Die Zukunft der Hamas und des Gazastreifens
Interview über die Lage der Hamas und in Gaza mit dem armenischen Nahostexperten und früheren Dozenten an der Diplomatischen Akademie Moskau Dr. Sergei Melkonian.
Israels Premierminister Netanjahu sieht aktuell den "Anfang vom Ende der Hamas". Teilen Sie diese Einschätzung? Kann die Hamas zerstört werden?
Wenn wir die Hamas nur als Organisation mit eigener Infrastruktur, eigenem Personal, eigenem Militär im Gazastreifen sehen, dann könnte das passieren. Wir räumen den Gazastreifen und das war’s. Aber wenn wir die Hamas umfassender betrachten, auch die Struktur außerhalb von Gaza, dann wird sie weiterleben.
Selbst, wenn ein Teil des Politbüros liquidiert wird. Und wenn wir sie auch als Träger einer Ideologie sehen, die sowohl den Widerstand gegen Israel als auch das Bündnis mit dem Iran umfasst, den Anspruch, das Recht der Palästinenser im Kampf um Gerechtigkeit zu vertreten: Das kann man nicht zerstören, indem man die Organisation eliminiert. Es ist also alles eine Frage der Interpretation.
Sie sprechen von der Hamas als Vertreterin im Kampf der Palästinenser. Kann sie jetzt, wo es palästinensische zivile Opfer gibt, noch Sympathien gewinnen? Kann es geschehen, dass sich die Palästinenser jetzt noch mehr radikalisieren?
Derzeit gibt es keine direkten Anzeichen für eine Radikalisierung der palästinensischen Gesellschaft. Aber sie wird entschlossener. Wenn wir diese "vom Fluss bis zum Meer"- Diskussionen und ähnliche Diskussionen sehen, dann sehen wir, wie die palästinensische Gesellschaft strukturiert ist.
Es gibt eine Trennlinie zwischen der Hamas als radikalem Flügel und der Autonomiebehörde, die von Mahmoud Abbas repräsentiert wird, die gemäßigter ist. Für Abbas besteht nun die Gefahr, dass seine Unterstützung schwindet.
Also doch eine Radikalisierung?
Nein, die Gesellschaft ist nur kurzfristig durch die Ereignisse erregt und jetzt nicht für eine moderate Lösung. Wie es mittelfristig weitergeht, steht auf einem anderen Blatt.
Aber es ist klar, dass der Anspruch auf Gerechtigkeit – und das ist ein wichtiger Faktor – hoch sein wird. Es wird Erwartungen geben: Wenn schon keine Bestrafung Israels, dann wenigstens eine sichere Rückkehr der Palästinenser nach Gaza. Oder ein Wiederaufbau der Infrastruktur. Es gibt also schon einen gesellschaftlichen Wandel.
Staaten wie Katar gelten als Geldgeber der Hamas. Glauben Sie, dass sie sich jetzt anderen Projekten zuwenden oder eher versuchen werden, die Hamas wieder aufzubauen?
Fairerweise muss erwähnt werden, dass Katar nicht der einzige Unterstützer der Hamas ist. Auch die Türkei gehört zu den Sponsoren, die materielle, technische und politisch-diplomatische Unterstützung leisten. Es genügt, an das Treffen zwischen Ismail Haniyeh und Erdoğan auf höchster Ebene zu erinnern.
Wir erinnern uns auch daran, dass israelische Grenzsoldaten Sprengstoff und andere Dinge beschlagnahmt haben, die aus der Türkei an die Hamas geschickt worden waren. Außerdem wird die Hamas vom Iran unterstützt.
Insofern sehe ich die Hamas nicht als ein Projekt von Katar, sondern beide eher als Verbündete mit einer gemeinsamen ideologischen Linie.
Bei den Projekten würde ich eher auf die iranische Widerstandsachse in der Region schauen. Dazu gehören neben der Hamas die Huthis im Jemen, dazu gehört die Hisbollah, dazu gehören auch Organisationen im Irak. Diese ganze Achse wird vom Iran unterstützt.
Katar hingegen beschränkt sich auf die Hamas und kann sich wahrscheinlich auf den Wiederaufbau der Infrastruktur im Gazastreifen konzentrieren.
Ist man darüber in Israel mit Katar gesprächsbereit?
Die beiden Staaten, mit denen Israel zu Gesprächen bereit ist, sind Ägypten und Katar. Da die Möglichkeiten Ägyptens für einen Wiederaufbau eher bescheiden sind, wird Katar hier eine aktive Rolle spielen.
Die New York Times berichtet, dass das israelische Militär im Vorfeld von den Angriffsplänen der Hamas auf Israel wusste, diese aber nicht ernst nahm. Ist das aktuelle Aufflammen des Nahostkonflikts auch eine Folge israelischer Fehlentscheidungen?
Die israelischen Sicherheitsorgane, sowohl das Militär als auch der Geheimdienst, warnten die politische Führung des Landes. Die innenpolitische Krise spitzte sich zu. Es kam zu großen Demonstrationen gegen die jüngste Justizreform. Die Behörden wussten, dass damit Sicherheitsrisiken verbunden waren. Man kann also sagen, sie wussten es.
Aber dennoch sehen wir, dass der Chef des israelischen Militärgeheimdienstes zugibt, dass man aus einem Grund übersehen hat, dass die Hamas über neue technische Kommunikationsmittel verfügt. Oder dass man der Hisbollah Priorität eingeräumt hat und nicht der Hamas.
Auch ein Teil der militärischen Führung hat Verantwortung übernommen, es gab Fehlentscheidungen in Israel.
Wo lag der Fehler?
Es war üblich, die Hamas als Teil einer Art palästinensischer Arena zu sehen. Aber nicht als regionale Kraft, die vor Ort viele Herausforderungen und Bedrohungen mit sich bringen kann.
Auch im Westjordanland wird von Unruhen unter den Palästinensern berichtet. Wie stark ist die Hamas dort?
Die Hamas hat dort Ableger. Aber sie ist dort nicht an der Macht und hat auch keine Kandidaten dafür. Aber sie hat ein Programm. Solange Abbas voranging, konnte sie nichts Konkretes anbieten, um den Konflikt mit Israel zu lösen. Sie konnte den dort lebenden Arabern nur eine Ideologie anbieten.
Hätte die Hamas eine führende Position im Westjordanland, könnte sie dort eine zweite Front eröffnen. So aber gelang es ihr nicht einmal, die Straßen in Bewegung zu bringen. Es gab nur sporadische Proteste, teilweise sogar spontan, ohne wirkliche Beteiligung der Hamas.
Hier muss man auch berücksichtigen, dass Israel lokale Operationen in der Westbank durchgeführt hat. Die Bedrohung wurde hier also nicht ignoriert, sondern regelmäßig bekämpft. Deshalb glaube ich nicht an eine zweite Front im Westjordanland – und die Wahrscheinlichkeit dafür ist gering.
Und wie geht es jetzt mit dem Gazastreifen weiter?
Es ist schwierig, die zukünftige Entwicklung vorherzusagen. Es gibt mehrere Szenarien, die wir anhand der verfügbaren Indikatoren skizzieren können.
Es ist offensichtlich, dass Israel eine nicht radikale, aber fast endgültige Lösung des Hamas-Problems anstrebt. Auch die israelische Gesellschaft wird von ihren Entscheidungsträgern eine solche Lösung fordern. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass die USA die Operation als Ganzes weiterhin unterstützen und Hilfe leisten werden, solange sie sich in einem begrenzten Zeitrahmen bewegt.
So verfolgt Israel seine Pläne weiter: die Schaffung einer Pufferzone im nördlichen Teil des Sektors als Sicherheitszone und die Konzentration der Bevölkerung im südlichen Teil. Das maximale Ziel ist die Rückkehr zur Situation von 2005, als Israel den gesamten Gazastreifen kontrollierte.
Die Lebensbedingungen für die Bevölkerung dort sind jedoch auch nach UN-Angaben gegenwärtig unzumutbar. Ein Überleben ist dort unmöglich. Es müsste investiert werden, in die Infrastruktur, in Reparaturen und so weiter. Deshalb ist geplant, den Gazastreifen so weit wie möglich zu "säubern", die Zahl der dort lebenden Menschen zu reduzieren oder sogar alle umzusiedeln.
Mit "Säuberung" meine ich eine Umsiedlung in die an den Sektor angrenzende Sinai-Wüste, sodass sie unter ägyptischem Protektorat leben.
Werden sie in Ägypten bleiben?
Sicher wird ein Teil der Menschen dort bleiben. Ein Teil wird auswandern, der Gazastreifen wird verbrannte Erde sein. Im Norden wird niemand mehr leben.
Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass der Sektor in einer Weise unter internationale Kontrolle gestellt wird, weder unter die der UNO noch unter die der Palästinensischen Autonomiebehörde. Er wird de facto unter israelischer Kontrolle stehen.
Kurzfristig wird auch der Norden des Gazastreifens von Israel besetzt bleiben. Im Süden wird es eine humanitäre Krise geben. Das ist die ungefähre Zukunft.
Herr Melkonian, danke für das Gespräch.
Dr. Sergei Melkonian ist Research Fellow am Applied Policy Research Institute von Armenien in Jerewan und Experte für die russische Nahostpolitik. Zuvor war er Israel- Experte und Dozent an der Diplomatischen Akademie in Moskau.
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