Die kalifornische Ideologie Teil II
Seite 5: Es gibt Alternativen
Trotz ihrer großen Widersprüche glauben Menschen auf der ganzen Welt, daß die kalifornische Ideologie den einzigen Weg zur Zukunft darstellt. Mit der wachsenden Globalisierung der Weltwirtschaft empfinden viele Mitglieder der virtuellen Klasse eine größere Nähe zu ihren kalifornischen Kollegen als zu anderen Werktätigen in ihren eigenen Ländern. Eine Diskussion ist aber in Wirklichkeit niemals besser möglich und auch notwendiger gewesen. Die kalifornische Ideologie wurde von einer Gruppe von Menschen entwickelt, die in einem bestimmten Land mit einer spezifischen Mischung von sozioökonomischen und technologischen Optionen lebten. Ihre eklektische und widersprüchliche Verbindung einer konservativen Ökonomie und dem Radikalismus der Hippies spiegelt die Geschichte der Westküste wider, aber nicht die unausweichliche Zukunft der übrigen Welt. Die anti-staatlichen Annahmen der kalifornischen Ideologen sind beispielsweise reichlich beschränkt. In Singapur organisiert die Regierung nicht nur den Bau eines Glasfasernetzes, sondern versucht auch, die ideologische Eignung der über es verteilten Information zu kontrollieren. Wenn man von dem wesentlich größeren Wachstum der asiatischen "Tiger" ausgeht, wird die digitale Zukunft nicht notwendigerweise in Kalifornien beginnen.
Trotz der Empfehlungen des Bangemann-Berichtes sind die meisten europäischen Behörden gewillt, mit der Entwicklung der neuen Informationstechnologien eng verbunden zu sein. Minitel, das erste erfolgeiche Online-Netzwerk der Welt, war ein durchdachtes Produkt des französischen Staates. Als Reaktion auf einen offiziellen Bericht über die möglichen Auswirkungen der Hypermedien beschloß die Regierung, Mittel für die Entwicklung von interessanten Technologien aufzuwenden. Ab 1981 vertrieb die französische Telekom das Minitel-System, das eine Mischung aus textbasierter Information und Kommunikationsdiensten anbot. Als Monopol konnte die staatliche Telekom eine kritische Masse an Nutzern für sein bahnbrechendes Onlinesystem gewinnen, indem sie jedem kostenlos einen Terminal gab, der auf ein Telefonbuch verzichtete. Nachdem derMarkt geschaffen war, konnten kommerzielle und kommunale Anbieter genügend Kunden oder Teilnehmer finden, um im System Erfolg zu haben. Seitdem haben Millionen Franzosen zufrieden Tickets gebucht, miteinander kommuniziert und sich online politisch organisiert, ohne zu merken, daß sie dadurch die liberalistischen Regeln der kalifornischen Ideologie verletzt haben.
Weit davon entfernt, den Staat zu dämonisieren, glaubt die überwältigende Mehrheit der französischen Bevölkerung, daß für eine funktionierende und gesunde Gesellschaft ein größerer Einfluß der öffentlichen Hand notwendig sei. In den letzten Präsidentschaftswahlen mußte fast jeder Kandidat, zumindest rhetorisch, einen größeren staatlichen Einfluß vertreten, um den Ausschluß der Arbeitslosen und der Obdachlosen zu beenden. Anders als ihr amerikanisches Äquivalent zielte die Französische Revolution über den wirtschaftlichen Liberalismus hinaus auf eine Volksdemokratie. Nach dem Sieg der Jakobiner über ihre liberalen Gegner im Jahre 1792 wurde die demokratische Republik in Frankreich zur Verkörperung des "allgemeinen Willens". Deswegen war man der Überzeugung, daß der Staat die Interessen aller Bürger verteidigt und nicht nur die Rechte der einzelnen Grundbesitzer schützt. Der Diskurs der französischen Politik ermöglicht eine kollektive Handlung seitens des Staates, um Probleme zu lindern oder gar zu beseitigen, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist. Während die kalifornischen Ideologen versuchen, das Geld der Steuerzahler zu verleugnen, mit die Entwicklung der Hypermedien subventioniert wurde, kann die französische Regierung offen in diesen Wirtschaftsbereich eingreifen.
Obwohl die Technologie mittlerweile veraltet ist, widerlegt die Geschichte von Minitel ganz offensichtlich die anti-staatlichen Vorurteile der kalifornischen Ideologen und der Bangemann-Komission. Die digitale Zukunft kann eine Mischung aus staatlicher Intervention, kapitalistischem Unternehmertum und alternativer Kultur sein. Wenn der Staat die Entwicklung der Hypermedien fördern kann, dann könnte man auch bewußt dafür sorgen, daß die Entstehung einer gesellschaftlichen Apartheid zwischen den "Information rich" und den "Information poor" verhindert wird. Indem sie nicht alles den Unwägbarkeiten des Marktes anheimgeben, könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten sicherstellen, daß jeder Bürger die Möglichkeit besitzt, mit einem breitbandigen Glasfasernetz zum geringsten möglichen Preis verbunden ist.
Zuallererst würde dies eine sehr notwendige Maßnahme zur Schaffung von Arbeitsplätzen in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit sein. Nach dem Beschäftigungsmaß von Keynes steht nichts im Wege, Menschen Löcher in die Erde graben zu lassen und sie wieder aufzufüllen. Wichtiger ist aber, daß die Verlegung eines Glasfasernetzes in die Häuser und Unternehmen jedem Zugang zu neuen Online-Diensten verschaffen und eine große pulsierende Öffentlichkeit gemeinsamer Fachkenntnis erzeugen könnte. Das würde es der Industrie ermöglichen, besser zu arbeiten und neue Produkte zu vermarkten. Es würde sicherstellen, daß Ausbildung und Information jedem zugänglich sind. Ohne Zweifel wird die "Datenautobahn" einen Massenmarkt für Unternehmen schaffen, um über das Netz bereits existierendes Informationsmaterial - Filme, Fernsehprogramme, Musik und Bücher - zu verkaufen. Wenn gleichzeitig einmal die Menschen hypermediale Produkte ebenso verteilen wie empfangen können, wird sich schnell ein Aufblühen von öffentlichen Medien und Interessengruppen einstellen. Damit das alles geschehen kann, wird eine staatliche Intervention notwendig sein, um sicherzustellen, daß alle Bürger an der digitalen Zukunft teilhaben.