Die subjektlose Herrschaft des Kapitals

Seite 3: Die Frage von Schuld und Verantwortung im Kapitalismus

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Die subjektiven, "betriebswirtschaftlichen" Ausbeutungsinteressen der Kapitalisten bilden demnach den äußeren Schein, der das fetischistische Wesen der irrationalen, subjektlosen Herrschaft des Kapitalverhältnisses auf "gesamtwirtschaftlicher" Ebene verdeckt.

Generell gilt: Das Kapital kann nur als gesellschaftliche Totalität begriffen werden; Versuche, die Reproduktionsverhältnisse einzelner Kapitale (Betriebe, Konzerne) auf das Gesamtsystem zu projizieren, münden letztendlich in Ideologie.

Sobald Menschen als Subjekte im Verwertungskreislauf des Kapitals agieren, werden sie zu Charaktermasken (Marx) ihrer jeweiligen Stellung um Akkumulationsprozess - ob als Fließbandarbeiter, Manager, Verkäufer oder Dienstleister ist in dieser Hinsicht einerlei. Sie sind nicht mehr "bei sich", sondern sie agieren als die Personifikation ihrer jeweiligen ökonomischen Funktion (dies bildet ja die Grundlage der besagten Entfremdungsgefühle).

Marx bezeichnet etwa den Kapitalisten in seiner Funktion als Charaktermaske als "personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein(!) begabtes Kapital", das als "Ausgangspunkt und Rückkehrpunkt" des Selbstzwecks der maßlosen Zirkulation des Kapitals fungiert. Der "objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck", so Marx in seinem Hauptwerk "Das Kapital".

Was hier aufscheint, ist die absurde Stellung des Marktsubjekts innerhalb des Automatismus der Kapitalverwertung. Das Kapital als automatisches Subjekt macht die Menschen einerseits zu Objekten seiner Verwertungsbewegung, zu Dingen, zu Waren, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt werden - und die sich dieser vermittelten Form der subjektlosen Herrschaft wie einem menschengemachten Naturgesetz mit einem unterschwelligen Gefühl von Ohnmacht anzupassen haben.

Zugleich besteht die einzige Chance, noch eine schale Imitation von Subjektivität auszuleben, darin, dass man als besagte ökonomische Charaktermaske daran mitwirkt, diesen Automatismus uferloser Kapitalverwertung "subjektiv" zu perfektionieren - und hierbei wiederum "die Anderen" zu Objekten degradiert und "den Dingen gleichmacht".

Innerhalb des nur zu realen Fetischismus, den das automatische Subjekt perpetuiert, sind die Insassen der kapitalistischen Tretmühle immer beides zugleich: Subjekt der Akkumulation und deren ohnmächtiges Objekt.

Alle Charaktermasken als Personifikationen ihrer jeweiligen ökonomischen Funktion fungieren folglich als Subjekt-Objekte der verselbstständigten Verwertungsbewegung, die sie selber perpetuieren, wobei das konkrete Verhältnis zwischen diesen beiden Polen von der konkreten hierarchischen Stellung im Reproduktionsprozess des Kapitals abhängt.

Und es ist eben diese hierarchische Stellung der Subjekte innerhalb des Automatismus der Kapitalverwertung, die auch bei der Frage nach der Kategorie der Schuld, der persönlichen Verantwortung berücksichtigt werden muss. Denn selbstverständlich spricht der Fetischismus des Kapitals die Akteure, die diesen exekutieren, nicht frei.

Das andere Extrem zur manischen Sündenbocksuche stellt ja ein ohnmächtiges Systemdenken dar, bei dem die gegenwärtigen Akteure in Wirtschaft und Politik exkulpiert werden. Bei dieser Sichtweise scheint es so, als ob die Verantwortlichen vor lauter Systemzwängen und objektiven Strukturgesetzten nicht mehr auszumachen wären.

Die konkreten Täter verschwinden hinter dem zerstörerischen Walten des automatischen Subjekts der kollabierenden Verwertungsdynamik des Kapitals. Insbesondere während der Griechenlandkrise - des brutalen Exempels, das Deutschland an Hellas exekutierte - haben sich die kleinbürgerlichen Verfallsprodukte der emanzipatorischen deutschen Linken auf diese bequeme Position zurückgezogen.

Dass der Fetischismus der kapitalistischen Gesellschaft, wo die marktvermittelten Handlungen der Marktsubjekte diesen als eine fremde, quasi-objektive Kraft entgegentreten, keineswegs zu einer Exkulpierung der Taten der Täter führt, hat der Krisentheoretiker Robert Kurz schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts dargelegt:

Wenn nun der gemeinsame Formzusammenhang von abstrakter Arbeit, Warenform, Staatsbürgerlichkeit usw. ins Blickfeld der Kritik rückt, wo bleibt da die Verantwortlichkeit? Kann man einen blinden Strukturzusammenhang, kann man das automatische Subjekt für irgend etwas verantwortlich machen, und sei es das größte Verbrechen? Und umgekehrt: Wenn die kapitalistische Barbarei letzten Endes in den stummen Zwängen der Konkurrenz usw. angelegt ist, sind dann nicht die barbarischen Taten der hässlichen Manager, der schmutzigen Politiker, der bürokratischen Krisenverwalter, der blutigen Schlächter des Ausnahmezustands irgendwie entschuldigt, weil immer bedingt und eigentlich durch die subjektlosen Strukturgesetze der "zweiten Natur" verursacht?

Eine solche Argumentation vergisst, dass der Begriff des automatischen Subjekts eine paradoxe Metapher für ein paradoxes gesellschaftliches Verhältnis ist. Das automatische Subjekt ist keine aparte Wesenheit, die für sich irgendwo dort draußen hockt, sondern es ist der gesellschaftliche Bann, unter dem die Menschen ihr eigenes Handeln dem Automatismus des kapitalisierten Geldes unterwerfen.

Wer aber handelt, das sind immer die Individuen selbst. Konkurrenz, künstlich erzeugter Überlebenskampf, Krisen usw. treiben die Potenz der Barbarei hervor, aber praktisch vollstreckt werden muss diese Barbarei von den handelnden Menschen, also auch durch ihr Bewusstsein hindurch. Und deshalb sind die Individuen auch subjektiv verantwortlich für ihr Tun, der hässliche Manager und der schmutzige Politiker ebenso wie andererseits der rassistische Arbeitslose und die antisemitische alleinerziehende Mutter.

Das ungeheuere Angst- und Drohpotential dieser Gesellschaft muss tagtäglich verarbeitet werden, und jeden Moment treffen die Individuen dabei Entscheidungen, die niemals völlig alternativlos sind - weder im alltäglichen kleinen noch im gesellschaftlich-historischen großen Maßstab. Niemand ist einfach nur eine willenlose Marionette, sondern alle müssen die haarsträubenden Widersprüche, die Ängste und Leiden dieses Banns selber ausagieren.

Deshalb ist es kein Widersinn, die notwendige Gesellschaftskritik auf die Ebene der sozial übergreifenden Strukturen, auf die abstrakte Arbeit und das automatische Subjekt zu richten, gleichwohl aber die handelnden Individuen für ihr Tun verantwortlich zu machen, auch wenn ihre gesellschaftliche Charaktermaske ihnen den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nahelegt.

Robert Kurz: Marx Lesen

Ein Donald Trump oder Jeff Bezos sind als Subjekte, die den widersprüchlichen Automatismus der Kapitalakkumulation auf politischer und wirtschaftlicher Ebene exekutieren, für ihre Taten verantwortlich. Dies gilt auch für einen Wolfgang Schäuble, der für all das voll verantwortlich, was er Griechenland und Südeuropa angetan hat; aber dies gilt auch für den kleinen gemeinen Forentroll, der für all die Hetze verantwortlich ist, die er im Netz absondert - auch wenn vermittels dieser Handlungen nur die systemische Krisendynamik auf politischer oder ideologischer Ebene exekutiert wird.

Wobei selbstverständlich die historische Schuld, die ein Egomane wie Trump oder ein Sparsadist wie Schäuble auf sich geladen hat, weitaus höher wiegt als die kläglichen Absonderungen eines einzelnen politischen Borderliners der Neuen Rechten in Zeitungsforen oder sozialen Netzwerken.

Die große Schuldfrage in Bezug auf die subjektlose Herrschaft des Kapitals lässt sich nun auch in Hinblick auf die Krisendynamik und Krisenideologie präzisieren: Die Krise als historischer Prozess ist Folge der zunehmenden inneren Widersprüche des Kapitals, die den Subjekten als zunehmende "Sachzwänge" gegenübertreten.

Konkret ist es die Tendenz des Kapitals, sich seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Lohnarbeit durch Automatisierung im Produktionsprozess zu entledigen (Siehe hierzu "Die Ursprünge der Krise"). Dies gilt nicht nur für die ökonomische, sondern auch für die ökologische Krise des Kapitals, das durch Produktionssteigerungen die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit immer schneller bei seinem fetischistischen Wachstumszwang verbrennen muss (Siehe hierzu: Kapital- und Klimakollaps).

Deswegen gilt es schlicht festzustellen, dass absolut niemand die Schuld am Krisenausbruch trägt. Und schon gar nicht ist die Krise von irgendwelchen Verschwörern "inszeniert" worden.

Die Krise brach gerade deswegen aus, weil die Marktsubjekte genau das immer effizienter tun, was das System von ihnen verlangt: Lohnarbeit verwerten zwecks uferloser Kapitalakkumulation. Je effektiver Lohnarbeit verwertet wird, desto größer der Druck, desto stärker zieht sich die Schlinge marktvermittelt um den Hals aller Marktsubjekte zu.

Die erste, in ideologische Verblendung führende falsche Frage, die sich dem verdinglichten Bewusstsein wie selbstverständlich bei Krisenausbruch aufdrängt, ist die nach der Krisenschuld.

Gerade umgekehrt wird ein Schuh draus: Persönliche Schuld muss im "Alltag" der Kapitalverwertung, im "Normalvollzug" der kapitalistischen Tretmühle gesucht werden: bei der konkreten ökonomischen Ausbeutung, der politischen Unterdrückung und der Ideologieproduktion, die den Automatismus des Systems am Laufen hält.

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