Die Unauffindbarkeit des Friedens IV
Warum die Virulenz des Politischen sowohl den Tod des Staates als auch den "Ewigen Frieden" überdauert und "echter Frieden" die Achtung und Anerkennung des Feindes voraussetzt
Die hoffnungsfrohe Erwartung von Humanitaristen, politischen Romantikern und anderen Visionären und Mystikern des Friedens, dass die Ächtung des Krieges auch zu seiner Abschaffung führt, ist ein frommer Wunsch geblieben. Statt Kriege auf ihr notwendiges Maß zu beschränken und weiter (wie im klassischen Völkerrecht) zwischen Krieg und Frieden, sinnvollen und Vernichtungskriegen strikt zu diskriminieren, hat diese Politik der "guten Absichten" allenfalls dazu geführt, eine Reihe von Hemmungen und Hemmnissen des Krieges zu beseitigen.
Seitdem sind nicht nur gewisse Kriege erlaubt: humanitäre, internationale, gerechte; während andere Kriege: heilige, nationale, Eroberungskriege sanktioniert werden. Fortan ist es Staaten, Mächten oder auch Koalitionen möglich, diesen Schwebezustand (Status mixtus) nach Gutdünken in der einen oder anderen Weise auszulegen. Wie in jener bekannten Metapher vom "Stock mit den zwei Enden" können sie denselben bald an dem einen oder an dem anderen Ende anfassen und nach beiden Seiten hin argumentieren.
Um beispielsweise Sanktionen oder Blockaden zu vermeiden, camouflieren sie eindeutige Angriffsaktionen als Repressalien. Oder sie geben Waffengänge als polizeiliche Maßnahme oder mission civilisatrice aus, die ausschließlich der Vorsorge und der eigenen Sicherheit, der Selbstverteidigung und dem Nation-Building, den Menschenrechten oder der Verbreitung von Freiheit und Demokratie dienen.
Alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen [...] ereignen sich sozusagen zweimal: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.
Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Napoleon
Den Frieden mimen
Angesichts derart diffuser Rechtsverhältnisse bleibt abschließend nur noch zu klären, ob die Interventionspolitik in humanitärer Absicht, die Universalisten gern als "Vorgriff auf einen günstigen kosmopolitischen Zustand" (Jürgen Habermas) bezeichnen, Kritiker wiederum als künftige "Weltbürgerkriege" (Carl Schmitt) denunzieren, tatsächlich die einzige und letzte Antwort auf den Tod des ius publicum europaeum ist und sein muss. Gibt es nicht doch noch andere Möglichkeiten und Wege, den "unbedingten Willen zum Frieden", der mittlerweile das Machtstreben von Staaten moralisch kaschiert und die Idee des bellum iustum für weltbürgerliche Zwecke missbraucht, durch einen "echten Frieden" zu begrenzen, der mehr ist als bloßer Nicht-Krieg?
Gewiss wünschen sich die Menschen den Frieden genauso so sehnlichst herbei wie Liebe, Reichtum oder Berühmtsein. "Wir haben das Glück erfunden - sagen die letzten Menschen und blinzeln", spottet bereits Friedrich Nietzsche in "Zarathustras Vorrede" ob all dieser Glückssucher. - "Wir alle wünschen den Frieden", formuliert dagegen Carl Schmitt bitterernst und ohne jeden Ironie noch am Vorabend der Machtergreifung Adolf Hitlers. Um darauf und sogleich die alles entscheidende Frage zu stellen, die damals wie heute lautet: "Wer entscheidet letztlich darüber, was Frieden ist, wer darüber, was Ordnung und Sicherheit ist, wer darüber, was ein erträglicher und unerträglicher Zustand ist."
Blickt man auf die jüngsten Militärkampagnen rund um den Balkan, in Zentralasien oder im Mittleren Osten, so spricht wenig dafür, dass die USA als unilaterale Macht (Der Koloss schwächelt) oder die UN mit ihren 191 Staaten über die politische Standhaftigkeit und das entsprechende Leistungsvermögen verfügen, um diesen ersehnten allgemeinen und globalen Frieden auf gesichertem rechtlichen Grund zu schaffen. Dazu blockieren sie sich gegenseitig allzu häufig und erscheinen damit längst Teil jenes Problems, das sie zu lösen vorgeben.
Auch die jüngst wieder erhobene Forderung nach sofortiger Abschaffung aller Atomwaffen (Ceterum censeo) vermag wenig zu überzeugen. Ein solcher Appell ist, abgesehen von der Irrationalität des Ansinnens an sich, eher ein Zeichen politischer Naivität und Dummheit als ein "Gebot der Vernunft". Ihre Wortführer und Protagonisten verkennen den strategischen Wert und stabilisierenden Charakter (Abschreckung), der in diesen "Vernichtungswaffen" steckt. Würde dem tatsächlich Folge geleistet, würden Nicht-Krieg und Nicht-Frieden noch unsicherer werden. Die Schwelle zum heißen Krieg würde rapide sinken, weil Staaten und Mächte nicht mehr mit jenen ernsten Konsequenzen rechnen müssten, die ein atomarer Angriff nach sicht zieht.
Und mit Petitionen, internationalen Kongressen (Weltfrieden als Vision und politische Strategie) und Protestmärschen lässt sich ein solider und dauerhafter Friede erst recht nicht realisieren. Das hat nicht zuletzt der 15. Februar 2003 gezeigt, den Jürgen Habermas im emotionalen Überschwang gleich zur Geburtsstunde einer kommenden Weltbürgeröffentlichkeit aufgebauscht hat. Dermaßen "den Frieden zu wollen", schreibt Julien Freund zu recht, "heißt überhaupt nicht wollen, heißt nur: einer reinen Idee ehrerbietig sein, [...] heißt, sich einer intellektuellen Abstraktion der Magie überlassen, wo die Zauberer, die Zeremonien, die Riten und das Wunder fehlen."
Wir haben zwar keinen Krieg, wir haben aber auch keinen Frieden
Neville Chamberlain
Unterschiede akzeptieren
Frieden lässt sich weder durch Abrüstung noch durch edle Motive und Tugenden oder durch einen Moralismus der reinen Gesinnung errichten. Er ist kein Akt einer allgemeinen Verbrüderung, sondern vornehmlich die Aufgabe und das Werk der Politik. Frieden zu schließen bedeutet mithin und zuallererst, eine Übereinkunft zwischen Staaten, Bündnissen oder Großräumen auf der Basis einer allgemein anerkannten Rechtsordnung zu treffen und zu finden. Die Verfahren und Regeln, die dabei zur Anwendung kommen, die Strukturen und Institutionen, die dafür in Anspruch genommen werden, müssen keinesfalls der rationalen Reinheit, den normativen Ansprüchen oder den hehren Idealen des postkonventionellen Diskurses entsprechen. Es genügt, wenn sich Staaten, Bündnisse oder Großräume auf sie beziehen, wenn sie Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen, mögliche Folgen ihres Handelns oder Nicht-Handelns bedenken und sich gegenseitig als Vertragspartner anerkennen.
Diese Anerkennung muss zudem auch nicht durch einen Contrat social besiegelt werden, der Staaten auf Gemeinschaftlichkeit, auf Parität oder gegenseitige Hilfe verpflichtet. Reziprozität heißt in diesem Fall nur, dass jeder Staat a) die Souveränität des anderen achtet, ihm b) eine "unabhängige Existenz" zugesteht, wie immer das Regime auch aufgestellt ist oder die politische Doktrin beschaffen sein mag, und c) die Gleichrangigkeit der Staaten hinsichtlich ihrer Rechten und Pflichten, unabhängig ihrer Größe und Stärke, freiwillig akzeptiert.
Dies gilt umso mehr, wenn Staaten, Mächte oder Regime, was Organisation, Kultur oder Ideologie angeht, völlig heterogen sind, sie sich folglich konkurrierend oder gar feindlich zueinander verhalten und sich vielleicht sogar in einem "Kampf um Anerkennung" (Hegel) wähnen. Fehlt diese Gegenseitigkeit und/oder werden diese Unterschiede negiert, kann es keine internationale Ordnung geben, die diesen Namen verdient. Die Erde würde nicht nur einem regellosen Zustand anheim fallen, in denen die Gesetze des Dschungels und das Recht des Stärkeren gelten, sie würde auch, und mehr noch, zur Beute all jener, die glauben, im Besitz der richtigen Werte, der echten Tugenden und der wahren Demokratie zu sein. Die Selbstermächtigung, die die NATO sich im Kosovo im Namen der Moral und Menschheit erteilt hat und die Habermas als "Vorgriff auf jene idealisierte Zukunft" preist, die der "Ewige Frieden" Kants uns verheißt, dürfte genau zu dieser Art von Präzedenzfall gehören.
Wer den Feind nicht anerkennt, liebt nicht den Menschen, sondern nur eine Idee vom Menschen.
Julien Freund
Den Feind achten
Der Wille zum "echten Frieden" schließt folglich den Begriff des Rivalen, des Gegners und des Feindes (hostis iustus) nicht aus, sondern ein. Folgt man Carl Schmitt oder Julien Freund, dann führt allein der Feindbegriff zu festen und geregelten Rechtsformen und Gefäßen, zu sicher bestimmbaren Vorgängen und Erscheinungen, um Krieg und Frieden exakt voneinander zu unterscheiden. Nur wenn dem Anderen und/oder Andersartigen das "Recht auf autonome Existenz" zuerkannt, ihm die Freiheit, sich das Regime zu geben, das er für das passendere hält, nicht beschnitten, und ihm die Aburteilung später als Verbrecher oder Straftäter erspart wird, besteht die berechtigte Chance auf einen "echten Frieden".
Wird der Feind hingegen nicht anerkannt, wird er kriminalisiert oder gar zum "Wiedergänger Hitlers" aufgebauscht, fallen alle geordneten Beziehungen, auf denen ein funktionierendes zwischenstaatliches Recht aufbauen muss, wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und zwar nicht nur, weil es auf einmal nur noch um Personen geht (und nicht mehr um Mächte, Regime und Interessen), die Verbrecher aufgrund der Tatsache werden, dass sie sich im falschen Lager befinden oder einer revolutionären oder totalen Ideologie folgen. Sondern auch und vor allem, weil gegen Unmenschen und ihre Auslöschung der Einsatz aller zur Verfügung stehender Mittel erlaubt ist: Entführungen, Folter, Exekutionen, Flächenbombardements, die Zerstörung der Infrastruktur, der Einsatz von Massenvernichtungswaffen usw.
Es verwundert daher nicht, dass in allen derartigen Fällen der Krieg zu einem "privaten" Feldzug gegen das Böse ausartet, an dessen Ende nur noch die bedingungslose Kapitulation des anderen bleibt, die Unterwerfung des Verlierers unter das Diktat des Siegers. Ein Friedensschluss, der die Kampfhandlungen und damit den Krieg beendet (intentio recta), ist auf dieser Basis nicht mehr möglich. Eric Posner, Rechtsprofessor der Law School in Chicago hat im Online-Magazin openDemocracy die völkerrechtliche Problematik am Beispiel des Prozesses gegen Saddam Hussein nochmals aufgerollt: The politics of Saddam's trial.
Und es verwundert auch nicht, dass es zu Friedensverträgen mit dem Unterlegenen kaum oder gar nicht mehr kommt. Mit wem könnte man auch diesen Frieden schließen, wenn der dazugehörige Partner vorher auf das Nichts reduziert oder durch ein Kriegsgericht abgeurteilt wird? Kein Wunder, dass stattdessen Missionen von Siegern für beendet erklärt (mission accomplished) werden und an die Stelle von Friedensverhandlungen wie einst im Imperium Romanum Statthalter (Kabul) oder genehme oder wohlwollende Regime (Irak) rücken, die den Willen des Siegers sanktionieren und fortschreiben.
Ein Friede, der sich seines Begriffes würdig erweist, bedarf hingegen weiter der Anerkennung des Feindes. Weswegen er sich auch nur auf politischem Wege errichten lässt, durch Verhandlungen zwischen Mächten, die sich gegenseitig als Feinde achten und behandeln. Soll ein Frieden "echt" und von Dauer sein, setzt das die Existenz eines Feindes voraus. Gibt es keine Feindschaften mehr und sind alle Menschen nur noch Brüder und Schwestern, verliert der Friede jeden Sinn und jegliche Bedeutung.
Die Idee, dass der ganze Planet endgültig befriedet ist und nur noch aus lauter Freunden besteht, die ihre Konflikte gemeinschaftlich oder argumentativ lösen, ist eher Ausfluss und Signum eines göttlichen, paradiesischen oder ewigen Friedens. Sie übersieht, dass andere sich womöglich auf den gleichen guten Willen, den gleichen rechten Glauben und die gleichen friedlichen Tugenden berufen, für diese oder diesen mit derselben Ernsthaftigkeit und demselben Mut kämpfen und den anderen zu dieser Einsicht verführen oder zwingen wollen. Und sie übersieht, dass der Friede stets und zu allen Zeiten ein Ausgleich oder Kompromiss zwischen rivalisierenden Ideen und Interessen ist. Weil ihm ein Machtverhältnis zugrunde liegt und er sich darauf stützen muss, kann der Friede nur ein "bewaffneter" sein.
Le combat spirituel est aussi brutal que la bataille d'hommes.
Arthur Rimbaud, Une saison en enfer
Urdramen der Geschichte
Nicht zufällig erinnert das alles an den Gegensatz von Herrn und Sklaven, wie er uns in der "Phänomenologie des Geistes" entgegentritt. Auch bei Hegel (und noch mehr bei Kojève) müssen beide ihre Existenz, und damit sich selbst, in einem "Krieg aller gegen alle" beweisen. Obwohl sie "auf den Tod des anderen" spekulieren, müssen beide Begierden am Schluss am Leben bleiben und miteinander Frieden schließen: Der eine als Herr und Souverän, weil er den Tod am wenigsten scheut; der andere als Knecht oder Sklave, weil er mit einer Kriegslist kalkuliert und das Leben dem Tod vorzieht. Würde der Sieger den Verlierer töten, bliebe ihm die Anerkennung durch den anderen verwehrt.
Wie die Geschichte ausgeht, dürfte leidlich bekannt sein, wobei wir von Nietzsches rasanter Deutung der Urszene, der Entwicklung von Neid, Groll und Missgunst (Ressentiment), mit deren Hilfe der Sklave den Herrn später übertölpelt und in die Knie zwingt, aus Platzgründen absehen müssen. Der Unterlegene verdinglicht sich, er arbeitet sich im Laufe der Zeit aus seiner Knechtschaft heraus; der Verlierer schafft die Produkte, die der Herr verschwendet und sinnlos verausgabt, während der Herr seiner Genusssucht frönt und darin versinkt (Bourgeois).
Schon bald wird dem Herrn jedoch klar, dass er sich in eine "existentielle Sackgasse" manövriert. Er hat zwar sein Leben riskiert, dem Tod "von Angesicht zu Angesicht" ins Auge geblickt, der Preis, den er für seinen Mut und seine "Todesbereitschaft" bekommen hat, die Anerkennung, erweist sich letztlich aber als wert- und nutzlos. Während der Herr fortan auf der Stelle tritt, sich langweilt und sein Dasein fristet, ist der Knecht aufgrund seiner Tätigkeit (Arbeit) zur dynamischen Veränderung und Entwicklung bereit. Ihm gehört nicht nur die Zukunft, er kultiviert und zivilisiert und avanciert so zur geschichtsmächtigen und geschichtsbildenden Kraft, die den Herrn aus seinem Jammertal und Dämmerzustand befreit und die Geschichte der sozialen Kämpfe und Kriege zum Abschluss bringt. Ist der Gegensatz endgültig überwunden, sind alle Begierden erfüllt und ist die Erde befriedet, bricht die Nachgeschichte an.
Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte, das heißt der endgültigen Aufhebung des eigentlichen Menschen oder des freien geschichtlichen Individuums bedeutet [...] das Aufhören des Handelns im eigentlichen Sinn des Wortes. Das heißt: das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen.
Alexandre Kojève
Im Posthistoire übernimmt der Staat die Rolle des Planers und "großen Verwalters" (Dostojewski), währenddessen sich die Menschen wie intelligente Maschinen oder Programme verhalten oder sich bewegen. Ihnen bleibt nur noch, so fährt der Interpret Hegels ein paar Zeilen weiter fort: "die Kunst, die Liebe, das Spiel usw.; kurz, alles, was den Menschen glücklich macht."
Endet bei Kojève die Geschichte damit, dass Russen und Chinesen sich wie reich gewordene Amerikaner gebärden und bald, wie Japaner und Nietzsches "letzter Mensch", nur noch in der Form des "Als ob" leben und den Sonntagsspaziergang zur Alltagsform erheben, bleibt das Freund-Feind Verhältnis von dieser Dialektik unberührt. Hier gibt es weder Gewinner noch Verlierer, weder Sieger noch Besiegte, weder Herrn noch Sklaven; hier muss sich das Selbst stets am Anderen und Andersartigen, "unserer eigenen Frage als Gestalt" (Theodor Däubler), abarbeiten und lernen, mit dem Fremden, Unbekannten und Bedrohlichen, das möglicherweise die eigene Existenz bedroht, zu ko-existieren.
Der absolute Beweis der Freiheit im Kampfe um die Anerkennung ist der Tod.
Hegel, Enzyklopädie
Das Politische als Daseinsform
Weil die Begierden der Menschen aber niemals vollkommen gestillt werden können (Georges Bataille), immer Leerstellen und Reste bleiben, die nach Aufhebung des "Mangels" (Jacques Lacan) verlangen, und der Mensch infolgedessen ein ebenso "gefährliches" und "riskantes" wie höchst "unberechenbares und "dynamisches Wesen" ist (Nietzsches "nicht festgestellte Thier"), ko-existieren sie am besten, wenn es Institutionen gibt, die ihnen Halt, Stabilität und Verhaltenssicherheit geben (Arnold Gehlen), oder wenn sie sich zu Assoziationen und Parteiungen zusammenschließen, zu Gruppen, Verbänden und Gemeinschaften (Carl Schmitt), die von stabiler, aber auch von kontingenter oder mobiler Natur sein können.
Ko-existieren solche konkurrierende Verbindungen innerhalb eines Staates, wird dessen politische und rechtliche Ordnung nicht gefährdet. Werden die Gegensätze indes so stark und intensiv, dass es zum bewaffneten Konflikt kommt, steht das Überleben des Verbandes, der Nation oder des Staates auf dem Spiel. Der "relative Frieden" mündet in den Bürgerkrieg, in den "Kampf aller gegen alle". In der Ukraine ist dieser Umstand vor einem Jahr gerade noch einmal abgewendet worden. Die Regierung hat dem Druck der Straße nachgegeben und Neuwahlen ausgeschrieben. Im Irak könnte dagegen vielleicht ein gegenteiliges Szenario eintreten.
Was für die innerstaatlichen Beziehungen gilt, gilt freilich ebenso für die zwischenstaatlichen und, infolge des Gesetzes von den wachsenden Räumen (Friedrich Ratzel), die wir gemeinhin Globalisierung nennen (Wachsende Räume), erst recht für allen Formen von Bündnissen und Großräumen. Auch hier kann sich die Heterogenität der Staaten und Rassen, Völker und Kulturen, sollten die politischen Spannungen, Energien und Leidenschaften anschwellen und sich als zu groß für die Maße, Formen und Gefäße des internationalen Rechts erweisen, in gewalttätigen Handlungen und Eruptionen Bahn brechen.
Führt laut Kojève die Arbeit des Sklaven langfristig und unvermeidlich zur Konvergenz der Systeme, zu Friede, Freude, Eierkuchen, haben wir es im Freund-Feind-Verhältnis dagegen stets mit brüchigen, aber oft auch antagonistischen Ein- und Ausschlussbeziehungen zu tun, die sich weniger an Kalkülen, Verträgen oder hehren Idealen, Prinzipien und Tugenden orientieren oder messen lassen als an Kräften und Intensitätsgraden, "deren Motive von religiöser, nationaler, wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken".
Das Politische, das seine Spannung, Dynamik und Existenz aus solchen "starken Gefühlen" schöpft, ist mithin kein eigener oder Sonderbereich des Sozialen, sondern eine Daseinsform, die alle Bereiche des menschlichen Lebens, die Religion, die Wirtschaft, die Moral, die Kunst usw. durchzieht und für die politischer Enthusiasmus (Kant) und die Intensität des Konflikts charakteristisch sind. Weil "nichts dieser Konsequenz des Politischen entgehen" kann, schreibt Carl Schmitt im "Begriff des Politischen", eine Intensität laut Pierre Klossowski immer nur den Sinn hat "Intensität zu sein", wäre "eine Welt, in der die Möglichkeit eines solchen Kampfes restlos beseitigt und verschwunden ist, ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre eine Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik."
Eine solche befriedete und indifferente Welt ist ebenso unwahrscheinlich wie undenkbar. Zumindest solange es Menschen in dem uns bekannten Sinn gibt, und die Erde nicht von Automaten und Robotern regiert wird. Weicht ein Volk, eine Nation oder eine Macht zurück, fürchtet es die Mühen, die Gefahr und das Risiko der politischen Existenz, wird sich womöglich rasch ein anderes Volk, eine andere Nation oder eine andere Macht finden, die ihm das sofort abnimmt und den Schutz, die Sicherheit und die Herrschaft übernimmt. Bringen sie diese Kraft und diesen Willen nicht mehr auf, und vertrauen sie allein auf "die besänftigende Wirkung des Handels" (Robert Kagan), das "ewige Gespräch" (Jürgen Habermas) oder die Wohltaten "des Konsumismus" (Norbert Bolz), verschwindet allenfalls dieses Volk, diese Nation oder diese Macht, aber nicht das Politische.
Finden für Kojève das Nehmen seit Napoleon und der "Lärm der Schlacht" von Jena ihr Ende, symbolisiert durch den "Cowboy-Hut Molotows", ist es für Carl Schmitt mit dem Befehden und "Messen der Kräfte" noch lange nicht vorbei. Geht es für ersteren nur noch ums Produzieren ("Weiden"), Teilen und Geben ("gebender Kapitalismus"), um Ausgleich der Einkommen und um Anheben rückständiger Kulturen und Staaten auf das Niveau der wohlhabenden, sagt letzterer weitere "künftige politisch-militärische Auseinandersetzungen" voraus, die unter dem Vorwand der Herstellung freiheitlicher und demokratischer Verhältnisse in ungehegten Gebieten sich der Bestrafung (Strafkrieg), dem Nehmen (ökonomische Expansion), dem "Ausweiden" (Ressourcen und Bodenschätze) der Erde und der Vorsorge (geostrategischen Kontrolle) widmen werden.
Und wo alle sich nur noch 'verteidigen' wollen, gibt es keine Geschichte mehr und also keinen Alexander.
Alexandre Kojève
Traditionelle Maße und Gefäße zerfallen
Wem das zu abstrakt ist oder wer die Umsetzung in konkrete macht- und raumpolitische Ordnungen vermisst, braucht sich nur die "kontinentale Drift" zu vergegenwärtigen, die Amerikaner und Europäer erfasst hat und die Robert Kagan so beschreibt: "Bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben Macht in einer anarchischen Hobbesschen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlass ist und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängt", ist Europa dabei, "eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen und Regeln, transnationalen Verhandlungen und internationaler Kooperation, ein posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants 'Ewigen Frieden' gleichkommt", zu betreten.
Mag Kagan mit seiner Beobachtung, die er am Vorabend des Irak-Feldzuges äußert, inzwischen auch etwas schief liegen, weil auch Europa beginnt, sich politisch und militärisch für die "Hobbessche Welt der Gesetzlosigkeit" zu rüsten, so ist andererseits auch klar, dass dem Wildwuchs nur dann völkerrechtlich beizukommen ist, wenn es gelingt, dem Meer der Neutralisierungen und Entpolitisierungen klar bestimmbare Begriffe abzuringen, die sich einerseits mit der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit konfrontieren lassen und andererseits zu eindeutigen Unterscheidungen führen.
Frühzeitig ahnt der Staatsrechtler, dass dem klassischen europäischen Völkerrecht fundamentale Neuordnungen ins Haus stehen und es eines völlig "neuen Raumdenkens" bedarf, wenn die Welt wieder zu stabilen Rechtsverhältnissen kommen will. Zumal sich seit der Öffnung von Horizonten, Grenzen und Märkten (Welthandel, Imperialismus) die Raumvorstellungen, ihre Maße und Maßstäbe entscheidend und unwiderruflich verschoben haben, woran vor allem die "Entfesselung der Technik" (Elektrifizierung, Vernetzung, Globalisierung), weltweite Wanderungsbewegungen und der grenzüberschreitende Verkehr von Waren und Daten, Katastrophen und Epidemien ursächlich beteiligt sind. Technik und freier Weltverkehr unterminieren, im Verbund und als "Medium und Waffe", das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" und setzen der "Epoche der Staatlichkeit" ein jähes Ende. Bitter schreibt Schmitt am 7. Juni 1955 an Kojève, mit dem er sich zumindest in dieser Diagnose einig weiß:
Es ist wahr, dieser sterbende Gott ist tot, daran ist nichts mehr zu ändern. Die heutige, moderne Verwaltungsapparatur der 'Daseins-Vorsorge' ist nicht 'Staat' im Sinne Hegels, nicht 'Regierung' [...] weder eines Krieges noch der Todesstrafe fähig, daher auch nicht mehr geschichtsmächtig.
Formuliert Schmitt unmittelbar nach Ende von WK I noch schneidig: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", heißt es post WK II kurz vor seinem Tod nur noch: "Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt."
Nichts könnte den Zerfall der alten Ordnung und die Herausforderung der neuen besser dokumentieren als die Neuschöpfung seiner wohl berühmtesten Formel, zu der Schmitt sich, wenn wir der Mitteilung seines langjährigen Freundes Ernst Hüsmert trauen, angesichts des drohenden "Krieges der Sterne", der Verteidigungskonzeption der USA, gezwungen sieht.
That state can only be actualized by means of history and at the end of state.
Leo Strauss
Komödie und Farce
Post 1989 ist es mit dem tragischen "Weltbürgerkrieg" keinesfalls vorbei. Pazifisten und Politische Romantiker unterschätzen die Macht der Leidenschaften, die Verhaftetheit der Menschen in der Transzendenz. Die Freiheit zeigt sich letztlich der "List der Vernunft" überlegen, sodass der "ideale Staat" (Platon), der die "anthropologische Not" mindert, Glück, Geborgenheit und den "Ewigen Frieden" bringen soll, in weite Ferne rückt.
Dass künftig statt des "Nehmens" nur noch die Verwaltung und das Organisieren des Weidens auf der Agenda steht; dass wir uns folglich nur noch der "Daseinsvorsorge" widmen werden und fortan nur noch Komödien und Possen (Diplomatie und Ordnung des Rechts) auf dem Spielplan stünden, hat sich, wie Karl Marx schon bemerkt hat, als Farce herausgestellt.
Die Unauffindbarkeit des Friedens.
Wie Pazifismus und Humanitarismus die Negation des Krieges befördern, damit aber zugleich auch den Frieden abschaffen
Die Unauffindbarkeit des Friedens II.
Terror ist die Antwort auf die Fortsetzung des Friedens mit anderen Mitteln
Die Unauffindbarkeit des Friedens III.
Wie und warum im unbedingten Willen zum Frieden, den Universalismus, Humanitarismus und Pazifismus pflegen, der "gerechte Krieg" wiederkehrt.