Die Zusammenarbeit von Türkei und IS

Ausweiskontrolle an einem Checkpoint in Syrien (der SDF, bei Rakka). Bild: US-Armee/gemeinfrei

Absprachen zwischen dem türkischen Geheimdienst (MIT) und dem IS zum Grenzübertritt und der Behandlung verletzter IS-Kämpfer

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit dem Sieg über den IS in Syrien kommen immer mehr Details über die Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS ans Tageslicht. Die US-Publikation Washington Examiner zitierte wie andere Medien auch aus einem mehrstündigen Interview, in dem ein hochrangiger IS-Kämpfer Einzelheiten über die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem IS sprach.

Die Detailliertheit seines Berichts ist erstaunlich, er unterstreicht, wie gut sich der IS auf Geschäfte versteht und dass die Türkei dabei eine wichtige Rolle spielte. Riesige Geldmengen sollen nach seinen Aussagen in die Türkei transferiert worden sein, um Waffen, aber vor allem medizinische Geräte zu erhalten.

Ein IS-Emir packt aus

Der marokkanische Elektroingenieur Abu Mansour al-Maghrebi kam laut seiner Berichte 2013 zum IS nach Syrien, war zunächst für die ausländischen Kämpfer an der Grenze zuständig, stieg dann zum IS-Emir auf und fungierte drei Jahre lang quasi als Botschafter für den IS. Er reiste von Casablanca nach Istanbul und über die Südgrenze der Türkei nach Syrien ein. Seine erste Station war Idlib im Nord-Westen Syriens.

"Meine Aufgabe war es, Agenten zu beauftragen, die die ausländischen Kämpfer in der Türkei empfangen", erklärt Abu Mansour al-Maghrebi, der seinen Erzählungen zufolge zur Führungsriege des IS gehörte. Er berichtet von einem Netzwerk, das die ausländischen Kämpfer von Istanbul in die türkischen Grenzstädte zu Syrien wie z.B. Gaziantep, Antakya und Sanliurfa brachten. Zwar ginge es vielen IS-Leuten, die in der Türkei arbeiten, vorrangig ums Geld, berichtet Mansour weiter, aber es gebe auch Einzelpersonen und Gruppen, die ihre "Bay'a" (Treueeid) für den IS abgegeben hätten.

Es gab auch direkte Absprachen zwischen dem türkischen Geheimdienst (MIT) und dem IS zum Grenzübertritt und der Behandlung verletzter IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern. Auch er habe direkte Treffen mit dem MIT gehabt, erklärt Mansour. Nach seinen Aussagen gab es von türkischer Seite Teams vom MIT und vom Militär, die sich regelmäßig mit IS-Mitgliedern trafen. Die meisten Treffen fanden je nach Thematik in der Türkei auf Militärposten oder in den Büros des MIT statt. Manchmal trafen sie sich jede Woche, die meisten Treffen fanden in der Nähe der Grenze statt, einige in Ankara, andere in Gaziantep.

"Ich überquerte die Grenzen und sie ließen mich passieren. Die Türken haben mir immer ein Auto geschickt und ich mich dadurch geschützt. Von unserer Seite waren immer noch zwei bis drei Leute bei mir. Ich war die meiste Zeit für unser Team verantwortlich", berichtet Abu Mansour. Der IS-Vertreter, so gibt er an, traf sich mit hochrangigen Beamten der türkischen Regierung zu Verhandlungen. "Das Thema des gemeinsamen Nutzens ist ein großes Thema", sagt Abu Mansour.

"Mein Job in Raqqa (häufig auch Rakka geschrieben) war die Bearbeitung der internationalen Fälle (...) Mein Arbeitsgebiet war die Beziehung unseres islamischen Staates zum türkischen Geheimdienst (…)" Die meisten ausländischen Kämpfer kamen nach seinen Angaben aus Nordafrika: "Tunis 13.000, 4.000 aus Marokko (...) Ich spreche nur von der Zeit bis 2015", fügt er hinzu. Bis dahin sollen sich ca. 4.000 Europäer dem IS angeschlossen haben. Insgesamt sollen sich in der Zeit von 2014 bis 2015 ca. 35.000 bis 40.000 ausländische Kämpfer dem IS angeschossen haben.

Mansours Angaben scheinen mit den gesammelten Daten über Herkunft und Anzahl der ausländischen Kämpfer übereinzustimmen, bestätigt jedenfalls die US-Publikation Homeland security today in einem Artikel "Über den IS-Botschafter in der Türkei". Zu Anfang sei es sein Job gewesen, die Grenzen zwischen Syrien und der Türkei zu überwachen.

"Ich habe den Empfang (der ausländischen Kämpfer) in Tal Abyad, Aleppo, Idlib und all ihren Grenzen überwacht", antwortet er. Es gab eine Art Einreiseformular, auf dem festgehalten wurde, welche Länder man besucht, welche Ausbildung man absolviert hatte, welche Sprachen man spricht. Die Jobvermittlung erfolgte über ein "Büro für Personalmanagement", je nach Ausbildung. Dort gab es auch eine Abteilung für diejenigen, die "Märtyrer" oder "Schläfer" sein wollten. Die direkte Vermittlung zum Einsatzort erfolgte über eine zentrale Verwaltung in Raqqa.

Einreisende, alleinstehende Frauen wurden direkt nach Raqqa in die Zentren für alleinstehende Frauen geschickt, die verheirateten Frauen wurden zu ihren Männern gebracht. Die Ehepaare lebten in IS-Gästehäusern, bis die Männer in Trainingslagern ihre Scharia-, Militär- und Waffenausbildung beim IS beendet hatten. Die Scharia-Ausbildung ist die IS-Takfir-Ideologie, die den Einsatz von Gewalt gegen sogenannte Ketzer oder Ungläubige, auch gegen z.B. schiitische Muslime, rechtfertigt.

Direkte Kontakte des IS zur Türkei

Mansour wird im Laufe der Zeit für den IS als "Diplomat" immer wichtiger. Nach seinen Ausführungen sei auch ein Treffen mit Erdogan vorgesehen gewesen, zu dem es dann aber doch nicht kam: "Ich war dabei, ihn zu treffen, (...) Einer seiner Geheimdienstler sagte, Erdogan will dich privat sehen. Aber es ist nicht passiert." Die Kontakte zur Türkei hätten hauptsächlich eine koordinierende Funktion gehabt, berichtet Mansour.

Es ging um Diplomatie, bei der beide Seiten profitierten. Für die Türkei war es von Vorteil gewesen, dass der IS sich im Grenzgebiet zur Türkei befand. Die Türkei wollte nicht nur ihre Grenze und die Kurden kontrollieren, sondern ganz Nordsyrien bis nach Mossul. Das sei die islamistische Ideologie von Erdogan, so Mansour. In seinen Treffen mit türkischen Repräsentanten sprachen sie über die Wiederherstellung des Osmanischen Reiches und das Sykes Picot Abkommen, das ursprünglich nach hundert Jahren enden sollte.

Da die Türkei ein NATO-Staat sei und die NATO nicht verärgern könne, so Mansour, beschränke sich die Türkei derzeit darauf, die kurdischen Strukturen zu zerschlagen. Dabei sei der IS für die Türkei hilfreich gewesen und sie habe sich bekanntermaßen gegenüber dem IS erkenntlich gezeigt:

Aufseiten des IS war dies ein großer Gewinn für die Gemeinschaft, weil uns damit der Rücken freigehalten wurde. Wir hatten ungefähr eine 300 Kilometer lange Grenze mit ihnen. Die Türkei ist für uns der Versorgungsweg für Medikamente und Nahrung - es gibt so vieles, das unter dem Etikett "Hilfe" hereinkommen kann. Die Tore standen weit offen.

Abu Mansour

Die Versorgung mit Waffen aus der Türkei war nach den Ausführungen Mansours offensichtlich nicht so wichtig, denn sie bezogen Waffen aus verschiedensten Quellen. Zum Beispiel von der Freien Syrischen Armee (FSA), die in Afrin und den anderen türkisch besetzten Gebieten mit der Türkei assoziiert ist und von ihr die Waffen bezieht. Regierungsfeindliche syrische Gruppen, die Mafia - sie alle scheinen den IS mit Waffen versorgt zu haben, schenkt man Mansours Worten Glauben. Die Einnahmen aus Ölverkäufen, die zum Teil mehr als 14 Millionen Dollar pro Monat betragen haben sollen, waren mehr als genug, um die Infrastruktur des IS und die Waffen zu finanzieren.

Trotzdem soll die Türkei nach Informationen des IS-Kaders manchmal für bestimmte Operationen mehrere Millionen Dollar beigesteuert haben. Die Hauptunterstützung der Türkei für den IS scheint jedoch die meist kostenlose Versorgung der verletzten IS-Kämpfer gewesen zu sein, die Mansour mit den türkischen Behörden aushandelte. Telepolis berichtete darüber, dass es in grenznahen Krankenhäusern eigens für verletzte IS-Kämpfer separate Abteilungen gab, die von der Tochter Erdogans unterhalten wurden. Diese Informationen erlangten angesichts der Kommunalwahlen in der Türkei neue Brisanz.

Wir handelten aus, dass wir unsere Kämpfer in die türkischen Krankenhäuser bringen konnten. Es gab Erleichterungen - sie schauten sich die Pässe nicht an. Es war immer offen. Wenn wir einen Ambulanzwagen hatten, könnten wir ohne jede Frage über die Grenze. Das konnten wir an vielen Stellen. Sie fragten uns nicht nach Identitätsausweisen. Wir mussten sie nur vorab informieren.

Abu Mansour

Wie das alles genau von statten ging, erklärte Mansour so:

Wenn jemand verwundet wurde, dann wurde er in einem syrischen Krankenhaus aufgenommen und dieses Krankenhaus ließ ihn dann zur Grenze bringen. Auf der türkischen Seite warteten Ambulanz-Fahrzeuge auf die Person. Es gibt Ärzte, die Baschar al-Assad nicht ausstehen können. Sie haben unsere Männer verarztet. Der türkische Geheimdienst (MIT) wurde über jede kritische Situation informiert und von dort wurde veranlasst, dass Krankenwagen an die Grenze kamen. Es gab auch Krankenhäuser in Grenznähe. Diejenigen, die Intensivbehandlung brauchten, wurden dort behandelt. Der MIT schickte die anderen an Orte, die in der ganzen Türkei verteilt waren, je nach dem, was ihnen fehlte. Es gab Ärzte, türkische wie syrische, die sehr daran interessiert waren zu helfen. Wenn es also keine Einrichtungen gab, um unseren Leuten zu helfen, dann wurden sie weiter hinein in die Türkei geschickt.

Abu Mansour

Die Wasser- und Ölpolitik der Türkei und der IS

In dem Interview geht Mansour auch auf die Wasserpolitik der Türkei ein. Seine Ausführungen decken sich mit den Berichten aus der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Demnach gab es ein Abkommen zwischen der Türkei und Syrien, 400 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zu liefern. Mit Beginn des Bürgerkriegs reduzierte die Türkei die Wasserzufuhr auf 150 Kubikmeter pro Sekunde.

Davon waren in erster Linie die Bauern und die Stromversorgung in Nordsyrien betroffen, aber auch der IS in seinen besetzten Gebieten. Er verhandelte mit der Türkei und der Zufluss wurde wieder auf 400 Kubikmeter erhöht. Offensichtlich setzte der IS die Türkei mit möglichen Angriffen in der Türkei unter Druck. Mansour sprach davon, die Türken hätten verstanden, dass sie "weder Freund noch Feind" seien.

Der Ölverkauf in die Türkei florierte nach den Aussagen Mansours, denn der größte Teil des syrischen Öls ging in die Türkei. Er bestätigte, dass Erdogans Sohn in die Ölgeschäfte involviert war, dies geschah allerdings über Mittelsmänner. Es gab auch Ölverkäufe an die syrische Regierung, teilweise durch vorhandene Pipelines, teilweise durch Lastwagen.

Mosul - der türkische Deal

Als der IS 2014 die Stadt Mossul im Nordirak eroberte, wurde der türkische Konsul mit seinen Mitarbeitern vom IS entführt. Nach den Ausführungen Mansours gestaltet sich die Geschichte ganz anders. Die Einnahme Mossuls sei keine Überraschungseroberung gewesen, erläutert er. Es dauerte viele Tage, aber der türkische Konsul wie auch viele türkische LKW-Fahrer seien geblieben.

Mansours Theorie läuft darauf hinaus, dass es die Order aus Ankara gab, Mossul nicht zu verlassen. Die Überraschung der Aussagen ist nicht, dass die Mitarbeiter des türkischen Konsuls gegen 500 Gefangene aus der Türkei entlassen wurden, sondern dass diese zum IS zurückkehrten. Soviel zur Loyalität der türkischen Staatsbeamten.

Das Doppelspiel der Türkei mit dem Westen

Laut Abu Mansour versuchte die Türkei 2014, ein Doppelspiel mit dem Westen zu spielen: Sie ließen ausländische Kämpfer in Syrien zu, versuchten aber, es so aussehen zu lassen, als würden sie Maßnahmen gegen den IS ergreifen. "Die Türkei wollte es ausländischen Kämpfern leicht machen, die Grenzen zu überschreiten", erklärt Abu Mansour.

Türkische Kontaktleute gaben ihm damals klare Anweisungen: Zum Beispiel, nicht mit einer Gruppe über die Grenze zu kommen, nur bestimmte Grenzübergänge zu verwenden, nicht mit langen Bärten aufzutreten, damit alles möglichst unscheinbar bleibt. Europäer sollten äußerlich möglichst angepasst sein.

Zu den IS-Anschlägen in der Türkei sagte Mansour, teilweise seien sie von Raqqa (Rakka) aus gesteuert gewesen. Aber viele Befehle kamen von MIT-Mitarbeitern, die innerhalb des IS arbeiteten. Sie wollten, dass Erdogan seine Armee benutzt, um Syrien anzugreifen. Hört sich nach Verschwörungstheorie an, aber Mansour bestand im Interview darauf, dass er in seiner Zeit als Häftling der YPG in Syrien gehört hatte, dass die türkische Regierung 40 Personen aus ihrem Sicherheitsapparat getötet hatte.

Die stumme, ergebene deutsche Regierung

Die SDF hissten am 23.3. 2019 in Baghouz die Fahne der Demokratischen Föderation Nord- und Ost-Syriens. Der IS ist in Syrien besiegt. 11.000 kurdische, arabische und assyrische Soldaten und Soldatinnen der SDF haben in diesem Kampf ihr Leben gelassen, 30.000 wurden verletzt. Die Selbstverwaltung steht vor immensen Problemen im Umgang und der Versorgung mit den Zehntausenden Islamisten in den Flüchtlingslagern. Internationale Hilfe ist nach wie vor nicht in Sicht.

Weltweit wurde dieser Einsatz, besonders der Kurden und Kurdinnen gewürdigt. Peinlich für Deutschlands Außenminister Heiko Maas, der es mit Blick auf die Türkei nicht über die Lippen brachte, die Kurden auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Stattdessen bejubelt er in einem Tweet die angebliche internationale Zusammenarbeit, zu der Deutschland beigetragen haben soll.

Dabei ist Deutschland neben der Türkei das Land, das die Unterstützer und Unterstützerinnen der SDF kriminalisiert durch Anklagen wegen des Zeigens der YPG/YPJ-Fahnen, durch die Beschlagnahmung und Schließung des kurdisch-deutschen Mesopotamien-Buchverlages, der Beschlagnahmung eines kurdischen Musikarchives, das in mühsamer Arbeit über 30 Jahre kurdische Lieder aus aller Welt gesammelt hatte.

Sigmar Gabriel hatte im Januar 2018 dem türkischen Außenminister Cavusoglu in seiner Privatwohnung vor Photographen den Tee serviert, was ihm viel Spott als "Teejunge" einbrachte. Jeder, der die kulturellen Gepflogenheiten in der Türkei kennt, weiß, dass dies eine Geste der Unterwürfigkeit war - die auch entsprechend in der Türkei gefeiert wurde. Heiko Maas scheint in die gleichen Fußstapfen zu treten. Kürzlich kritisierte er die völkerrechtswidrige Annexion der Golanhöhen durch Israel, aber bis heute hat sich die Bundesregierung nicht zu dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei im kurdischen Afrin im Nordwesten Syriens geäußert.