Die größten Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Seite 2: Denken im Schneckentempo?

Übrigens gibt es Psychologen und Psychiater, die darauf hin arbeiten, einen dritten Typ anzuerkennen: Ursprünglich dachte man an den Namen "Denken im Schneckentempo" (engl. Sluggish Cognitive Tempo, SCT). Kein Scherz: Das Journal of Abnormal Child Psychology widmete dem 2014 eine ganze Sonderausgabe.

Inzwischen plädiert man übrigens dafür, sie "Konzentrationsdefizitstörung" (engl. Concentration Deficit Disorder, CCD) zu nennen. Vielleicht war der alte Name diskriminierend für Schnecken?

Inwiefern die Wissenschaftler, die diese Initiative ins Leben riefen, von der pharmazeutischen Industrie unterstützt wurden, darf jeder selbst recherchieren. Es versteht sich doch von selbst, dass die üblichen Stimulanzien (wie Ritalin & Co.) gegen schneckenhaftes Denken helfen. Wer hätte daran Zweifel?

ADHS und das Schrankproblem

Doch bleiben wir beim Psychologeek: Als Beispiel dafür, was ADHS ist, zeigt die Psychologin einen Ausschnitt aus der Nachbarsendung "reporter". Dort wird eine andere junge Moderatorin besucht, die bei ihrem Kleiderschrank nur vier von sechs Türen montiert habe.

Nun zählt zwar das Unvermögen, bei einer Sache zu bleiben oder eine Aufgabe abzuschließen, zu den offiziellen Symptomen für das Aufmerksamkeitsdefizit. Dass die Frau - über Wochen, Monate oder vielleicht sogar Jahre! - die letzten beiden Schranktüren nicht montiert, dürfte aber wohl eher an fehlender Motivation beziehungsweise Lust liegen als an mangelnder Aufmerksamkeit.

Antriebs-, Interesse- und Lustlosigkeit wären eher Merkmale einer Depression. Doch bevor jemand zum Arzt oder Psychologen rennt, sei gesagt: Solche Erfahrungen gehören nun einmal zum Leben dazu und wir haben sie alle, in kleinerem oder größerem Maße.

Wahrscheinlich hätte schon die Zeit und Aufmerksamkeit für die Fernsehsendung gereicht, den Schrank endlich fertigzustellen. Filme fürs Fernsehen machen ist aber wohl interessanter. Das weist uns auch auf pharmakologische Theorien hin, die die Wirkungsweise der verschriebenen Stimulanzien (eben Methylphenidat in Ritalin oder Amphetamin) mit einer Steigerung der Motivation erklären.

Und es passt zu den Beschreibungen derjenigen, die sich auch ohne ADHS-Diagnose der Mittel bedienen: Langweilige Aufgaben machen dann mehr Spaß, man überwindet leichter den "inneren Schweinehund".1 Vielleicht trinken Sie aus ähnlichem Grund auch mal eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier oder Wein.

War der Zappelphilipp ein klassischer ADHS-Fall?

Pia Kabitzsch diskutiert dann das Bild des Zappelphilipps (nach dem Kinderbuch von H. Hoffmann aus dem Jahr 1845), das häufig mit ADHS verglichen wird. In einem lesenswerten Fachartikel über die Geschichte der Störung untersuchten Klaus Lange von der Universität Regensburg und Kollegen die Geschichte aus wissenschaftlicher Sicht.2

Die Psychologen ziehen das Fazit, dass man den Zappelphilipp nicht eindeutig als ADHS-Fall ansehen kann. Dazu liefere die Geschichte schlicht zu wenige Anhaltspunkte. Das ist insofern wichtig, als diese Fantasiefigur oft als Beispiel dafür genommen wird, dass es ADHS schon immer gegeben habe. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich das aber nicht halten.

Interessant ist das aber in dem Zusammenhang, dass die historischen Vorläufer von ADHS oft dazu verwendet wurden, um auffällige Kinder psychologisch-medizinisch zu klassifizieren. Dabei stand ursprünglich nicht so sehr Aufmerksamkeit im Vordergrund, sondern "unmoralisches" Verhalten. Mit anderen Worten: Kinder, die sich nicht so benahmen, wie die Eltern und oder die Gesellschaft es wünschten, wurden dann mit wissenschaftlicher Autorität als "abnormal" erklärt.

Medikamentenkonsum

Wenn man sich jetzt überlegt, wie die Anforderungen an die Aufmerksamkeit mit dem Aufkommen der Informationstechnologie zunahmen, dann versteht man vielleicht, warum ADHS vor den 1990ern kaum diagnostiziert und insbesondere kaum medikamentös behandelt wurde, die Zahlen seitdem aber explodieren. Aber für Psychologeek riecht das wahrscheinlich nach "Mythos".

Beschreibung: Die jährlichen Produktionszahlen für Methylphenidat (blau) und Amphetamin (rot, linke Skala, in Tonnen) in den USA stiegen rasant und erreichten Mitte der 2010er Jahre bei um die 140 Tonnen ihren bisherigen Zenit. In der gesamten Dekade der 1990er wurde nicht so viel dieser Stimulanzien produziert, wie heute in einem einzigen Jahr. Die gelbe Linie (rechte Skala, in Millionen) zeigt die Anzahl der US-Amerikaner, die gegen Depressionen Antidepressiva verschrieben bekamen. Deren Zahl verdreifachte sich von Mitte der 1990er bis Mitte der 2010er. Zudem stiegen auch die verschriebenen Dosen (nicht abgebildet). Die Trends in Deutschland sind ähnlich, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau. Quellen: US Federal Register; Luo et al., 2020

Doch warum waren in der Vergangenheit so viel weniger Menschen auf die Stimulanzien angewiesen, um im schulischen Umfeld oder bei der Arbeit gut zu funktionieren? Dabei gibt es die Medikamente doch schon seit einer kleinen Ewigkeit (Methylphenidat seit den 1940ern, Amphetamin noch länger).

Wie will man sonst erklären, dass heute beispielsweise in den USA Jahr für Jahr mehr dieser Substanzen produziert werden, als noch in der gesamten Dekade der 1990er?3 Oder dass beispielsweise die Kinder in Großbritannien so gut wie ohne die Mittel auskommen, während man in den Niederlanden oder den USA sehr schnell zum Rezeptblock greift?4 Dänemark und Deutschland liegen übrigens dazwischen.