Die Welt ist in der Ukraine-Frage gespaltener, als sie scheint

Seite 2: Wer beteiligt sich eigentlich an den Sanktionen gegen Russland?

Darum noch ein Blick auf einen zweiten wesentlichen Faktor, der sich nicht in den Abstimmungen der Uno-Generalversammlung widerspiegelt: Wer beteiligt sich eigentlich an den Sanktionen gegen Russland?

Von der Antwort auf diese Frage hängt der Erfolg der Sanktionen wesentlich ab. Und hier erscheint das Bild weitaus eindeutiger zuungunsten der Sanktions-Befürworter und Ukraine-Unterstützer im Westen.

Dem Prinzip der Sanktionen angeschlossen haben sich die Staaten der Europäischen Union, die USA sowie in einer innenpolitisch durchaus umstrittenen Entscheidung die Schweiz. Es sanktionieren auch Kanada, Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea, Taiwan. Die meisten dieser Sanktions-Staaten sind also Satrapen Washingtons.

Wer hingegen nicht sanktioniert, ist das komplette Lateinamerika. Also nicht etwa nur Kuba und Venezuela, von denen man das noch erwartet hätte, sondern alle. Also auch Mexiko, Brasilien, Argentinien, Chile, Uruguay und sogar Länder wie Guatemala, Panama und Puerto Rico, die mehr oder weniger von den USA abhängig sind. Damit sind bereits wesentliche Schlupflöcher und ökonomische "Brückenstaaten" eines kommenden kalten Wirtschaftskriegs benannt.

In Asien sind die Philippinen in einer ähnlichen Brücken-Situation, nicht angeschlossen haben sich aber auch Indonesien, Thailand, Vietnam, Laos, Kambodscha, Indien, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka. Im Nahen und Mittleren Osten bleibt sogar das Nato-Mitglied Türkei und der westlich-demokratische Außenposten Israel unbeteiligt. Ebenso aber auch die angeblichen US-Verbündeten Ägypten und Saudi-Arabien sowie Katar, die VAE und Oman.

Der gesamte afrikanische Kontinent macht über alle Feindschaften, Konflikte und regionalen Rivalitäten bei den Sanktionen nicht mit, also auch viele der Staaten, die für die oben beschriebene Resolution stimmten.

Chancen im Süden durch den Krieg des Nordens

Die Bilanz: Der komplette Globale Süden bleibt bei den Sanktionen außen vor. Diesem Globalen Süden erscheint der Ukraine-Krieg vor allem als ein Krieg, den Staaten des Nordens unter sich austragen - als Luxusproblem reicher Länder und die Ukraine erscheint aus dieser Perspektive keineswegs als ein Staat sympathischer Befreiungskämpfer, sondern als ein weiterer Ausbeuter.

Auch der offene Rassismus breiter europäischer Kreise in der ungleichen Behandlung weißer "kaukasischer" ukrainischer und schwarzer afrikanischer Flüchtlinge führt gerade nicht zu Sympathieboni zugunsten der Ukrainer. Da werden auf emotionaler Ebene schon eher die Ähnlichkeiten zwischen dem Vielvölkerstaat Russland und den ebenfalls ethnisch heterogenen afrikanischen Staaten erkannt.

Hinzu kommen handfeste Interessen: Russland hat sich in letzter Zeit verstärkt auf dem schwarzen Kontinent engagiert. Die Ernährung Afrikas hängt an Russland. Afrika hängt besonders in Bezug auf Getreide von Russland ab. Die Sanktionen des Westens beeinflussen die Lieferwege für Getreide stark und verteuern es um mindestens 30 Prozent. Durch die Sanktionen indizierte Hungerkrisen sind vorprogrammiert: Der Westen verteidigt seine Werte auf Kosten eines Berges afrikanischer Leichen.

Umgekehrt braucht Russland relativ wenig Bodenschätze aus Afrika. China braucht diese weit mehr. Russland ist relativ unabhängig in Bezug auf natürliche Bodenschätze – mit einigen Ausnahmen natürlich. Was Russland wirklich braucht, sind westliche Technologien für seine Industrie. Sowie Ersatzteile für seine alten und altmodischen Industrien. Es braucht die westliche Technik auch, um die eigenen natürlichen Ressourcen auszubeuten. Hierdurch dürften sich Afrika in Zukunft neue Möglichkeiten als Zwischenhändler bei der erwartbaren Sanktionsumgehung eröffnen.

Der Krieg des Nordens könnte dem Globalen Süden mittelbar also sogar neue Chancen eröffnen. Es werden allerdings Chancen der Wirtschaft und der Machtpolitik sein, nicht notwendig auch Chancen der Demokratie.

Jedes finanzpolitische Schwert ist zweischneidig: Alternativen zu Swift

Die wichtigste offene Frage dieses Themenkomplexes, die in diesem Text nicht vertieft werden kann, ist die nach den Zahlungsmodalitäten und Techniken der Finanztransaktion. Nachdem die EU die finanzpolitische "Atombombe" (Friedrich Merz), die Aussetzung des Swift-Verfahrens bereits früh gezündet hat, stellt sich umso dringender die Frage: Welche Alternativen gibt es eigentlich zum Swift-Verfahren? Außer der Möglichkeit, Geschäfte in Cash zu bezahlen oder auf Rohstoffe, Edelmetalle und Edelsteine umzusteigen? Oder gleich zur Tauschwirtschaft zurückzukehren?

In China spricht man verstärkt von CIPS, der Swift-Alternative aus dem Reich der Mitte. Einer der mächtigsten, aber auch unsichersten Kantonisten des westlichen Lagers, Saudi-Arabien "erwägt" laut Financial Times die Forderung Chinas, für sein Öl in Zukunft in Yuan bezahlt zu werden. Das würde die bereits angeschlagene Macht des Dollars weiter untergraben. Sowohl Saudi-Arabien als auch die Vereinigten Arabischen Emirate weigerten sich bereits, den Aufforderungen von Joe Biden nachzukommen, ihre Ölproduktion zu erhöhen – wer solche Freunde hat...

Mit SPFS hat Russland seit knapp zehn Jahren auch sein eigenes System für Finanztransaktionen entwickelt. Zudem sind immer noch längst nicht alle Banken aus dem Swift-Verkehr ausgeschlossen.

Wie gesagt, man sollte realistisch bleiben. Dazu gehört auch, sich klarzumachen, dass der freiwillige Verzicht auf eine Technik automatisch die Nachfrage nach ihren Alternativen stärkt. Jedes finanzpolitische Schwert ist zweischneidig.

Zur Zeit laufe Amerika in Gefahr sich durch seine eigene PR verführen zu lassen warnte die Financial Times in Gestalt ihres Chefkommentators Edward Luce "Es ist nicht das erste Mal, dass der Westen seine eigene Einheit mit einem globalen Konsens verwechselt", so Luce in seinem pointierten Text.

Der größte Teil der Welt steht jedoch abseits und wartet ab, in welche Richtung es geht.

Edward Luce, FT

Vielen Staaten und ihrer Bevölkerung gehe der Westen mit seiner Doppelmoral und der Neigung, im Reich der Werte die unangefochtene Führerschaft zu beanspruchen, vor allem auf die Nerven. Hinzu komme, so Luce, dass gerade die Sanktionspolitik der letzten Wochen auch die Fähigkeit und den Willen des Westens demonstrierten, all jene gnadenlos zu bestrafen, die sich der eigenen Politik nicht fügen.

Luce empfiehlt den Regierungen des Westens, allen voran Washington, anstatt moralisch auf einem hohen Ross zu sitzen, von dem man leicht herunterfallen kann, lieber eine Rückkehr zu "effektiver Diplomatie".

"The West against the Rest"

Fazit: Von einer Isolation Russlands kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Gefahr ist, dass die Ukraine-Krise mittelfristig zu einer Stärkung der bislang politisch schwachen Staaten im Süden und der Feinde des Westens führt.

Sie haben zumindest das eine gemeinsame Interesse, sich gegen den stärksten Konkurrenten zu verbinden, und diesen nicht gewinnen zu lassen. "The West against the Rest" – diese 30 Jahre alte pessimistische Formel von Samuel Huntington erlebt gerade ihre Wiederauferstehung. Im Kampf Davids gegen Goliath heißt der Goliath im Weltmaßstab nicht Russland oder China, sondern USA.