Die subjektlose Herrschaft des Kapitals

Seite 5: Was tun?

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Radikal zu sein bedeutet, ein Problem an seiner Wurzel zu fassen, um eine der Problemstellung adäquate Lösung zu finden.

Eben dies leistet das marxistische Klassenkampfdenken nicht. Nicht die Verteilung des warenförmigen Reichtums bildet den Kern der Krise, sondern die widersprüchliche Form, in der Reichtum um des irrationalen Selbstzwecks uferloser Kapitalakkumulation willen produziert wird - eben die Warenform selber.

Die krasse, sich immer weiter zuspitzende soziale Spaltung der spätkapitalistischen Gesellschaften ist gerade, wie dargelegt, Folge der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Wachstumszwangs des Kapitals.

Die Krise kann folglich nicht durch sozialdemokratische Umverteilung gelöst werden. Nicht die Erringung der "Kontrolle" über die kapitalistische Akkumulationsmaschinierie kann ein radikales Ziel sein (womöglich noch unter Führung einer diktatorischen Staats- und Kaderpartei), sondern deren grundlegende Transformation, um endlich die Herstellung von Gebrauchsgütern von ihrer Warenform, von dem fetischistischen Selbstzweck der Wertverwertung zu befreien.

Auch die "Demokratisierung" kapitalistischer Unternehmen, wie sie als direkte Arbeiterkontrolle in den linksliberalen Zirkeln der USA derzeit diskutiert wird, würde diese Kooperativen weiterhin den Zwängen der sich krisenbedingt verengenden Märkte aussetzen - und somit kaum etwas ändern.

Die Krise des Kapitals, das an seine inneren und äußeren Schranken stößt, kann folglich nur bei Überwindung der dargelegten fetischistischen Eigendynamik des Akkumulationsprozesses überwunden werden - denn es ist gerade diese unbewusst von den Marktsubjekten hervorgebrachte Verwertungsdynamik, die die ohnmächtigen menschlichen Gesellschaften und das globale Ökosystem verwüstet.

Letztendlich geht es um eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Reproduktion, indem diese direkt, durch einen gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozess organisiert wird, anstatt - wie derzeit - die Gesellschaft zu einem bloßen Durchgangsstadium eines blindwütigen, amoklaufenden Weltverbrennungsprozesses zu degradieren.

Postkapitalismus bedeutet somit im Kern, die bewusste Gestaltung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses durch die Gesellschaftsmitglieder - dies, wie ausgeführt, im Gegensatz zu dem gegenwärtigen Zustand, in dem die Menschen einer quasi-objektiven, fetischistischen Dynamik ausgesetzt sind.

Die kryptisch scheinende Bemerkung von Karl Marx, wonach die Überwindung des Kapitalismus "die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" abschließen würde, erhält so ihre Klarheit. Alle bisherige menschliche Geschichte vollzog sich unbewusst, im Rahmen von fetischistischen Gesellschaftssystemen: von religiösen Fetischismus der Frühzeit und des Mittelalters bis zur säkularisierten Religion des Kapitals.

And here is the thing: Die Krise ist ebenfalls ein irreversibler, fetischistischer Prozess. Sie wird ablaufen und es gibt keine Möglichkeit, das System langfristig zu stabilisieren, da die ewige Schuldenmacherei irgendwann auch in den Zentren an ihre Grenzen stoßen wird. Dies ist keine Zukunftsvision, sondern - vor allem in der Peripherie - bereits Realität.

Das an seinen Widersprüchen erstickende System produziert schon eine ökonomisch überflüssige Menschheit und kollabierende, als "failed states" bezeichnete Zusammenbruchsregionen, wie die es Flüchtlingskrise evident machte. Dasselbe gilt für die durch den kapitalistischen Wachstumswahn verursachte Klimakrise und deren monströse Folgen.

Es ist somit keine Frage des subjektiven "Wollens" der Gesellschaftsmitglieder, ob das kollabierende System überwunden wird. Es ist eine blanke Überlebensfrage menschlicher Zivilisation, letztendlich menschlicher Existenz, auf welche Art und Weise der kommende Transformationsprozess vonstattengehen wird: als chaotischer Zerfall, in Form der Errichtung einer brutalen, mörderischen Krisendiktatur, oder doch in eine progressive Richtung, die allen kommenden klimabedingten Verwerfungen zum Trotz der Menschheit neue emanzipatorische Perspektiven eröffnen würde.

Mehr noch: Dieser Transformationsprozess läuft bereits ab - und die zunehmenden politischen, ideologischen und auch militärischen Auseinandersetzungen sind gerade Ausdruck dieses unbewusst über die Menschheit ablaufenden Umbruchs, wie es der Soziologe und Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts erläuterte:

Wir leben in einer Phase des Übergangs von unserem existierenden Weltsystem, der kapitalistischen Wirtschaft, zu einem anderen System oder anderen Systemen. Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird. Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, sehr schwierig sein wird. … Es wird eine Zeit der Konflikte oder erheblicher Störungen … sein. Es wird auch, was nicht paradox ist, eine Zeit sein, in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird, was bedeutet, dass jede individuelle und kollektive Handlung eine größere Wirkung beim Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems.

Immanuel Wallerstein, Utopistik

Zivilisation oder Barbarei - dies sind die Extrempole in dieser historischen "Phase des Übergangs", wobei es die Neue Rechte ist, die mit ihrem Extremismus der Mitte, der ein Festhalten an den in Zerfall befindlichen Vergesellschaftungsformen (Nation, "schaffendes" Kapital, Staat) intendiert, der Barbarei eine breite Schneise schlägt.

Es sind gerade die extremen Seilschaften und Zusammenschlüsse in der Neuen Rechten, die sich mitunter bewusst auf die Krise - die sie als Folge einer Verschwörung gegen Deutschland imaginieren - vorbereiten: mit Todeslisten und Putschplänen. Eine beim nächsten Krisenschub angestrebte Diktatur soll dazu dienen, endlich mit der Linken durch Massenmord "aufzuräumen". Somit ist der Neofaschismus eine Art Brandbeschleuniger der Barbarei in der Krise.

Es gibt eine Maxime politischer Praxis, der linke Bewegungen, Gruppen oder auch Parteien im 21. Jahrhundert folgen müssten, wenn sie in der gegenwärtigen Umbruchs- und Krisenepoche noch ihrem Begriff gemäß als fortschrittliche gesellschaftliche Kräfte wirken wollten. Der Kapitalismus muss schnellstmöglich in Geschichte überführt werden, das Kapitalverhältnis als gesellschaftliche Totalität muss bewusst aufgehoben werden - an diesem kategorischen Imperativ hätten sich alle praktischen Aktionen, alle Taktik, alle Reformvorschläge, alle breiteren Strategien zu orientieren.

Dies ist kein Ausdruck linken Radikalismus, sondern die Formulierung des vernünftigen, mittleren, gemäßigten zivilisatorischen Minimums, ohne dessen Realisierung der Zivilisationsprozess im 21. Jahrhundert in Barbarei überführt, letztendlich in den Kollaps getrieben würde. Gerade weil das Kapital kollabiert, muss es überwunden werden. Fortschritt kann nur noch jenseits des Kapitals realisiert werden, im Transformationskampf um die Ausgestaltung einer postkapitalistischen Gesellschaftsformation.

Eine progressive Bewegung, getragen von der Einsicht in die Notwendigkeit der Systemtransformation, würde somit um die Herstellung von Bedingungen kämpfen, die diese Transformationsdynamik in eine emanzipatorische Richtung lenken würden. Die Maxime einer solchen Postpolitik bestünde einerseits in dem Bemühen, den Zivilisationsprozess aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, und andrerseits in dem Kampf um eine Überwindung des dargelegten Fetischismus.

Das Ziel einer progressiven Transformationsbewegung bestünde somit darin, den fetischistisch über die ohnmächtigen Menschen ablaufenden Zivilisationsprozess im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozesses bewusst zu gestalten. Die Formen, in denen sich eine sich ihrer selbst bewusste Transformationsbewegung im Rahmen der krisenbedingt zunehmenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen organisiert, würden so möglicherweise zu Keimformen einer postkapitalistischen Gesellschaft.

Bedingungsloses Wohnen und bedingungsloses Essen

Hierbei könnten soziale Forderungen formuliert werden, die bewusst das "Finanzierbarkeitsdenken" brechen. Beispielsweise wäre nicht mehr ein "bedingungsloses Grundeinkommen" die Maxime solcher sozialen Kämpfe, sondern bedingungsloses Wohnen und bedingungsloses Essen - und somit die Herstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die diese Selbstverständlichkeiten garantieren.

Es bleibt zu hoffen, dass bei aktuellen Protesten (gegen Mietenwahnsinn, Pflegenotstand usw.) genau das formuliert wird. Tut die Linke das nicht, so besteht die Gefahr, dass die Proteste im Sande verlaufen oder schlimmer: Dass die Linke Teil einer repressiven Krisenverwaltung wird, in der sie daran teilhat, Almosen und Stockschläge zu verteilen.

Die bürgerliche Politik, die Handlungen der politischen Subjekte sind somit wieder "wichtig", sie haben Gewicht. Nicht, weil sie die Krise lösen können, sondern weil sie den Krisenverlauf bestimmen. Ein Beispiel mag das illustrieren: Ob nun ein Schäuble Europa nach Ausbruch der Eurokrise auf neoliberale Hungerdiät (Austerität) setzt, oder ob der Krisenprozess sich im Rahmen gesamteuropäischer Konjunktur- und Sozialpolitik entfaltet, ist für die weitere Krisenentfaltung von großer Bedeutung, wie das Aufkommen nationalistischer und rechtsextremer Bewegungen im austeritätsgeplagten "deutschen" Europa illustriert.

Die zunehmenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gegen den Abbau des Sozialstaates, gegen Demokratieabbau und polizeistaatliche Tendenzen, um eine echte Klimapolitik müssten somit als Felder verstanden werden, auf denen die gesellschaftlichen Subjekte den Verlauf des objektiv sich vollziehenden Transformationsprozesses buchstäblich erkämpfen.

Und hier kommt auch dem Klassenkampf - sofern er sich seiner Rolle als Mittel in einem Transformationskampf bewusst ist - eine wichtige Rolle zu. Der Klassenkampf ist Teil des Kampfes um den konkreten Verlauf des Transformationsprozesses.

Welche Gesellschaft für die Transformation?

Dazu muss der Klassenkampf über sich selbst hinausweisen und eben nicht mehr primär auf Anerkennung oder soziale Gratifikationen im dahinsiechenden Kapitalismus zustreben, wie es die historische Arbeiterbewegung getan hat. Die historische Expansion des Kapitalismus und des Lohnarbeitsregimes war dazu die Voraussetzung, die heute angesichts der Krise eben nicht mehr gegeben ist.

Um es mal konkret zu machen: Die Krise als Maxime emanzipatorischer Praxis zu begreifen, bedeutet hier, sich zu fragen, welche spätkapitalistische Gesellschaft in den zwangsläufigen Transformationsprozess eintreten wird. Soll es eine autoritäre, polizeistaatlich verwaltete Oligarchie mit absurden sozialen Abgründen sein, oder ein eher egalitäres, bürgerlich-demokratisches Gemeinwesen, in dem auch weiterhin Spielräume für radikale Kritik und Praxis gegeben sind?

Oberflächlich betrachtet gleicht somit eine emanzipatorische Linke, will sie ihrem Begriff gemäß progressiv im Spätkapitalismus wirken, einer existenzialistischen Figur, vergleichbar dem Sisyphos des Albert Camus, die sich bewusst einer anscheinend absurden Praxis verschreibt. Der Kampf für soziale Verbesserungen gegen Demokratieabbau, für die Gleichstellung von Minderheiten, für den Green New Deal wird im vollen Bewusstsein der binnenkapitalistischen Vergeblichkeit dieses Kampfes geführt - angesichts der eskalierenden ökonomischen und ökologischen Systemkrise.

Doch hier endet schon die Analogie. Das Bewusstsein und die Rhetorik, mit denen dieser "Kampf um das Teewasser" geführt wird, ist entscheidend. Es gilt, den Menschen klar zu sagen, was Sache ist, dass die alte kapitalistische Welt im Sterben liegt, dass das Neue noch nicht geboren wurde - und dass es sich um einen Kampf gegen Sozialabbau, für Umverteilung, gegen Rassismus, Klimazerstörung und Kriegshetze, um einen Kampf um optimale Ausgangsbedingungen für die unausweichliche Systemtransformation handelt.

Durch diese Offenheit, die eigentlich nur das explizit macht, was an dumpfer Krisenahnung längst in der Gesellschaft unbewusst sedimentiert ist - gekoppelt mit Suche nach postkapitalistischen Organisationsformen innerhalb dieser Bewegung - könnte auch die falsche Unmittelbarkeit überwunden werden, die oft progressive Bewegungen im falschen Ganzen des Spätkapitalismus versanden ließ.

Unter falscher Unmittelbarkeit ist hier die Tendenz sozialer Bewegungen zu verstehen, unbewusst in Denkformen zu verharren, die den sozialen Zuständen und Widersprüchen entsprechen, gegen die sie sich eigentlich richten.

Ein Paradebeispiel hierfür sind etwa gewerkschaftliche Kämpfe gegen Arbeitsplatzabbau, die von den betroffenen Akteuren um ihres sozialen Überlebens Willen schlicht geführt werden müssen - die aber ohne entsprechendes Krisenbewusstsein die bestehenden Gedankenformen - hier das Denken in "Arbeitsplätzen" als einziger Option individueller Reproduktion - selbst in Krisenzeiten bei den Akteuren reproduzieren.

Solche notwendigen sozialen Kämpfe müssten somit mit einer radikalen emanzipatorischen Kritik an den in Zerfall übergehenden, kapitalistischen Daseinsformen und Gedankenformen gekoppelt werden, wie Robert Kurz ausführte:1

Die Aufgabe besteht also darin, die emanzipatorische Kritik an den objektivierten, sozial übergreifenden Daseinsformen bzw. Gedankenformen zu formulieren und von innen heraus im sozialen Kampf geltend zu machen, um dieses kategoriale Gefängnis bewusst zu durchbrechen. […] Es kommt darauf an, einen Willen gegen die herrschende Form des Willens zu entwickeln und deren Fetischcharakter bewusst zu machen.

Robert Kurz

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