchtend zu machen. Jerusalem ist gut, Babylon ist schlecht. Jerusalem ist himmlisch und fährt auf die Erde hinab, um die Völker zu erlösen. Babylon ist Hure. Die Stadt stört die natürliche Schöpfung und wird mit Vernichtung bestraft. Sie stört einerseits durch einen sündigen Lebenswandel, andererseits durch den Bau einer Zikkurat. Diese sollte bis zum Himmel reichen, auf "dass wir uns einen Namen machen". Gott verhinderte die Fertigstellung und verwirrte und zerstreute die Sprache der Menschenkinder in die einzelnen Kulturen und Ländersprachen. Wieder ein Anfang, aber kleinteilig.

Der Turm zu Babel, wie Brueghel ihn malte, wird auf die Ruine hin gebaut. Sie ist das Beständigste der Architektur, ist - als Material - vor ihr und nach ihr. Der Verfall wird tunlichst inkorporiert, wird mitbedacht. Über dem Perfekten darf das Defekte, Unfertige nicht weggelassen werden, in der Architektur nicht und in der Gesellschaft nicht. Erst beides zusammen, der Riss im Fundament, ergibt Stadt.3

Zikkurate werden immer wieder entworfen, im 20. Jahrhundert als Sinnbilder des Totalitarismus in Filmen wie Metropolis und Blade Runner. Sind deren Helden nicht anthropomorphe Götter wie Gilgamesch? Aber erst, wenn Stadtnomaden vom Fertigen zum Unfertigen und zurück spielerisch wechseln können, wenn die Räume, auch die Sprachräume, fließend werden, ist das friedliche, wurzelähnliche "Neue Babylon" (Constant) ein wenig näher gerückt. Der Homo ludens bewohnt die Stadt.