Die dunklen Saiten der Seele

40 Jahre Musik der Rolling Stones

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Seit 40 Jahren gibt es die Rolling Stones. Diese hatten sich damals frech nach einem amerikanischen Blues-Klassiker benannt und damit ein künftiges Erfolgsrezept vorgegeben. Afroamerikanische Musik wird nach England importiert und dort von Kunststudenten in eine für Weiße massentaugliche Version moduliert. Die Stones sind heute künstlerisch/musikalisch praktisch bedeutungslos, wie Mick Jaggers letztes Solo-Album "Goddess in the Doorway" leider wieder deutlich macht. Doch die Songs, die sie in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Schaffens geschrieben haben, sind von bleibender Faszination für viele. Die britische Rock&Film-Zeitschrift UNCUT hat begleitend zu ihrer Januar-Nummer zwei CDs mit insgesamt über 30 verschiedenen Coverversionen von Stones-Titeln herausgebracht. lieh ihnen sein Ohr und spitzte den Bleistift.

Mick Jagger in jungen Jahren

"Please allow me to introduce myself", spricht konsonantenreich eine osteuropäische Stimme. Man denkt sofort an Bela Lugosi, erwartet die Fortsetzung: "My name is...Dracula!" Doch nein, es ist Laibach, Sloweniens konzertante Rammstein, ein bösartiges ELO, mit der Rock-Schlock-Version von "Sympathy for the Devil." Ja! möchte man ausrufen, wie passend. Man denkt an die Moskauer Mafia, and die desolaten Zustände in ganz Osteuropa, und dieser Song passt dazu wie die Faust aufs Auge: "Anastasia screamed in vain." Schade nur, dass Laibach einfach kein Englisch können, dass sie den Text offenbar kaum verstehen und daher nicht wirklich rüberbringen können. So bleibt ihre Version letzten Endes nur eine Planzeichnung, eine aufwendige Demo für eine spätere, "richtige" Aufnahme.

In diesen Dingen ist Maurice Chevalier das unerreichte Vorbild. Seine frühen amerikanischen Aufnahmen bezeugen, dass er eine ausgezeichnete Yankee-Aussprache erlernt hatte. Den "französischen" Akzent legte er erst später, ganz bewusst und "gekonnt" darüber, als Ausdrucksmittel, um das zu suggerieren, was die Amerikaner sich eben unter einem Franzosen vorstellen. Einen Roué, einen Lebemann, einen Verführer kleiner Mädchen: "Thank Heaven for Little Girls". So müsste das eigentlich auch hier gebracht werden, mit einem kunstvoll eingesetzten Ost-Akzent, bei verständlichem Englisch.

Immerhin aber haben Laibach mit dieser Version den alten Stones-Song, der schon so oft totgeprügelt worden ist, wieder mit frischem Leben erfüllt. Die etwas dusselige Primaner-Lyrik macht auf einmal wieder richtig Sinn, und der Song erweist sich als perfekte Bühnen-Nummer aus einem Rock-Musical, das es freilich noch nicht gibt. Die "Rocky Horror Show" kommt von dort her, aber die Transen-Farce ist doch leicht-gewichtiger. Die Songs der Stones bieten den Soundtrack zu einem anderen Stück. Wer weiß, wer es schreiben könnte?

Brian Jones

Stones gegen den Strich gebürstet

40 Jahre ist die "alte Firma" des Rock nun also schon im Geschäft, und die britische Rock & Film-Zeitschrift UNCUT hat dazu eine Januar-Nummer mit zwei verschiedenen Titelbildern und zwei CDs mit insgesamt über 30 verschiedenen Stones-Covers herausgebracht, die in den nächsten Monaten in unzähligen selbtsgebrannten Kopien zirkulieren dürften. Nicht alle Versionen überzeugen ähnlich wie Laibach, doch sind es genug, um jeden Stones-Fan voll zufrieden zu stellen.

Cat Power, eine junge Dame aus Atlanta, mit richtigem Namen Chan Marshall, schlägt einfache Akkorde auf der Gitarre an, ist es "House of the Rising Sun" oder "Love in Vain?" Nein, es sind die Verse, die immer untergehen, jetzt einmal langsam, fast elegisch gesungen. Das ist nicht Weltschmerz, es ist Ennui, Überdruss an allem. Und der Refrain, den ohnehin schon keiner mehr hören kann, kommt einfach gar nicht drin vor. Unendlich müde wird der Song dann einfach beiseite gelegt. Sicher die beste Version von "Satisfaction", die ich seit langem gehört habe, eine richtige Neuerfindung, die man so oder ähnlich auf "Stripped" oder "No Security" sich auch von den Stones selber gewünscht hätte.

Wirklich schön sind ebenfalls die völlig schrägen, gegen den Strich gebürsteten, nahezu "falsch" gesungenen Versionen von "Cocksucker Blues" (von den Silver Jews) und "Mother's Little Helper" (von Johnny Dowd). Auch Ryan Adams und Beth Orton gelingt eine ganz neue Sicht auf "Brown Sugar", als wäre es ein Song von Randy Newman, circa aus "Sail Away", und der an sich unsägliche Text erwirbt fast ein zelebratorisches Pathos, das einen ganz vergessen lässt, dass auch dieser Song, wie so oft bei Mick Jagger, ursprünglich wohl nur einer eitlen Selbstbespiegelung entstammte. ("Jaggery" ist eine Form von "braunem Zucker.")

Bad Boys machen Faxen vor dem Foto des Präsidenten

Am wenigsten gelungen scheint mir Luther Allison's Blues-Fassung von "You Can't Always Get What You Want". Dieser Song stammt ursprünglich von "Paint It, Blue", einer für meinen Geschmack ohnehin nur als Hintergrundmusik für Kneipen verwertbaren Sammlung von Stones-Covern von praktizierenden Blues Musikern. Der einzige überzeugende Song auf jener Platte war die nun allerdings superfeine, weil völlig reduzierte Version, einzig zur Begleitung einer Dobro gesungen, von "Honky Tonk Women", und stammte von Taj Mahal, der dann leider als Gast bei den Stones selber, auf "No Security", nur eine triste Nullacht-Fünfzehn-Nummer zum Besten gab. In Luther Allison's Händen gerinnt "You Can't Always Get" zu einem beliebigen Stück Blues-Trash, man hat das Gefühl, es könnte genauso gut jeder andere Song sein, und dann kommen noch die Hintergrund-"Dub-da-dub"-Mädels aus Lou Reeds "Walk on the Wild Side" dazu. Was einem bei Laibach wahrscheinlich als brillante Idee vorgekommen wäre reduziert sich hier auf Musik zum Weghören.

Der Höhepunkt auf der zweiten Platte ist für mich gleich einmal die 7-Minuten Version von "Empty Heart", einem frühen Stones Song, den die Motor City Five aus Detroit 1972 live für eine Fernseh-Show in Europa aufzeichneten. Dies ist ein Song, bei dem man schon beim ersten Hören weiß, dass man ihn immer wieder hören wollen wird. "Salt of the Earth", die Hymne auf die damals zwei Milliarden einfachen Leute aus "Beggars Banquet", erlebt hier dito eine erstaunliche, ganz wunderbare Wiedergeburt bei Ian McNabb von den Icicle Works, mit Mike Scott und Arto Thistlewaite am Chorgesang. Auch Marianne Faithfulls ursprüngliche Version von "Sister Morphine" fügt sich mit "Child of the Moon" von den Radon Sisters und Ruth Copeland's hinreissendem "Gimme Shelter" zu drei überzeugenden Stones-Songs von weiblichen Vokalistinnen.

Eine a-capella Fassung von "Get Off of My Cloud" von den Flying Pickets überzeugt mich einmal mehr, dass Jagger & Richards, genau wie Lennon & McCartney oder Ray Davies von den Kinks, ihre besten Texte da geschrieben haben, wo sie Beobachtungen oder Kommentare über ihre eigene, britische Heimat anbringen konnten. Ihre transatlantischen Songs, mit amerikanischen Referenzen (hier etwa "Faraway Eyes") wirken dagegen meistens nur wie touristische Ansichtspostkarten.

Ein zutiefst britisches Phänomen

So besehen ist es wiederum kurios, dass praktisch alle der hier gecoverten Songs aus der britischen Epoche der Stones, also aus der Zeit vor ihrer Flucht ins Steuerexil im Ausland, stammen, während andererseits aber die amerikanischen Künstler auf diesen beiden Silberscheiben deutlich überwiegen. Ebenfalls kurios, wenn man bedenkt, dass die Stones als "Blues"-Band anfingen, ist das Scheitern schwarzer Musiker an ihren Songs. Der ganze Dreh bei einem Song wie "Let's Spend the Night Together" ist es ja gerade, dass das dort angesprochene junge Paar so etwas bisher noch nicht erlebt hatte. Dass BEIDE noch ihre erste Nacht zusammen VOR SICH hatten. Daraus eine schwülstige Sex & Klopf-Nummer zu machen,("Hier, saug mal an dem da"), wie Joe Simon es hier tut, ist einfach nur fad.

Man fühlt sich an die dämliche "Satisfaction"-Version aus Jimi Hendrix' Frühzeit bei Curtis Knight erinnert, der erst mal ausführlich darüber witzelt, dass da offenbar jemand "keinen hoch kriegt", bis sie dann den Song auf seinem berühmten Riff zertrümmern. Ähnlich hier Geno Washington und die Ram Jam Band mit "Jumping Jack Flash". Offenbar hoffnungslos überfordert vom Text, zimmert er sich seinen eigenen. Eine kulturelle Kluft tut sich auf. Die Stones sind also sehr wohl ein zutiefst britisches Phänomen. Und genau besehen waren ja auch ihre frühen Blues-Nummern ("Ich kann an deinem Schritt erkennen, dass du durch die Baumwollfelder gelaufen bist", auf "Downhome Girl") pure Fantasy-Songs, musikalische Psychedelica, die mit ihrer eigenen trist-britischen Nachkriegsrealität rein gar nichts zu tun hatten. Außer dem tiefen Wunsch nach Flucht, nach einer besseren, schöneren, bunteren Welt in der Musik.

Die Top 40 der Kritiker

Im Textteil ließ das UNCUT-Magazin übrigens eine recht illustre Kritikerriege ihre 40 wichtigsten Stones-Songs nominieren. Nummer eins war, was Stones-Fans wenig überraschen dürfte, "Gimme Shelter", wie die übrigen Top Ten in der Hauptsache eine Keith Richards-Komposition. Mick Jaggers eigene Liste wird ebenfalls angeführt von "Gimme Shelter", und endet überraschend mit "Miss You" - überraschend deshalb, weil die wunderbare 8-Minuten-Version des Songs seit fast 25 Jahren nicht auf Platte oder CD zu haben ist. Ron Wood's Lieblingssong der Stones ist "Sister Morphine". Jagger und Wood nominieren beide einen einzigen Song ("Out of Control") aus neuerer Zeit, alle anderen sind allermindestens 20 Jahre alt. Auch bei den Kritikern ist "Undercover of the Night", aus dem Jahr 1983, der letzte Stones-Song, der noch gnädige Aufnahme findet.

Die Zeit der Rolling Stones ist vorbei

Dies sollte Mick Jagger zu denken geben, der soeben ein neues Solo-Album vorgelegt hat, "Goddess in the Doorway", das wohlmeinenden Kritikern als eine Art Pendant zu Bob Dylan's "Blood on the Tracks" erscheinen mag. Dylan ist in der Tat stark präsent auf dieser Platte, wenn auch nur als Lieferant von Rohmaterial. Einen Vers wie "Demons in the bedroom, dogs are on the roof, I am in the basement, looking for the truth" hat man genauso, nur wesentlich besser, schon auf Dylans "Subterranean Homesick Blues" gehört. Seinen anderen Gästen, von Lenny Kravitz bis Pete Townshend, sogar Bono von den U2, räumt der Solo-Stone jeweils eben einmal vier Takte ein, so dass man ihre Anwesenheit kaum bemerkt. Jagger ist darin wie Jeff Beck, ein Mann, der es nicht erträgt, wenn er nicht ständig im Rampenlicht steht, einer, dem die eigene Eitelkeit jede künstlerische (Zusammen-)Arbeit zunichte macht.

Jaggers Trauer um die gescheiterte Ehe, um die verfliegende Jugend, entspricht der Trauer einer Imielda Marcos um ihre verlorenen Schuhe. Auf "Hide Away" beispielsweise singt er: "Ich werde ein kleines Hotel mieten...und niemand wird mich finden." Das sind die seelischen Probleme eines Dagobert Duck. Uns Normalsterblichen reicht es völlig, ein einziges ZIMMER in einem Hotel zu mieten. Tatsächlich sind es die miesen, völlig abgehobenen Texte, die einfach nur Stumpfsinn artikulieren, statt wie bei einem guten Song, auch eine Geschichte zu erzählen, und die bei Jagger seit je unsauberen Reime (roof/truth im obigen Beispiel) die einem den Geschmack gerade auf diese letzte Produktion vollkommen verderben. Dazu das Gesäusel um Religion und das großväterliche Geknurre gegenüber der jungen Generation: grauenvoll. Als ob Mick Jagger mit Macht den Abstand zu Keith Richards durch eine Nähe zu Cliff Richard wettmachen wollte.

Man hört es überdeutlich. Die Zeit der Rolling Stones ist vorbei. Die Stelle, die sie einst in der britischen Popmusik einnahmen, wird heute - weniger rockig, weniger lautstark, aber voll adäquat - gefüllt von den Tiger Lillies. (Anspieltipp: "Banging in the Nails" auf "Brothel to the Cemetery".) Die beiden CDs auf UNCUT dienen unterdessen als Erinnerung an die große Zeit einer großartigen Band, deren beste Songs noch auf lange Zeit lebendig bleiben werden.