Die kalifornische Ideologie Teil II
Seite 2: Freiheit ist Sklaverei
Wenn seine heiligen Regeln also von der profanen Geschichte widerlegt wurden, warum haben dann die Mythen des "freien Marktes" die Vertreter der kalifornischen Ideologie so beeinflußt? Innerhalb einer Kultur des Vertrages führen die High-Tech-Handwerker ein schizophrenes Leben. Einerseits können sie nicht den Vorrang des Marktes über ihr Leben in Frage stellen, andererseits ärgern sie sich über Versuche derjenigen, die Machtpositionen einnehmen, sich in ihre individuelle Autonomie einzumischen. Mit der Vermischung der Neuen Linken und der Neuen Rechten sorgt die kalifornische Ideologie für eine mystische Auflösung der widersprüchlichen Haltungen, die die Mitglieder der virtuellen Klasse einnehmen. Vor allem der anti-staatliche Affekt stellt die Mittel bereit, radikale und reaktionäre Ideen über den technischen Fortschritt zu versöhnen.
Während die Neue Linke die Regierung kritisiert, weil sie den militärisch-industriellen Komplex unterstützt, greift die Neue Rechte den Staat an, weil er die spontane Ausbreitung neuer Technologien durch den Wettbewerb am Markt reguliert. Trotz der zentralen Rolle, die die öffentliche Hand für die Entwicklung der Hypermedia-Industrie spielte, predigen die kalifornischen Ideologen die anti-staatliche Lehre eines High-Tech-Liberalismus: das bizarre Mischmasch eines anarchistischen Hippieweltanschauung mit einem ökonomischen Liberalismus und mit einem großen Schuß an technologischem Determinismus.
Anstatt den wirklich existierenden Kapitalismus zu verstehen, ziehen die Gurus der Neuen Linken und der Neuen Rechten es vor, konkurrierende Versionen einer digitalen "Jeffersonschen Demokratie" zu vertreten. Beispielsweise glaubt Howard Rheingold aus der Perspektive der Neuen Linken, daß es die elektronische Agora den Individuen ermöglicht, die Art der medialen Freiheit auszuüben, die von den Founding Fathers vertreten wurde. Ganz ähnlich behauptet die Neue Rechte, daß die Befreiung von allen regulativen Beschränkungen es den privaten Unternehmen ermöglichen wird, eine der "Jeffersonschen Demokratie" würdige mediale Freiheit zu schaffen.
Der Triumph dieses nach rückwärts gerichteten Futurismus ist eine Konsequenz der nicht erfolgten Reform der USA während der späten 60er und der frühen 70er Jahre. Wie bei der Auseinandersetzung im People's Park trat der Kampf zwischen dem amerikanischen Establishment und der Gegenkultur in eine abwärts gerichtete Spirale der Gewalt ein. Während die Vietnamesen durch großes menschliches Leid es erreichten, die amerikanischen Invasoren aus ihrem Land zu vertreiben, wurden die Hippies und ihre Verbündeten in den schwarzen Bürgerrechtsbewegungen durch eine Kombination staatlicher Repression und kultureller Mitarbeit zerbrochen. Die kalifornische Ideologie verinnert die Folgen dieser Niederlage für die Mitglieder der virtuellen Klasseauf perfekte Weise. Selbst wenn sie die von den Hippies erzielten Freiheiten genießen, sind die meisten nicht mehr aktiv mit der Verwirklichung von "Ökotopia" beschäftigt. Anstatt offen gegen das System zu rebellieren, akzeptieren diese High-Tech-Handwerker jetzt, daß individuelle Freiheit nur unter den Bedingungen des technischen Fortschritts und des "freien Marktes" erreicht werden kann. In vielen Cyberpunkgeschichten wird dieser asoziale Liberalismus durch die zentrale Figur des Hackers dargestellt, der als einsames Individuum in den virtuellen Welt der Information um sein Überleben kämpft.
Die Rechtstendenz der kalifornischen Ideologie wird durch die unhinterfragte Akzeptanz des liberalen Ideals des selbstgenügsamen Individuums unterstützt. Im populären amerikanischen Geschichtsbild entstand die Nation in der Wildnis durch die Aktivitäten von Individuen, die in Freiheit ihrem Gewinn nachstrebten - durch die Trapper, Cowboys, Prediger und Siedler im Wilden Westen. Die amerikanische Revolution hatte selbst das Ziel, die Freiheiten und das Eigentum der Individuen gegen unterdrückende Gesetze und ungerechte Steuern eines fremden Königs zu schützen. Für die Neue Linke und die Neue Rechte stellen die ersten Jahre der amerikanischen Republik ein mächtiges Modell für ihre konkurrierende Versionen der individuellen Freiheit bereit. Aber esgibt im Zentrum dieses ursprünglichen amerikanischen Traums einen tiefen Widerspruch: den einzelnen ging es in dieser Zeit nur durch das Leiden von anderen besser. Das wird nirgendwo deutlicher als im Leben von Thomas Jeffersion, dem zentralen Symbol der kalifornischen Ideologie.
Thomas Jefferson war es, der die mitreißende Berufung auf Demokratie und FReiheit in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung schrieb und gleichzeitig der Eigentümer von nahezu 200 Sklaven war. Als Politiker befürwortete er das Recht der amerikanischen Bauern und Handwerker, über ihr eigenes Leben zu entscheiden, ohne den Zwängen des deudalistischen Europa unterworfen zu sein. Wie andere Liberale in dieser Zeit war er der Überzeugung, daß politische Freiheiten gegenüber autoritäten Regierungen einzig durch einen weitgestreuten Besitz von Privateigentum geschützt werden können. Die Bürgerrechte wurden von diesem grundlegenden Naturrecht abgeleitet. Um die Autonomie zu fördern, schlug er vor, daß jedem Amerikaner als Garantie seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit mindestens 50 Morgen Land gegeben werden sollten. Während er die kleinen Bauern und Geschäftsleute des Wilden Westens idealisierte, war Jefferson in Wirklichkeit jedoch ein Plantagenbesitzer aus Virginia, der von Arbeit seiner Sklaven lebte. Obgleich die "besondere Rechtslage" des Südens sein Gewissen beunruhigte, glaubte er weiterhin, daß die Naturrechte des Menschen das Recht einschlossen, Menschen als Privateigentum zu besitzen. In der Jeffersonschen Demokratie basierte die Freiheit der Weißen auf der Sklaverei der Schwarzen.