Die vergiftete Diskussion um eine friedenspolitische Perspektive

Seite 3: Ist der Wirtschaftskrieg zu gewinnen?

Über die Auswirkungen der Sanktionen auf Russland gibt es völlig gegensätzliche Einschätzungen. Ich muss an dieser Stelle auf eine detaillierte Darstellung von wirtschaftlichen Auswirkungen sowohl auf Russland, als auch auf Deutschland, Europa, ja die ganze Welt verzichten. Ich will nur einen einzigen Aspekt herausgreifen, nämlich die Wirkung des Energieembargos.

Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa war 2021 der wichtigste Energie-Importeur aus Russland. 49 Prozent der russischen Erdölexporte, sogar 74 Prozent der Naturgasexporte und 32 Prozent der Kohleexporte gehen an die OECD-Länder Europas. Deutschland bezog im letzten Jahr noch 55 Prozent seines Gases aus Russland – inklusive des Gases, das wieder an andere EU-Länder weiter verteilt wurde – etwa an Polen.

Das immer wieder benutzte Argument, man dürfe mit den Importen von Energie nicht "Putins Kriegskasse auffüllen", ist höchst fragwürdig. Russland musste zwar aufgrund der Embargos insgesamt einen Nachfragerückgang hinnehmen, weil aber die Exportpreise auf dem Markt von Öl, Kohle und Gas im Schnitt um 60 Prozent gestiegen sind, lagen die Einnahmen unter dem Strich höher als vor dem Krieg – das errechneten mehrere westliche Marktforschungsinstitute.

Signale dafür, dass Russland wirtschaftlich in die Knie gezwungen werden könnte, sind bis jetzt nicht zu erkennen. Putin erklärte jedenfalls im Juni auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg, dass der wirtschaftliche "Blitzkrieg" gegen Russland keine Chance auf Erfolg habe, im Gegenteil: Er verkaufte die Sanktionen als "Chance" für sein Land.

Am 1. November 2022 beantworte die Bundesregierung eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke nach der "Erfolgskontrolle der Sanktionen gegen Russland". Dort heißt es u.a.: "Die Verhängung von Sanktionen gegen Russland folgt einer politischen Zielsetzung. Sie richtet sich nicht nach einzelnen wirtschaftlichen Kennzahlen aus." Und schließlich: Der Bundesregierung lägen keine Erkenntnisse vor, ob die Sanktionen gegen Unterstützer des russischen Präsidenten einen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der russischen Führung haben.

Im außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik werden mittlerweile erste Stimmen laut, die den "Wirtschaftskrieg" gegen Russland als "Irrweg" einstufen. So heißt es in einem Beitrag, den Heribert Dieter von der – hauptsächlich von der Bundesregierung finanzierten – Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) für das Fachblatt Internationale Politik (IP) verfasst hat:

Zwar zeigten die Sanktionen durchaus Wirkung – jedoch "ganz anders, als von den Sanktionsbefürwortern erwartet". Das gelte zunächst für "die Fähigkeit der russischen Gesellschaft, Sanktionen zu bewältigen", angesichts schon früherer Sanktionen habe sich in Russland eine Leidensfähigkeit entwickelt, die die Resilienz "westlicher Gesellschaften deutlich übersteigt".

Falsch eingeschätzt habe die Sanktionsallianz laut Dieter die Folgen der Sanktionen für den Finanzsektor. So habe etwa der Ausschluss russischer Banken vom Zahlungssystem Swift "die Suche nach Alternativen" befeuert.

Je länger die Sanktionen beibehalten würden, "desto mehr werden nichtwestliche Länder Wege zur Abwicklung von Zahlungen außerhalb des westlichen Finanzsystems finden", damit schade die Sanktionsallianz sich selbst. Und, um dem Ölembargo auf dem Seeweg auszuweichen, hat sich Moskau inzwischen eine "Schattenflotte" von Öltankern zusammengekauft.

Manche Kritiker befürchten, dass die vom Westen verhängten Sanktionen eher zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit den Kriegsherren im Kreml führten und im Lande sogar eine Wagenburgmentalität verbreiteten. So meint etwa die Enkelin von Nikita Chruschtschow, Nina Chruschtschowa, die als Professorin für Internationale Politik in New York lehrt und nach eigenen Worten eine Gegnerin Putins ist:

Disney, Microsoft, McDonald's – alle verlassen Russland. Es ist genauso, wie Putin sagt: Der Westen will uns an den Kragen. Und diese Botschaft ist jetzt viel wirkungsvoller geworden, weil die Russen es mit eigenen Augen sehen.

Putin gehe eben nicht zu McDonald's, er nutze auch kein Instagram.

Die Begüterteren kaufen ihre BMWs und Porsches über die Nachbarländer Belarus oder Kasachstan. Wenn man der FAZ glauben darf, dann herrschte zumindest in Moskau "unbeschwertes Sommerglück", mit vollen Regalen, mit frischem Gemüse und – wenn auch deutlich teurer – mit westlichen Produkten.

Nach einer Umfrage in Moskau vom Juni dieses Jahres machen sich 58 Prozent der Befragten wegen der Sanktionen wenig (27 Prozent) oder gar keine (31 Prozent) Sorgen.

Es mag vereinzelt offenen Widerstand geben, der jedoch, wo immer die russischen Sicherheitskräfte Zugriff haben, brutal unterdrückt wird. 16.000 Menschen, die sich öffentlich gegen den Krieg eingesetzt haben, sollen inzwischen verhaftet worden sein.

Es gibt zwar keine verlässlichen Stimmungsbilder, aber derzeit scheint noch immer eine Mehrheit der Russinnen und Russen vollständig oder weitgehend hinter der dort sogenannten "militärischen Spezialoperation" zu stehen. Ein Ergebnis, das allerdings angesichts der totalen Zensur, der Schließung von unabhängigen Zeitungen und Fernsehsender und massiver staatlicher Repressionen gegen Oppositionelle nicht erstaunt.

Es handle sich allerdings weniger um eine echte Unterstützung als um fehlenden Widerstand, sagt Lew Gudkow wissenschaftlicher Leiter des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Es ist auffallend, dass bislang keine einzige Großdemonstrationen für die Unterstützung der sog. "Militäroperation" organisiert worden ist. Die fehlende Unterstützung durch die Massen zeigt auch, dass der Einordnung des russischen Regimes als "faschistisch" – wie sie der Osteuropa-Historiker Timothy Snyder vornimmt – ein entscheidendes Element fehlt, nämlich die Massenpsychologie des Faschismus.

Inwieweit die jüngste Teilmobilmachung zu einem Stimmungswandel in Russland führt oder eher die letzten Reste des Widerstandes gegen den Krieg ins Ausland treibt, ist eine offene Frage. Das Pathos, das Putin bei der Verkündung der Mobilmachung an den Tag legte, könnte ein Indiz dafür sein, dass diese Einberufungen für das russische Machtsystem nicht ungefährlich sind – und zwar in zweierlei Hinsicht:

Die Mobilmachung kann einerseits ein Hinweis darauf sein, dass sich die Hardliner für ein härteres militärisches Vorgehen durchsetzten, worauf die Beförderung des tschetschenischen "Bluthundes" Ramsan Kadyrow und die Ernennung des – wie er genannt wird – "Generals Armageddon" Sergej Surowikin zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen hinweisen könnte. Auch die Söldnertruppe Wagner könnte für Putin zur Bedrohung werden.

Andererseits weisen die offene mediale Kritik an der Einberufungspraxis und die vom Kreml selbst eingeräumten Fehler und vor allem auch die Absetzbewegungen von inzwischen rund 700.000 wehrpflichtigen Russen in Nachbarländer darauf hin, dass die Unterstützung bei weniger ideologisch überzeugten Kriegsbefürwortern bröckelt. Immerhin sollen 30 Prozent der Russen für eine Beendigung des Krieges sein.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.