Die subjektlose Herrschaft des Kapitals

Seite 2: Fetischismus: Die Selbstbewegung des Kapitals

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Allen tatsächlich gegebenen Verschwörungen zum Trotz: Da ist niemand hinter dem Vorhang, der in letzter Instanz die Strippen zöge, den Gang der Dinge des kapitalistischen Systems irgendwie "steuerte".

Die Menschheit unterm Kapital ist Objekt einer verselbstständigten, widersprüchlichen Dynamik, die sie unbewusst, marktvermittelt hervorbringt. Dieser als Fetischismus bezeichnete Prozess der Selbstbewegung des Kapitals konstituiert sich "hinter den Rücken der Produzenten", wie Karl Marx in einer berühmten Formulierung bemerkte.

Allgemein gefasst, ist der Kapitalismus als eine fetischistische Gesellschaftsformation somit dadurch gekennzeichnet, dass hier "der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert", wie es Marx in seinem Hauptwerk "Das Kapital" erklärte. Die den Subjekten gegenüber verselbstständigen fetischistischen Verwertungsformen des Kapitals "gelten ihrem bürgerlichen Bewußtsein" als eine "selbstverständliche Naturnotwendigkeit".

Dieser Fetischismus durchzieht alle Aggregatszustände, die das Kapital bei seiner Selbstbewegung, seinem Verwertungskreislauf durchläuft, bei dem mittels Warenproduktion und der Ausbeutung von Lohnarbeit aus Geld mehr Geld geschaffen wird (G-W-G): Ware, Geld, Arbeit.

Im Arbeitsprozess etwa wird der lohnabhängige Marktteilnehmer ("Proletarier") zum "variablen Kapital", zu der einzigen vom Kapital auf dem Arbeitsmarkt zu erwerbenden Ware, die durch ihre Arbeitsfähigkeit mehr Wert schaffen kann, als sie selber Wert ist. Die Arbeit ist dem Arbeiter "äußerlich", er fühle "sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich", wie es Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten formulierte.

Dieses Ausgeliefertsein an einen äußerlichen Arbeitsprozess, über dessen Ziel und Verlauf der Arbeiter keine Kontrolle hat, in dem seine Entäußerung Moment der fetischistischen Verwertungsbewegung des Kapitals ist, führt zur Ausbildung des bekannten, allgegenwärtigen Gefühls der Entfremdung im Kapitalismus.

Diese "gezwungene" Arbeit unterm Kapital diene nicht mehr der direkten "Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen", so Marx weiter. Ihre Fremdheit trete "darin rein hervor, daß(!), sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äußerliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung."

Ähnlich ohnmächtig scheinen die durch den Konkurrenzzwang voneinander isolierten Marktsubjekte, die nur marktvermittelt in den Warenaustausch treten, dem Warenfetischismus gegenüberzutreten. Der gesellschaftliche Charakter ihrer eignen Arbeit spiegele sich den Warenproduzenten als ein gegenständlicher Charakter ihrer Arbeitsprodukte wieder, so Marx in dem berühmten Fetischkapitel seines Hauptwerks "Das Kapital".

Die soziale, im Rahmen der Verwertungsbewegung erzeugte Wareneigenschaft, Wert zu haben (das in ihrem Herstellungsprozess aufgewendete Quantum notwendiger gesellschaftlicher Arbeitszeit), erscheint als eine Natureigenschaft dieser Dinge. Der einzelnen Ware scheint ihre Eigenschaft, Wert zu besitzen, genauso zuzukommen wie ihre sonstigen physischen Eigenschaften.

Da diese sozial konstituierte "Wertgegenständlichkeit" der Ware nur beim Warentausch auf dem Markt zum Vorschein tritt, scheint es den isolierten Produzenten so, als ob es sich hierbei um ein "außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen" handelte.

Die Dinge "verselbstständigen" sich also marktvermittelt gegenüber den Marktsubjekten, die sie selbst buchstäblich erarbeiten und in Warenform auf eben den Märkten feilbieten - beseelt von dem gesamtgesellschaftlichen Verwertungszwang des Kapitals. Diese Verselbstständigung des Kapitals tritt vor allem in der Finanzmärkte krass zutage, wo der Fetischismus sich in der abstrakten Geldform manifestiert - und die wichtigste Triebkraft für reaktionäre Krisenideologien samt dem antisemitischen Wahn bildet.

Gerade in Krisenzeiten, wenn mal wieder ein "Marktbeben" oder geplatzte Finanzblasen die Stabilität des gesamten Wirtschaftssystems bedrohen - wie zuletzt 2008 - wird evident, dass selbst die Kapitalistenklasse diese fetischistische und destruktive Dynamik des Kapitals keineswegs "unter Kontrolle" hat, dass der krisenhafte Gang der Dinge im Kapitalismus keineswegs von einer Verschwörung gesteuert wird.

Die fetischistische Realität im Kapitalismus ist somit tatsächlich gruseliger als die schlimmste Verschwörungsideologie. Die gesamte reelle Welt, Mensch wie Natur, sind nur Durchgangsstadien eines blind prozessierenden Akkumulationsprozesses abstrakten Reichtums, letztendlich abstrakter Quanta verausgabter, "toter" menschlicher Arbeit.

Die Gesellschaft ist aber ein notwendiges Anhängsel der amoklaufenden, realabstrakten Verwertungsbewegung des Kapitals, da Kapital nur durch Lohnarbeit und Ressourcenverfeuerung in der Warenproduktion verwertet werden kann. Soziale Existenz hat letztendlich nur das, was im Rahmen dieses blinden Kreislaufs der Kapitalvermehrung notwendig und finanzierbar ist: Also nur das, was zum Wuchern des Kapitals direkt oder indirekt beträgt.

Dies gilt nicht nur für die Kategorie der "Arbeitsplätze" in der Wirtschaft, sondern auch für den Staatsapparat in seiner Funktion als "ideeller Gesamtkapitalist" (Marx) oder sogar für die Kulturproduktion, die im Rahmen der neoliberalen Vermarktungsstrategien zur Standortoptimierung beizutragen hat - soziale Existenz unterm Kapital steht immer unter dem Vorbehalt ihrer "Finanzierung". Auf gesamtgesellschaftlicher, globaler Ebene agiert somit das Kapital als ein "automatisches Subjekt" uferloser, tautologischer Selbstvermehrung.

Die konkrete Welt ist somit nur "Material" dieser verselbstständigen, realabstrakten Selbstbewegung des Kapitals, das im uferlosen Wachstumswahn der Menschheit ihre sozialen und ökologischen Existenzgrundlagen entzieht.

Die globale Mehrwertmaschine des Kapitals verfeuert somit die Welt, um den irrationalen Selbstzweck uferlosen Kapitalwachstums möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eine anwachsende, ökonomisch "überflüssige" Menschheit, eine eskalierende ökologische Krise sind die Folgen dieser Selbstbewegung des Kapitals.

In einer Umkehrung der alten Fortschrittsromantik drängt sich somit das Bild eines beständig beschleunigenden, auf einen Abgrund zurasenden Zuges auf, einer außer Kontrolle befindlichen Maschine, angetriebenen durch die Selbstbewegung des Kapitals, die von den Marktteilnehmern unbewusst, konkurrenz- und marktvermittelt hervorgebracht wird. Der überlebensnotwendige, transformatorische Akt besteht darin, die Notbremse zu finden und zu betätigen.

Von den Menschen unbewusst hervorgebrachte gesellschaftliche Strukturen, die sich gegenüber den Individuen objektivieren; gesellschaftliche Dynamiken, die sich gegenüber den Subjekten verselbstständigen, die sie hervorbringen - diese absurde Form gesellschaftlicher Reproduktion, die die "Vorgeschichte der Menschheit" kennzeichnet, wird auf den Begriff des Fetischismus gebracht.

Somit sind die Menschen der "aufgeklärten" bürgerlichen Gesellschaft nichts anderes als finstere Fetischdiener. Herrschaft im Kapitalismus ist somit in letzter Instanz subjektlos, wie der Krisentheoretiker Robert Kurz in seinem Text "Subjektlose Herrschaft" ausführte, es herrscht das Kapitalverhältnis als fetischistische Realabstraktion.

Das innere Wesen des Kapitalverhältnisses geht laut Kurz nicht in der schnöden Raffgier all der kapitalistischen Menschenschinder auf, die in den neoliberalen Dekaden ihren (größtenteils fiktiven) Reichtum ins Obszöne steigern konnten:

Ihre "individuellen Zwecke" sind nicht das, was sie zu sein scheinen; es sind ihrer Form nach keine individuellen, selbstgesetzten Zwecke, und deswegen wird auch der Inhalt pervertiert und mündet in Selbstzerstörung. Das Wesen ist nicht, daß(!) die Individuen sich wechselseitig für ihre individuellen Zwecke benutzen, sondern daß(!) sie, indem sie dies zu tun scheinen, einen ganz anderen, überindividuellen, subjektlosen Zweck an sich selbst exekutieren: die Selbstbewegung (Verwertung) des Geldes.

Robert Kurz

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