Die vergreisende Festung Europa

Die EU sieht sich nach einem Bericht über die langfristige Rüstungspolitik mit schwierigen Problemen von steigenden Ausgaben über eine älter werdende Bevölkerung bis hin zur schrumpfenden technischen Überlegenheit konfrontiert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Zukunft sieht schwierig aus, wenn man sie aus der Perspektive der Verteidigungsministerien sieht, die früher schlicht Kriegsministerien hießen. Die Menschen werden älter, die europäischen Länder weniger reich und umgeben von unsicheren Regionen wie Nordafrika und dem Nahen Osten sein. Die Gelder für die Rüstung werden mit denen für die Renten immer stärker konkurrieren müssen, es wird größere Schwierigkeiten geben, noch genügend Soldaten zu finden. Die Menschen werden, auch angesichts der gegenwärtigen Erfahrungen, nicht mehr so einfach für militärische Interventionen zu gewinnen sein und lieber mehr Geld für Sicherheit als Verteidigung ausgeben.

Mit solchen Prognosen haben sich die EU-Verteidigungsminister kürzlich auseinander gesetzt. Der Bericht An Initial Long-term Vision for European Defense Capability and Capacity Needs, der die möglichen Probleme der Zukunft aufwarf und von den Verteidigungsministern begrüßt wurde, stammte von der noch jungen Europäischen Verteidigungsbehörde (European Defence Agency), die aufgrund eines Ratsbeschlusses 2004 gegründet wurde, um die Verteidigung der Mitgliedsländer zu bündeln und eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vor allem eine europäische Rüstungspolitik für die gemeinsame Forschung und Entwicklung, auszuarbeiten.

Während man – zumindest noch – in den USA über einen wachsenden Verteidigungshaushalt wacht, um dem Rest der Welt militärisch und technologisch überlegen zu sein und den begonnenen lange Krieg gegen den Terrorismus führen zu können, sind die Europäer angeblich anderes ausgerichtet. Die militärischen Operationen werden, so heißt es im Bericht, multinational und multidimensional sein, den Charakter von Expeditionen haben und weniger auf einen Sieg als auf die Erzielung von Sicherheit und Stabilität ausgerichtet sein. Die EU habe sich, so die Voraussetzung des Berichts, als „globaler Sicherheitsakteur“ definiert. Gleichwohl müssten die Verteidigungsausgaben erhöht werden, um nicht zu sehr hinter die USA, aber auch den asiatischen Ländern zurückzufallen. Die USA geben derzeit sechs Mal mehr Geld für Forschung und Entwicklung aus als die EU-Mitgliedsländer und investieren 35% des Verteidigungshaushalts, während es in der EU nur 20% sind. Dadurch würde sich die Rüstungsindustrie mehr den USA zuwenden, während die übrigen Länder, allen voran China und Indien, bis zum Jahr 2025 die EU wirtschaftlich und militärisch überholen könnten. Die EU werde zwar weiterhin wirtschaftlich langsam wachsen, die Einbuße der technischen Überlegenheit, gleich ob es sich um Informations-, Bio- oder Nanotechnologie handelt, sei aber nur eine Frage der Zeit.

Ausgegangen wird davon, dass es auch kaum noch klassische Kriege mit großen Truppen gibt, die nach dem Ende politischer Verhandlungen mit dem Einsatz großer Gewalt die feindlichen Truppen zu vernichten suchen. Jetzt gehe auch im Krieg das Industriezeitalter in das Informationszeitalter über und vermischen sich kriegerische Handlungen zunehmend mit Politik und Medien. Sie würden „normalerweise unter undurchsichtigen Bedingungen gegen einen verborgenen Feind unter harten Einsatzregeln und einer durchgängigen Medienbeobachtung“ stattfinden. Damit werden die Beachtung internationaler Abkommen, der Menschenrechte und der Legitimät der Einsätze –UN-Mission - ebenso wie die präzise Anwendung von Gewalt und die Folgen für die Umwelt immer bedeutsamer. Kriege oder eher: Interventionen finden in einem zunehmend komplexen Umfeld stattfinden. Da es womöglich oft gar nicht mehr um Kampfeinsätze ginge, müssten die Soldaten für viele Aufgaben der Stabilitätssicherung ausgebildet sein.

Zunächst hätten die Streitkräfte auch noch einen Vorteil durch die technische Revolution, der Gegner würde aber die neuen Techniken zunehmen übernehmen können, weswegen die Verteidigung im Unterschied zu früher stärker auf Entwicklungen ziviler Techniken zurückgreifen müsse. Die Streitkräfte könnten nicht von einem andauernden Vorteil ausgehen, da in offenen Gesellschaften und einer globalen Ökonomie sich das Wissen „endemisch“ verbreite. Zugang, Kontrolle und Verbreitung von Information sei auch zu einem neuen Schlachtfeld geworden. Flexibel müssten die Truppen jedenfalls sein, um von (präziser) „kinetischer“ Gewalt überzugehen zu Angriffen auf Computernetze, zur Verwendung von elektromagnetischen oder Mikrowellen-Waffen und zum Einsatz von militärischer Täuschung oder psychologischen Operationen.

Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Die Proliferationsrisiken nehmen immer mehr zu; ohne Gegenmaßnahmen werden terroristische Netze immer gefährlicher. Staatlicher Zusammenbruch und organisierte Kriminalität breiten sich aus, wenn ihnen nicht entgegengewirkt wird - wie in Westafrika zu sehen war. Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.

“Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie 2003

Bei allen Möglichkeiten, die Militärausgaben europaweit durch gemeinsame Organisation effektiver zu machen, und unter der unterstellten Notwendigkeit, mehr Geld in Investitionen zu stecken, bleiben die Ausgaben für das Personal der größte Posten. Über 50% der Verteidigungsausgaben der EU-Mitgliedsländer sind Personalkosten. Die jetzige Truppenstärke liegt bei 2 Millionen. Hier gäbe es zwar Einsparungspotenziale durch stärkere Professionalisierung, Outsourcing, Abbau überflüssiger Kapazitäten etwa bei Panzern oder Kampfflugzeugen und Automatisierung, also durch Verlagerung auf “Roboter”. Da jedoch für Interventionen zur Friedenssicherung oder Stabilisierung Technik nicht ausreiche, müssten weiterhin ausreichend Soldaten („boots on the ground“) vorhanden sein. Dazu werden steigende Ausgaben durch die nach der Sicherheitsstrategie antizipierte Notwendigkeit kommen, vermehrt Auslandseinsätze durchzuführen, die sich, wie sich seit dem Balkan und seit Afghanistan sehen lässt, über viele Jahre hinziehen können.

Gegenüber anderen globalen Playern in der Sicherheitspolitik hat die EU ein besonders Problem: die sinkenden Geburtszahlen. Zwar werde die Bevölkerungsgröße in etwa stabil bleiben, aber vor allem durch eine längere Lebenserwartung. 2025 betrage das Durchschnittsalter der Europäer bereits 45 Jahre, während sie nur noch 6% der Weltbevölkerung stellen. Zu erwarten sei daher eine wachsende Konkurrenz um junge, gut ausgebildete und kampffähige Menschen. Die Altersgruppe der 16-30-Jährigen, die das Rekrutierungspool bildet, schrumpfe bis 2025 um 15 %. Mit dieser Umschichtung der Bevölkerung steigen in Europa einerseits die Gesundheits- und Rentenkosten enorm an und drücken aus der Sicht der Sicherheitspolitik auf den Militärhaushalt, zumal wenn die Wirtschaft kaum wächst und immer weniger Steuerzahler vorhanden sind. Teurer werden aber durch die Konkurrenz um jungen Menschen gleichzeitig zudem die Personalkosten, weil der Job als Soldat auch finanziell attraktiver gemacht werden muss.

Allerdings wächst die Bevölkerung vor allem in Afrika und den arabischen Ländern weiterhin stark, während die wirtschaftliche Lage für die jungen Menschen überwiegend schlecht bleiben wird, während gleichzeitig die Klimaerwärmung zu weiterer Verwüstung führen wird. Dadurch wächst nicht nur weiter der Einwanderungsdruck auf die „Festung Europa“, sondern hier gäbe es, was der Bericht allerdings nicht thematisiert, durch eine offensive Einwanderungspolitik auch die Möglichkeit, die Bevölkerung zu verjüngen, um den Wohlstand zu erhalten. Gleichzeitig kämen die jungen Menschen aus den übervölkerten Gebieten womöglich auch für die Anwerbung als Soldaten der vergreisten, aber immer noch relativ reichen Festungsbewohner in Frage, die womöglich – und sei es durch Outsourcing an so genannte Private Sicherheitsdienstleister – auch für die Absicherung der Grenzen eingesetzt würde, da vermutlich Europa nicht nur am Hindukusch oder im Libanon, sondern zunehmend mehr auch an den Mittelmeerküsten „verteidigt“ werden dürfte.