Die größten Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Seite 4: Wie häufig kommt ADHS vor?

Dass laut der Psychologin die Schätzungen für die Häufigkeit der Störung in unterschiedlichen Studien zwischen 2 Prozent und 18 Prozent schwankt - also um den Faktor neun! - scheint in ihr auch keine Zweifel zu wecken. Stellen wir uns einmal vor, man würde sich auf eine Waage stellen und das Ergebnis wäre: "Sie wiegen zwischen 20 und 180kg." Wie lange würde es wohl dauern, bis man so eine Waage als defekt zurückgibt?

Diesen Konflikt löst Psychologeek mit dem Verweis auf eine epidemiologische Studie, die die unterschiedlichen Ergebnisse mit uneinheitlichen Kriterien (wohlgemerkt unter Wissenschaftlern!) zur Feststellung von ADHS erklärt.7 Das spricht nun aber gerade nicht für die Gültigkeit (in Fachsprache: Validität) der Diagnose! Die Frage, ob ADHS eine Modediagnose ist, beantwortet Pia Kabitzsch trotzdem ganz klar negativ:

Dieser Anstieg der Diagnosen kommt höchstwahrscheinlich nicht daher, dass die Diagnose ADHS heute leichtfertiger vergeben wird, sondern daher, dass die Leute heute viel mehr auf dem Schirm haben, dass es ADHS gibt und ADHS deswegen bei Betroffenen häufiger und besser erkannt wird als noch vor einigen Jahren. Und wenn man sich die Zahlen der Betroffenen in der allgemeinen Bevölkerung anschaut, dann fällt auf, dass die Zahl der Diagnosen im Vergleich dazu immer noch ziemlich gering ist. Das heißt, man kann erstens davon ausgehen, dass ADHS heute immer noch unterdiagnostiziert ist, und zweitens, dass die Zahl der Diagnosen auch in den nächsten Jahren immer weiter ansteigen wird. Von einer Modediagnose würd' ich hier also defintiv nicht sprechen.

Pia Kabitzsch auf Psychologeek

Gültigkeit der Diagnosekriterien

Um im Bild mit den Waagen zu bleiben: Nehmen wir an, es gäbe verschiedene Arten von Körperwaagen - die auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen. Alle beriefen sich auf die Wissenschaft. Wenn Sie jetzt ins Geschäft gingen, welche würden Sie kaufen?

Die Psychologin müsste hier unterstellen, dass es die eine richtige Waage gibt. Eine ähnliche epidemiologische Arbeit wie die, auf die Kabitzsch sich bezieht, verglich noch mehr Studien (Waagen): 175 an der Zahl.8 Diese Forscher machen es sich einfach und bilden schlicht den Mittelwert: 7,2 Prozent aller Kinder hätten ADHS.

Man weiß also nicht, welche der 175 Waagen das Körpergewicht richtig misst, und einigt sich per Konvention auf die Mitte aller Ergebnisse. (Dabei berücksichtigt man allenfalls noch, mit wie vielen Personen eine Waage jeweils getestet wurde.) Wenn man nun zu der Waage greift, die dem Mittelwert am nächsten kommt, wie sicher könnte man sich dann über deren Messung sein?

Dabei wissen wir aber doch, dass die Diagnosekriterien im Laufe der Zeit aufgeweicht wurden: Erst sollten Kinder vor dem 7., jetzt vor dem 12. Lebensjahr Anzeichen der Störung aufweisen; dabei steht dieses Kriterium überhaupt in Frage. Erst wurde Erwachsenen-ADHS abgelehnt, jetzt wird sie anerkannt. Dazu kommt die mediale Aufmerksamkeit für die Störung. Es ist doch klar, dass dann die Anzahl der Diagnosen steigt!

Ob sie zu oft oder zu selten diagnostiziert wird, kann man nur beantworten, wenn man die gültigen Kriterien für die "echte" ADHS besitzt. Die gibt es aber doch gar nicht und auch die offiziell anerkannten Diagnosekriterien ändern sich im Laufe der Zeit, seit den 1980ern immer wieder.

Therapie

Zur Behandlung der Störung behauptet die Psychologin, dass diese am häufigsten mit Medikamenten geschähe. Worauf sie sich hier bezieht, erschließt sich mir nicht. Wie ich bereits anführte, gilt das beispielsweise für Großbritannien mit ziemlicher Sicherheit nicht. Für Deutschland führt sie eine Publikation im Ärzteblatt an, die jedoch nur von einer zunehmenden Medikation für den Zeitraum von 2009 bis 2014 spricht.9

Tatsächlich reagierte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) - das höchste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen - 2010 sehr kritisch auf den starken Anstieg der Medikamentenverschreibungen gegen ADHS:

Die Verordnungsfähigkeit bestimmter Stimulantien wird aufgrund des Risikos, das vor allem für Kinder und Jugendliche mit der Einnahme dieser Medikamente verbunden ist, künftig noch weiter eingeschränkt, als das bisher der Fall ist.

Der Anstieg der Verschreibungen hörte dann (in Deutschland) erst einmal auf. Zudem sollte erst eine alternative Therapie ausprobiert werden, anstatt gleich zu den - unters Betäubungsmittelgesetz fallenden - Medikamenten zu greifen.

Neueste und repräsentative Zahlen von Versicherten zeigen, dass sich die Zahl der Medikamentenverschreibungen in Deutschland tatsächlich seit 2012 in etwa stabilisiert hat: Bei Kindern und Jugendlichen nahm sie ab; bei Erwachsenen nahm sie zu, jedoch auf einem niedrigeren Niveau.10 Letzteres ist zu erwarten, wenn man weiß, dass Erwachsenen-ADHS lange Zeit umstritten war.

Auf die genannte Entscheidung des G-BA verweist noch heute noch das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Informationsseite über ADHS. Darauf werden übrigens kein einziges Mal Gehirne, Gene oder die Neurowissenschaften erwähnt. Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht.

Im Ergebnis erklärt das Ministerium: "Die Behandlung von ADHS stützt sich heute auf mehrere Säulen: Individuell kombiniert werden nach Aufklärung und Beratung aller Betroffenen eine Psychotherapie, z.B. Verhaltenstherapie des Kindes, Eltern- und Lehrertraining sowie im Einzelfall auch eine medikamentöse Therapie." Auch das stellt die Aussage von Psychologeek in Frage.

Natürlich fallen Psychotherapeutinnen und -therapeuten nicht vom Himmel, während man Pillen und Tabletten in Fabriken herstellen kann. Wenn man ADHS also immer häufiger diagnostiziert, wie Pia Kabitzsch es vorhersagt, dann wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr Medikamentenverschreibungen kommen müssen.