Die vergiftete Diskussion um eine friedenspolitische Perspektive

Seite 2: Sind Sanktionen nicht auch Vertragsbrüche?

Wir müssen "Doppelstandards vermeiden", schrieb Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zurecht im Juli in einem Namensbeitrag für die FAZ. Wer sich über Vertragsbrüche Putins bei der Lieferung von Gas echauffiert, darf nicht einäugig unterschlagen, dass durch die inzwischen neun Sanktionspakete mit über 12.000 Einzelsanktionen gegen rund 1.200 Einzelpersonen und gegen 118 Organisationen, die die USA, die EU und insgesamt weitere etwa 40 Staaten des Westens verhängt haben, gleichfalls eine Vielzahl von Verträgen mit Russland aufgekündigt wurden.

Es ist doch naiv und widersprüchlich, wenn schon Monate vor der Drosselung der Gaslieferungen und lange vor dem offiziellen Embargo etwa vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz oder von der EU-Kommission ein sofortiger Stopp sämtlicher Gasimporte aus Russland gefordert wurde oder wenn von der Bundesregierung ein Einfuhrverbot für Kohle und Öl ausgesprochen wird, gleichzeitig zu erwarten, dass Putin das einfach so hinnimmt und nicht seinerseits bestehende Verträge aufkündigt? War dieser Boomerang-Effekt eines Lieferstopps eigentlich nicht zu erwarten?

Warum wurden eigentlich von der EU keine Sanktionen gegen die Uranlieferungen an die Atomkraftwerke in Europa verhängt? Wo man doch weiß, dass die EU rund 40 Prozent ihres Kernbrennstoffs von Russland und dem eng mit ihm verbündeten Kasachstan bezieht. Sollten die Franzosen sich da cleverer angestellt haben?

Sind die Sanktionen eigentlich völkerrechtskonform?

Auch wenn die westlichen Sanktionen nicht nach Art. 39ff. (41) der UN-Charta vom Sicherheitsrat beschlossen worden sind, wurde die Frage, ob diese völkerrechtskonform sind, allenfalls in kleinsten Fachzirkeln diskutiert. Viele Staaten halten solche einseitigen Sanktionen für völkerrechtswidrig.

Juristisch ist die Frage umstritten. So werden einerseits die westlichen Sanktionen im Vergleich zum völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg als verhältnismäßig eingestuft.

Andererseits beruht das Völkerrecht im Wesentlichen auf dem Gewohnheitsrecht, das heißt, es entfaltet seine Kraft letztlich dadurch, dass die Staaten die Normen einhalten, deshalb ist es keineswegs unproblematisch, wenn auf Völkerrechtsverletzungen mit Rechtsverletzungen geantwortet wird. Jedenfalls stehen die Sanktionen im Widerspruch zu der Berufung des Westens auf ein "regelbasiertes Zusammenleben" der Staaten.

Wird bei Sanktionspolitik mit zweierlei Moral-Maßstäben gemessen?

Damit die Saudis ein wenig mehr Öl pumpen sollten, begrüßte US-Präsident Joe Biden den von ihm nach dem grausamen Khashoggi-Mord als "Schurken" beschimpften arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman mit jovialem Faustgruß. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drückten dem Kronprinzen herzlich die Hand.

Dabei umgeht Saudi-Arabien das westliche Ölembargo und verdoppelte im zweiten Quartal dieses Jahres den Import von russischem Öl auf 48.000 Barrel pro Tag.

Im dortigen Königreich gibt es permanent Menschenrechtsverletzungen wie Massenexekutionen und Enthauptungen, Homosexuelle werden ausgepeitscht oder gar gehängt. Und ist der Krieg, den die Saudis im Jemen mit bisher fast 400.000 Toten führen, weniger grausam als Putins Krieg in der Ukraine?

Ist es so schwierig nachzuvollziehen, dass sich Staaten, die etwa die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, in der UN-Vollversammlung einer Verurteilung Russlands verweigern und dem Westen im Ukraine-Krieg Doppelmoral vorwerfen.

Die Saudis verhöhnen diesen Kotau des Westens sogar noch und wollen zusammen mit den Opec-Staaten mitten in der schwersten Energiekrise 2 Millionen Barrel Rohöl pro Tag weniger auf den Markt bringen – eine Drosselung von der wiederum auch Russland als Opec-plus-Mitglied profitiert, weil durch die Verknappung der Ölpreis steigen wird.

Die Doppelmoral wird dadurch auf die Spitze getrieben, dass der Bundessicherheitsrat mit den Stimmen von Habeck und Baerbock nun auch noch Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien genehmigte.

Man könnte eine stattliche Zahl an Beispielen aufzählen, wie mit der Sanktionspolitik gegen Russland mit zweierlei Maß gemessen wird.

  • Ich verweise etwa auf die EU-Vereinbarung über Gaslieferungen mit Aserbaidschan, das 2020 einen brutalen Krieg mit Armenien ausgefochten und erst vor ein paar Wochen sein Nachbarland erneut militärisch angegriffen hat.
  • Ein weiteres Beispiel ist der Kauf von umweltschädlichem Fracking-Gas aus den USA oder Katar, dessen Gewinnung bei uns verboten ist, oder man denke an den Abschluss langfristiger Gasverträge, die eine Transformation der Energieerzeugung auf erneuerbare Energien um Jahre zurückwerfen.
  • Auf eine Verurteilung der völkerrechtswidrigen Kriegsangriffe des Nato-Mitglieds Türkei gegen Kurden in Nordsyrien und Nordirak durch die Bundesregierung warten wir bislang vergebens. Usw. usf.

Können Sanktionen ganz grundsätzlich dazu beitragen, Kriege zu beenden oder einen Regime-Wechsel herbeizuführen?

Sanktionen gibt es seit der Antike. In der Gegenwart werden sie eingesetzt, um eine Verhaltensänderung eines Staates oder eines Regimes zu bewirken oder dessen Handlungsfähigkeit einzuschränken.

Keiner der Kriege seit 1990 weder in Afghanistan, noch in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Irak, Jugoslawien, Kuwait, Libyen, Serbien und Kosovo, Syrien oder Tschetschenien ist durch Sanktionen verhindert oder beendet worden.

Ob Sanktionen nach dem Zweiten Weltkrieg jemals zu einem Regime-Wechsel geführt haben, ist umstritten. Ob die Sanktionen einiger weniger Staaten zum Zusammenbruch des Apartheid-Regimes in Südafrika geführt haben, wird jedenfalls bezweifelt. Im Irak haben Sanktionen in der Bevölkerung eher Trotzreaktionen ausgelöst. Die seit 1979 gegen den Iran verhängten Sanktionen haben nicht zur Entmachtung das Mullah-Regimes geführt.

Die Schwächung der Wirtschaft eines gegnerischen Staates durch Sanktionen, schwächt nicht unbedingt auch das jeweilige dort herrschende Regime, das lässt sich in Syrien oder in Nordkorea beobachten. Sanktionen sind häufig nur der Versuch, die eigene Hilflosigkeit zu kaschieren.

Erwiesenermaßen haben die schon ab dem Jahr 2014 massiven Sanktionen, die vom "Westen" gegen Russland nach der Annexion der Krim verhängt wurden, Putin nicht daran gehindert, einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun zu brechen.

Auch die Androhung von – wie es hieß – "massiven Konsequenzen und hohen Kosten" schon vor diesem Krieg, nämlich auf dem EU-Gipfel im Dezember 2021, konnten den Einmarsch nicht aufhalten. In der gesamten Geschichte Russlands hat niemals eine Niederlage in einem Krieg zu einem Regimewechsel geführt.

Mit dem inzwischen schon neunten Sanktionspaket der EU wurde die simple Eskalationslogik immer nur beidseitig fortgesetzt, denn auch Russland eskalierte zuletzt mit einer Teilmobilmachung oder derzeit mit Raketenbeschuss auf nicht besetzte ukrainische Gebiete und mit der Zerstörung kritischer Infrastruktur im gesamten Lande. Mehr als 1.100 Orte und mehr als zehn Millionen Menschen waren in der Ukraine zeitweise ohne Strom – und das im strengen Winter.

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