Die größten Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Seite 5: Ursachen von ADHS

Besprechen wir zum Schluss noch die Ursachen. Die Psychologin vertritt hier eine sehr biologische Sichtweise und behauptet:

Wie ADHS ganz genau entsteht, das weiß man bisher noch nicht. Was man aber weiß ist, dass die Gene 'ne entscheidende Rolle spielen. Man sagt hier sogar, dass ADHS eine der 'erblichsten' psychischen Erkrankungen überhaupt ist. Das Risiko, auch zu erkranken, wenn ADHS in der Familie ist, ist hier also besonders hoch.

Pia Kabitzsch auf Psychologeek

Kurze Anmerkung: Familien haben es so an sich, gemeinsame Lebensumstände zu haben. Häufigeres Auftreten innerhalb familiärer Strukturen ist also für sich genommen noch kein Hinweis auf Erblichkeit. Wer beispielsweise seine Kinder schlägt, weil er als Kind selbst geschlagen wurde, könnte das aufgrund einer erblichen Veranlagung zu Impulsivität und Aggressivität tun - oder schlicht, weil er oder sie das als "normal" erfahren hat. Im Alten Testament galt das sogar als guter Erziehungsstil (Sprüche Salomons, Kapitel 13, Vers 24), was schließlich auch kulturelle Faktoren verdeutlicht.

Neben genetischen Einflüssen erwähnt Kabitzsch noch Komplikationen während der Schwangerschaft. Effekte durch die Erziehung hält sie eher für unwahrscheinlich: "Dass ADHS dadurch kommt, dass man zuhause zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, schlecht erzogen wurde oder zu viel Fernsehen geschaut hat, das ist aber definitiv ein Mythos."

Zwillingspaare

Machen wir einen kurzen Selbstversuch, bevor ich Ihnen konkrete Zahlen einer großangelegten Studie nenne: Die Erblichkeit von ADHS wird auf 60 bis 90 Prozent geschätzt. Nehmen wir jetzt einmal an, man hätte 100 eineiige Zwillingspaare, also Paare von jeweils zwei genetisch identischen Geschwistern. Von jeweils einem der Zwillinge weiß man, dass er oder sie eine ADHS-Diagnose hat. Bei wie vielen der anderen Zwillinge könnte man dann ebenfalls diese Diagnose erwarten?

Mit der Information, die Ihnen Kabitzsch gab und der geschätzten Erblichkeit von 60 bis 90 Prozent könnten sie jetzt annehmen, dass also 60 bis 90 der verbleibenden 100 eineiigen Zwillinge ebenfalls eine ADHS-Diagnose haben.

Gemäß der größten mir bekannten Studie mit knapp 60.000 schwedischen Zwillingen 11 wären es aber gerade einmal 22 (bei den Frauen) bis 39 (bei den Männern). Wie kann das sein?

Erinnern wir uns noch einmal an die Waagen: Wenn die Ihnen anzeigt, dass Sie 60 bis 90kg schwer sind - immer noch ein Unterschied von satten 50 Prozent! -, dann bringen Sie sie zurück ins Geschäft. Keinesfalls sollten Sie aus so einem Ergebnis die Notwendigkeit einer Diät ableiten.

Missverständnis Erblichkeit

Leider haben viele - auch viele Psychologen und Psychiater - missverstanden, dass man mit dem, was Genetiker als "Erblichkeit" (engl. heritability) definierten, zum großen Teil Umwelteinflüsse misst, also gerade keine genetische Determinierung. Sonst wäre die Schwankungsbreite von 60 bis 90 Prozent und die Zunahme der Diagnosen auch äußerst fragwürdig.

Die sogenannte Konkordanzrate (Übereinstimmungsrate), die ich gerade zitiert habe, konnte ich innerhalb weniger Sekunden über eine Internet-Suchmaschine finden. Es ist also keine höhere Magie. Wenn man den Anspruch erhebt, "mal so ganz sachlich" über ADHS zu sprechen (Zitat Pia Kabitzsch), dann sollte man sich diese Mühe schon machen.

Und bei der zitierten schwedischen Studie gab es 90 männliche und 49 weibliche Zwillingspaare, bei denen mindestens ein Zwilling die ADHS-Diagnose hatte. In 35 beziehungsweise 11 hatte der andere dann auch die Diagnose (konkordante Paare), in 55 beziehungsweise 38 aber nicht (diskonkordante Paare). So kommt man auf die 39 beziehungsweise 22 Prozent.

Das ist deutlich höher als bei den zweieiigen Zwillingen: 7 (Frauen) bis 9 Prozent (Männer). Wie so oft, spielen die Gene natürlich eine Rolle. Wir sind eben Körperwesen. Und Schwangerschaftskomplikationen könnten natürlich auch eine Rolle spielen, wie Pia Kabitzsch anmerkt.

Aufgrund dieser Daten lässt sich aber der Einfluss von Erziehungsfaktoren sicher nicht ausschließen. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf mein Interview mit der Entwicklungspsychologin, Pädagogikprofessorin und Mutter von sechs Kindern Laura Batstra verwiesen, die auf ADHS spezialisiert ist ("Die Kinder werden zum Problem erklärt").