Die projizierte Welt

Anhand von Experimenten mit Astronauten konnten Wissenschaftler demonstrieren, dass das Gehirn beim Fangen von Bällen die Einhaltung von physikalischen Gesetzen erwartet

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In den Neurowissenschaften ist schon lange bekannt, dass das Gehirn schon allein aus Gründen der Verarbeitungskapazitäten nicht einfach empirisch aus sensorischen Daten die Wahrnehmungswelt aufbaut. Die Welt wird vielmehr aus apriorisch vorhandenen Modellen, wie man im philosophischen Jargon sagen kann, konstruiert und nur mit den empirischen Daten abgeglichen, da dies ganz erheblich Reaktionen beschleunigen und Ressourcen sparen kann. Diese Modelle sind entweder evolutionär oder durch Erfahrung an die erwartbare Erfahrung angepasst, also eine Art Hypothese. Als Vermutungen über Standardsituationen können sie natürlich auch daneben gehen - und werden erst im Scheitern gewissermaßen als Modelle entlarvt, mit denen die sensorischen Daten interpretiert werden. Neurowissenschaftler konnten jetzt anhand von Experimenten im Weltraum zeigen, dass das Gehirn auch die Schwerkraft als Modell integriert hat.

Ein bisschen naiv müssen sich Wissenschaftler manchmal stellen, um ihre Ergebnisse gebührend herauszustreichen. Joseph McIntyre vom European Laboratory for the Neuroscience of Action in Paris und seine Kollegen in Rom führen daher zum Kontrast Annahmen aus den 60er Jahren an, die davon ausgehen, dass das Gehirn etwa zur Synchronisierung von Handbewegungen beim Fangen eines Balls nur die verfügbaren sensorischen Informationen wie Position und Geschwindigkeit des Balls benutzt. Alternativ könne aber auch, so die Forscher in "Does the brain model Newton's laws?"(Neuroscience), 4/7, Juli 2001) ein "implizites Wissen über die Physik" eine Rolle spielen.

Natürlich wäre es möglich, nur aus visuellen Signalen unter gleichbleibenden Bedingungen aus der möglichst gleich bleibenden Geschwindigkeit eines Objekts in einer bestimmten Entfernung und aus dessen Bewegungsrichtung auszurechnen, wann und wo dieses zu ergreifen ist. Allerdings sei das visuelle System nicht sehr gut darin, Geschwindigkeiten einschätzen zu können, zumal wenn die Entfernung nur kurz ist und es nur ein kleines Zeitfenster gibt. Gerade beim Fallen eines Objekts unter der Bedingungen der irdischen Schwerkraft könne sich aber relativ leicht die steigende Geschwindigkeit voraussehen lassen, ohne sie dauernd sensorisch erfassen zu müssen.

Die Verwendung einer Hypothese über die Fallgeschwindigkeit zu demonstrieren, wäre gar nicht einfach, wenn man nicht die vertrauten physikalischen verlassen könnte. Die Forscher hatten allerdings die Möglichkeit, ein Experiment auf der Erde und im Weltraum bei fehlender Schwerkraft durchzuführen. Astronauten, die 17 Tage lang mit dem Neurolab im Weltraum waren, dienten als Versuchspersonen. Sie mussten einen Ball, der 1,6 Meter über ihrer ausgesteckten Hand mit einer von drei zufällig bestimmten Geschwindigkeiten losgelassen wurde, auffangen. Die Versuche wurden drei Mal vor dem Abflug auf der Erde, drei Mal während des Fluges und sechs Mal nach dem Flug ausgeführt.

Auf der Erde unter den gewohnten Bedingungen waren die Fangreaktionen gut mit der Ankunft des Balls koordiniert. Etwa 200 Millisekunden vor dem Kontakt mit dem Ball bewegten die Versuchspersonen ihre Hand aufwärts. Unabhängig von der anfänglichen Ballgeschwindigkeit fand etwa 40 Millisekunden vor dem Auffangen eine Muskelaktivität statt. Im Weltraum jedoch erfolgte die Muskelaktivität durchweg signifikant früher, was den Schluss nahelegt, dass das Gehirn sich nicht an den sensorischen Daten orientiert. In der Schwerelosigkeit fallen Gegenstände stets mit der gleichen Geschwindigkeit.

Allerdings beharrte das Gehirn der Astronauten nicht stur auf Newtons Gesetze, sondern zeigte sich lernfähig. Bei den Tests nach 9 und 15 Tagen des Aufenthalts in der Schwerelosigkeit hatte sich das Gehirn bereits der neuen Situation angepasst und verminderte sich die frühzeitige Bewegung, während die aufwärts gerichtete Fangbewegung sich wie auf der Erde kurz vor dem Aufprall des Balls entwickelte.

Gäbe es nicht eine Schwerkraft-Hypothese, so hätte das Gehirn aber noch schneller die Bedingungen der Schwerelosigkeit erfassen müssen, meinen die Forscher, da es nicht nur visuelle Informationen über die Fall der Bälle erhielt, sondern das Fehlen der Schwerkraft auch am eigenen Körper oder an anderen schwebenden Objekten hätte erkennen könnte. Möglicherweise aber wurde das Lernen auch deswegen verzögert, weil das Spacelab mit erkennbaren Böden, Wänden und Decken und der Beleuchtung von oben weiterhin die gewohnte Oben-Unten-Ausrichtung suggeriert hat, die bei der Arbeit auch eingenommen wurde: "Unter diesen Bedingungen schenkt das Gehirn einem internen Modell der physikalischen Welt Glauben, in der sich ein Objekt, das sich unten bewegt, beschleunigen sollte."

Auch wenn sich das Gehirn also als schnell anpassungsfähig an eine neue Welt erwiesen hat, zeigt das Experiment die vom Gehirn konzipierten Modelle der Welt, die es entlasten, aber die gewissermaßen auf die Welt projiziert werden - und normalerweise im Fall der Schwerkraft beim Leben auf der Erde auch bestätigt werden.