Die subjektlose Herrschaft des Kapitals
Seite 4: Klassenkampf als Verteilungskampf
Während also niemand "Schuld" trägt an dem Ausbruch der Systemkrise, deren Dynamik sich quasi "hinter dem Rücken der Produzenten" (Marx) entfaltet, ist es gerade das alltägliche Funktionieren des Systems - die marktvermittelte Unterdrückung, Ausbeutung und Ideologieproduktion - in dessen Verlauf all die Individuen Schuld auf sich laden, die als "Charaktermasken" ihrer kapitalistischen Funktionen die Systemzwänge bewusst exekutieren.
Mehr noch: In Wechselwirkung mit der Krisendynamik wird gerade die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Lügenproduktion des Systems ins Absurde gesteigert.
Wenn die Ausbeutung der Lohnabhängigen immer weiter zunimmt wie in den neoliberalen Dekaden, so deutet dies auf einen systemischen Krisenprozess hin, der auf den Rücken der Lohnabhängigen perpetuiert wird. Und das gilt umso mehr, wenn ein "Normalarbeitsverhältnis" zur Ausnahme wird und, global betrachtet, immer mehr Menschen vom Kapital eigentlich gar nicht mehr ausgebeutet werden können, weil sie eben überflüssig sind und daher nichts anderes sind als "unnütze Esser".
Die obig geschilderte Zunahme der Ausbeutung, der Verelendung und Prekarisierung auch in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems, sie muss folglich als eine Systemreaktion auf einen tiefgreifenden, historischen Krisenprozess verstanden werden. Dies geschah in den 1980er Jahren in Reaktion auf das Auslaufen der Nachkriegskonjunktur in den 1970ern und die Krisenperiode der Stagflation, wie sie im 1. Teil der Textserie ("Die Ursprünge der Krise") dargelegt wurde.
Der Neoliberalismus setzte sich folglich nur deswegen durch, weil der Keynesianismus mit seinem Latein am Ende war. Insofern war der Neoliberalismus auch keine Art "Putsch" gegen eine angeblich heile sozialstaatliche Welt, wie von nicht wenigen Linken gern unterstellt wird.
Es ist gerade die absurd anmutende Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen den Massen der prekarisierten und pauperisierten Lohnabhängigen, sowie denn Fantastzillionen an größtenteils fiktivem Kapital, die einige wenige Milliardäre zu halten scheinen, die eben auf die Systemkrise verweist, die auch einen Mangel an profitträchtigen Investitionsmöglichkeiten in der realen Warenwirtschaft, eine entsprechende Verlagerung auf Spekulationstätigkeiten in der Finanzsphäre mit sich bringt ("Finanzialisierung des Kapitalismus").
Eben diese Krisenfolgen treten allen Akteuren als zunehmende, objektivierte Widersprüche oder "Sachzwänge" gegenüber. Die Subjekte reagieren systemimmanent mit einer Intensivierung der Konkurrenz darauf: Politiker und Staaten, die im Rahmen der Standortkonkurrenz Sozialabbau durchsetzen, Konzerne, die immer brutalere Formen der Ausbeutung finden, Lohnschreiber, deren Opportunismus bei der Ideologieproduktion keine Grenzen zu kennen scheint, Lohnabhängige, die verstärkt zu Mobbing übergehen.
Der marktvermittelte stumme Zwang der immer "härter" werdenden Verhältnisse nötigt die Charaktermasken ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion dazu, diesen bei Strafe des eigenen Untergangs zu exekutieren. Derjenige Kapitalist, der es im zunehmenden Konkurrenzkampf auf den "enger" werdenden Märkten nicht vermag, die Ausbeutung seines Menschenmaterials zu steigern, wird in der Krisenkonkurrenz untergehen. Dasselbe gilt für die kapitalistischen Volkswirtschaften als nationale "Standorte", die sich ebenfalls in einem krisenbedingten Wettlauf nach Unten befinden.
Die Hartz-Reformen mit ihrer intendierten Prekarisierungsstrategie und ihrer Exportfixierung waren somit "erfolgreich" - indem sie die Krisenfolgen bislang durch Schuldenexport auf andere Länder abwälzen konnten. Dasselbe gilt für die veröffentlichte Meinung: Der Hang zum Opportunismus in Politik und Medienbetrieb nimmt zu, oppositionelles Denken wird marginalisiert.
Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen scheint nun auch eine klare Einschätzung des Klassenkampfs möglich. Hierbei handelt es sich somit um einen Verteilungskampf innerhalb des Reduktionsprozesses des Kapitals, dessen Intensität von dessen konkreten, historischen Widerspruchsentfaltung bestimmt wird.
In Perioden starker ökonomischer Expansion wie in der Nachkriegskonjunktur bis in die 1970er können Formen der "Sozialpartnerschaft" zwischen den Funktionseliten des Kapitals und den Gewerkschaften als Vertretern der Lohnabhängigen (des "variablen Kapitals", wie es bei Marx heißt) aufkommen.
So lange die Märkte stark expandieren, können hohe Profite mit Löhnen vereinbart werden, die Lohnabhängige zu Konsumenten machen. Dies ändert sich relativ schnell in Krisenperioden, wenn es für jeden Kapitalisten vornehmlich darum geht, den irrationalen Selbstzweck der Kapitalakkumulation notfalls auch auf Kosten der eigenen Lohnabhängigen zu perpetuieren.
Dem Klassenkampf als Verteilungskampf wohnt somit keine objektive transformatorische Potenz inne. Es ist ein Kampf um Anteile an einer krisenbedingt abschmelzenden, realen Wertproduktion - ohne aber diese irrationale Form gesellschaftlicher Reproduktion infrage zu stellen. Der Klassenkampf (schlussendlich auch der historische Klassenkampf vergangener Zeiten) bewegt sich also in den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung (Wert, Arbeit, Kapital, Staat) und sucht Emanzipation und Anerkennung in diesen Kategorien, statt gegen diese.
Der sich verschärfende Klassenkampf ist somit ein Verteilungskampf. Die Militanz, mit der dieser krisenbedingt eskalierende "Klassenkrieg" (Warren Buffet) propagiert wird, verdeckt seine mangelnde Radikalität, da hier die Krisenursachen und die oben dargelegte fetischistische Form gesellschaftlicher Reproduktion im Kapitalismus, nicht reflektiert werden.
Die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse scheinen auch deswegen den Pauperismus früherer Zeiten zu ähneln, weil die historische "Aufstiegsphase" der Arbeiterklasse im 18. und 19. Jahrhundert soziale Parallelen zu der gegenwärtigen Abstiegsphase des Kapitals und der Arbeiterklasse aufweist. Das gegenwärtig um sich greifende Elend innerhalb der erodierenden Klasse der Lohnabhängigen in den Zentren des Weltsystems, es spiegelt somit das Elend ihrer historischen Ausformung.
Um es mal plastisch auszudrücken: Das Fundament, auf dem die Klassenakteure agieren, die Verausgabung von Lohnarbeit in der Warenproduktion, zerfällt zunehmend. Die einseitige Klassenkampfrhetorik verdeckt vor allem, dass die Klassen selbst krisenbedingt in Auflösung begriffen sind. Das Proletariat zerfällt in eben jene ökonomisch "überflüssige" Schicht von Menschen, die verzweifelt in die Kernregionen des kapitalistischen Weltsystems fliehen.
Der Kapitalist macht im Prozess der Verwilderung des Kapitals dem Oligarchen und letztendlich - im Endstadium des Krisenprozesses in der Peripherie - dem Warlord Platz.
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