Die größten Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS
Seite 6: Was ist nun der größte Faktor?
Die Sichtweise, die Pia Kabitzsch als wissenschaftlichen Konsens darstellt, ist oft irreführend oder sogar ins Gegenteil verdreht. Die angebliche Sicherheit, mit der die Psychologin in der Öffentlichkeit auftritt, gibt es beim Thema ADHS gar nicht.
Im Gegenteil sprechen neuere Forschungsergebnisse dafür, Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsprobleme zu demedikalisieren, also wieder aus dem Bereich von Psychiatrie und klinischer Psychologie herauszuholen (Nein, Ihr Kind ist nicht krank!). Wenn man der Psychologin zuhört, scheint es stattdessen völlig klar, ADHS als Krankheit aufzufassen und dann mit Medikamenten zu behandeln.
Mit wenig Rechercheaufwand hätte sie feststellen können, was den größten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose hat: das Alter der Kinder bei der Einschulung.12 Dieser Effekt ist in den Daten von über 15 Millionen Kindern bestätigt und auch für Deutschland seit Jahren belegt (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS).
Problem Einschulung
Nehmen wir einmal an, der Einschulungsstichtag wäre der 30. Juni jedes Jahres. Kinder, die bis dahin sechs Jahre alt geworden sind, müssten nach den Sommerferien in die Schule. Dann wäre ein Kind, das erst am 30. Juni oder kurz davor seinen sechsten Geburtstag hat, in der Schulklasse rund ein Jahr jünger als ein Kind, das erst am 1. Juli oder kurz danach Geburtstag hat (und folglich ein Jahr später in die Schule kommt).
In Deutschland lässt sich das aufgrund der regionalen Unterschiede und auch der Verschiebung der Stichtage in den letzten Jahren sehr gut überprüfen. Und, siehe da: Der Versorgungsatlas berichtete schon 2015, dass die Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Diagnose um den Stichtag herum um rund 20 Prozent steigt! Die Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Medikation wird mit rund 26 Prozent sogar noch größer!
Was beispielsweise die Stiftung Warentest (letzte Aktualisierung am 15.8.2021) über die Ursachen von ADHS schreibt, steht im Einklang mit meiner Darstellung und widerspricht dem populären Psychologeek diametral:
ADHS ist nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, sondern vielschichtig. Die Ursachen für ADHS liegen auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene. Es kann auch eine genetische Anlage geben, die zu Störungen im Stoffwechsel des Nervenbotenstoffs Dopamin führt. Auch Nikotin-, Alkohol- oder Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft wird mit einer späteren Erkrankung des Kindes in Verbindung gebracht. Darüber hinaus scheint es eine Rolle zu spielen, ob das Kind zu früh geboren wurde oder in der frühen Kindheit eine schwere Hirnerkrankung gehabt hat.
Oft liegt die Verhaltensauffälligkeit in familiären Schwierigkeiten oder seelischer Überforderung begründet. Ist das Kind von Menschen umgeben, die es ablehnen, bedrohen und bestrafen, verfestigen sich auffällige Verhaltensweisen eher, als wenn es sich geliebt, unterstützt und geborgen fühlen kann.
Stiftung Warentest: ADHS
Den bedeutenden Einschulungseffekt könnte man hier ergänzen. Wer über eine Medikamentenverschreibung für sich selbst oder seine Kinder nachdenkt, findet dort auch eine ausgewogene Übersicht über Wirkungen und Nebenwirkungen von Methylphenidat.
Fazit
Nach all dem Gerede über Gene und Gehirne, nach ausschließlicher Huldigung des Neuro-Kults von Pia Kabitzsch und vielen anderen, ist eine soziale Maßnahme der größte bisher bestimmte Faktor einer ADHS-Diagnose: nämlich wie alt ein Kind bei der Einschulung im Vergleich zu seinen Mitschülerinnen und -Schülern ist. Und das wird politisch festgelegt.
Natürlich sind Körper und Verhalten dieser Kinder (im Mittel) weniger entwickelt. Aber schlicht darum, weil sie jünger sind, nicht krank! Diesen Stempel drückt ihnen unser bürokratisches Gesundheitssystem auf, aufgrund fadenscheiniger wissenschaftlicher Begründungen. Und so war es bisher immer in der Geschichte von ADHS und ihrer Vorläufer.
Damit wird nicht bestritten, dass es Menschen mit gravierenden Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsproblemen gibt. Und natürlich hängen diese Fähigkeiten mit unserem Nervensystem zusammen. Doch wann solche Unterschiede als Störung gelten, das entscheiden gesellschaftliche Institutionen (hier: vor allem Psychiaterinnen und Psychiater). Diese Dimension fehlt bei Pia Kabitzsch völlig.
Mein Standpunkt ist nicht ideologisch: Sobald es aussagekräftigere Daten gibt, ändere ich ihn. Man sucht ja nun aber schon bald seit 100 Jahren nach Unterschieden in den Gehirnen und Genen verhaltensauffälliger Kinder, seit über 30 Jahren unter dem Namen ADHS. Diese Effekte sind stets sehr klein, oft widersprüchlich. Das sind schlicht Tatsachen.
Psychologin Kabitzsch und ihr Psychologeek vertritt nach meiner Ansicht ein einseitiges, verzerrtes, in Teilen widerlegtes und lange überholtes Bild der Problematik. Gerade dann, wenn Sie den Anspruch vertritt, sachlich über ADHS zu informieren, sollte sie diese Sendung besser zurückziehen.
Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.