Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?
Seite 5: Die Frage nach der individuellen Freiheit
Timo Rieg: Da sind wir bei der Frage nach der individuellen Freiheit, denn diese Möglichkeit gab es schon die ganze Zeit. Nicht die Impfung natürlich, aber die individuelle Quarantäne. Jeder, der noch mobil war, hatte sich jederzeit in einen persönlichen Lockdown versetzen können. In diese Richtung argumentiert beispielsweise der Philosoph Markus Gabriel, der sagt, wir hätten viel mehr Freiheitsangebote statt Vorschriften gebraucht. Also beispielsweise Homeoffice als Option, als Rechtsanspruch statt als Pflicht. Wo bleibt bei Ihnen diese individuelle Freiheit?
Man kommt sich ja schon lange vor wie ein Rädchen im Getriebe des Volkskörpers, das halt zu funktionieren hat, ob jetzt mit Maske, Warn-App, Impfung oder welchen Geschichten auch immer. Wo wurde ernsthaft über die Freiheit diskutiert? Freiheitsforderungen wurden lächerlich gemacht nach dem Motto: Du empfindest die Maßnahmen als Eingriff in deine Persönlichkeit und willst dafür das Leben anderer opfern. Das war natürlich immer Populismus. Ich bin da weiterhin Fan der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789, in deren zweiten Artikel es heißt:
Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.
Wobei die Rechte Eigentum, Sicherheit und Widerstand eigentlich in "Freiheit" schon enthalten sind. Und in Artikel vier heißt der erste Satz:
Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.
Das ist ein Dokument, auf das sich letztlich alle Demokratien dieser Welt bis heute berufen, denn genau so beansprucht Demokratie zu sein. In den Corona-Diskussionen habe ich davon aber nichts gespürt.
Thomas Brussig: Als diese Erklärung, die ohne Zweifel eine Sternstunde der Zivilisation war, in Worte gefasst wurde, waren wir nicht in einer Pandemie. Da gab es vielleicht gar nicht die Phantasie, dass wir in Zustände kommen können, wo wir uns das nicht leisten können. Freiheit ist eine großartige Sache. Aber wenn ein Virus das Zepter schwingt und dies lebensbedrohlich sein kann, dann müssen wir neu darüber nachdenken.
Und ich will ja nicht grundsätzlich neu über die Freiheit nachdenken, sondern nur unter den Bedingungen einer Pandemie. Ich will die Freiheit einschränken, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, um das Virus zu eliminieren, damit wir zu dem alten, geliebten Leben zurückkehren können.
Timo Rieg: Das leuchtet mir aber gar nicht ein. Erstens gab es Pandemien immer wieder, das ist ja nun nichts Neues, zweitens passt der Grundsatz natürlich auch zur Pandemie. Sobald ich mit meiner Freiheitsausübung die Freiheit anderer tangiere, müssen wir verhandeln - aber eben erst dann.
Thomas Brussig: Entschuldigung, es hat zwar große Pandemien gegeben wie die Pest, aber die waren so selten, dass sie immer ein Ausnahmezustand waren.
Timo Rieg: Natürlich ist eine Pandemie ein Ausnahmezustand, wie eben - ich provoziere jetzt bewusst - jede Erkältung ein Ausnahmezustand von unserem normalen Leben ist. Aber sie ist nichts, was bei den grundsätzlichen Überlegungen zur Freiheit punktuell neu berücksichtigt werden müsste. Wir regeln das gesamte Leben im Hinblick auf Ausnahmezustände, für alle Eventualitäten. Wir schließen Versicherungen ab für die unwahrscheinlichsten aller Unglücksfälle, eben weil wir mit dem Ausnahmezustand rechnen, weil wir uns ihn zumindest vorstellen können. Virus-Epidemien sind da nun wirklich keine Besonderheit.
Thomas Brussig: Das fiese an dem Corona-Virus ist, dass es besonders ansteckend ist, wenn die Infizierten selbst noch nichts merken. Daher geben sie das Virus so leicht weiter. Wenn ich die Einschränkung von Freiheiten fordere, dann nicht, um jemanden zu unterdrücken, sondern um Schutzlose zu schützen.
Natürlich könnte man sagen: Allen, denen das egal ist, die können auf die Straße, und allen denen das nicht egal ist, die müssen halt zuhause bleiben. Aber das ist nicht fair, da muss eine andere Abwägung getroffen werden. Was die Freiheiten angeht: Ich halte es für richtig, dass die Geimpften und von Corona Genesenen ihre Freiheiten zurückbekommen. Das wurde immer als "Sonderrechte" verhandelt, aber das ist Quatsch, da bin ich völlig neidlos.
Wer keine Gefahr für andere ist, der soll auch keinen Einschränkungen unterworfen sein. Das war für mich immer Teil einer wissenschaftlichen Rationalität. Wenn es um die Pandemiebekämpfung geht, dann würde ich von einer Corona-Diktatur auch erwarten, dass sie Geimpfte und Genesene anders behandelt als diejenigen, die sich noch infizieren können.
Timo Rieg: Da gehe ich völlig mit. Denn natürlich ist es kein Sonderrecht, wenn jemand keinen unsinnigen Regelungen unterliegt. Es muss der Normalfall sein. Es bedarf der Begründung, Freiheiten einzuschränken, und wo es diese Begründung nicht gibt, darf es die Freiheitsbeschränkung nicht geben, das muss doch eine Selbstverständlichkeit sein - war es jedoch leider nicht.
Aber zurück zu Ihrem Gedankenspiel der Eigenverantwortung: Es gab durchaus von Anfang an auch die Meinung, der Staatsapparat habe mit seiner Macht auf diejenigen zu fokussieren, die sich nicht selbst schützen können, die also nicht frei entscheiden können, ob sie in den Lockdown gehen wollen oder nicht. Pflegebedürftige können sich natürlich nicht in Klausur begeben, aus dem Kontakt mit Pflegern zurückziehen.
Aber genau da sind die meisten Todesfälle zu verantworten, dort, wo Menschen ohne eigene Entscheidung anderen Menschen begegnet sind, vorwiegend eben Pflegern, Ärzten, anderen Patienten oder Heimbewohnern. Da wurde lange Zeit gar nichts getan. Stattdessen gab es Besuchsverbote.
Warum aber darf die Oma im Seniorenwohnheim nicht selbst entscheiden, ob sie noch mal ihre Enkel sehen möchte, bevor sie stirbt, und sei es um das Risiko einer Corona-Infektion? Klar, dann mit der üblichen Quarantäne hernach, um andere im Wohnheim nicht zu gefährden. Aber solche Entscheidungsfreiheiten gab es nie.
Die Selbstbestimmung der Menschen war völlig außer Kraft gesetzt, sie galt nichts mehr. Diejenigen, die Ihrer Ansicht nach für die richtigen Entscheidungen zuständig sind, haben entschieden, was ein gutes Leben ist, was ein gutes Sterben ist. Krankenhäuser haben in ihrer kapitalistischen Selbstherrlichkeit entschieden, wer wen wann wie besuchen darf.
Da gab es so unglaublich viele Regelungen, die jeder Wissenschaft Hohn sprechen, die schlicht absurd waren. Da durften Patienten dann von nur einem Menschen pro Woche für maximal eine Stunde besucht werden. Was für ein Schwachsinn! Ist das Infektionsrisiko höher, wenn diese eine Person, mit Mundschutz, negativem Corona-Test und so weiter, zwei Stunden oder vier Stunden da ist? Einige Zeit später galt dann im selben Krankenhaus die Regel: täglich ein Besucher pro Patient für eine Stunde. Wer gestern da war, durfte heute nicht nochmal kommen, wenn schon ein anderer da gewesen war. Es war absurd.
Freiheit hat überhaupt keine Rolle gespielt. Aber so ist es eben immer, wenn mal jemand Macht gerochen hat. Ganz aktuell: der berühmte Sieben-Tage-Inzidenzwert bewegt sich Richtung Grenze zur Nachweisbarkeit, aber der Bundestag hat trotzdem nochmal die "Epidemische Lage von nationaler Tragweite" nach dem neuen §5 des Infektionsschutzgesetzes ausgerufen.
Schon zu Beginn der Corona-Maßnahmen konnten wir in den Zeitungen Meldungen der Art lesen, dass zwei Jugendliche aus verschiedenen Haushalten von der Polizei ein Bußgeld aufgebrummt bekommen haben, weil sie gemeinsam im Auto zu McDonald's gefahren sind - das war doch von Anfang an verrückt, unter dem demokratischen Gesichtspunkt: Haben diese beiden Jugendlichen jetzt ernsthaft in die Freiheitsrechte anderer eingegriffen, dass eine drakonische Strafe folgen muss?
Wenn es keine Rolle mehr spielt, ob ich tatsächlich die Rechte anderer mit meiner Ausübung von Rechten verletzte, dann sind wir bei sturer Regelbefolgung und letztlich beim Kadavergehorsam: Ist halt so, machen wir jetzt so, keine Diskussionen.
Thomas Brussig: Was mich an Ihren Beispielen aufregt ist nicht die Einschränkung von Freiheit, sondern die Sinnlosigkeit von Maßnahmen. Ich habe Probleme mit sinnlosen Maßnahmen, nicht mit der Einschränkung von Freiheiten. Die Pandemie muss bekämpft werden, dafür braucht es auch Freiheitseinschränkungen, aber über sinnlose Maßnahmen kann ich mich genauso aufregen wie Sie.
Timo Rieg: Zum Wesen von Freiheit gehört, dass nicht Experten oder die Mehrheit entscheidet, ob sie relevant ist. Sonst können wir uns die freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Grundgesetz gleich komplett klemmen. Zu Ihrer Argumentation aber noch zwei Anmerkungen.
Zum einen ist es nie überzeugend, eine Tat, ein Vorhaben, eine Bestimmung damit zu rechtfertigen, es habe in der Vergangenheit schon mal etwas Ähnliches gegeben. Es gibt jede Menge einfachgesetzliche Einschränkungen unserer Grundrechte, daraus ergibt sich aber nicht, dass beliebig weitere hinzunehmen sind.
Ich sage mal Unverletzlichkeit der Wohnung, die ist ja das Papier nicht wert, auf dem sie steht, weil für jeden Pups Hausdurchsuchungen genehmigt werden oder die Polizei einfach mal Gefahr in Verzug sieht und tätig wird. Und derart gibt es jede Menge, worüber demokratisch zu diskutieren wäre.
Es stehen zwei Fragen im Raum. Zum einen, ob Ihrer Ansicht nach selbst eine demokratische Mehrheit Corona-Maßnahmen nicht ändern können sollte, weil es schlicht um Ihrer Ansicht nach Richtiges geht, und das soll durch eine mehrmonatige Corona-Diktatur durchgesetzt werden. Und zum anderen, was Grundrechte wert sind, wenn sie nach Belieben an- und ausgeschaltet werden können. Vor Corona war Heribert Prantl eine Leitfigur im Journalismus, mit seinem Pochen auf die Freiheitsrechte auch in Corona-Zeiten haben sich viele Kollegen von ihm abgewendet.
Thomas Brussig: Wir haben es bei der Pandemie mit einem Virus zu tun, das wir nicht überstimmen können. Es verbreitet sich nach Naturgesetzen. Hunderttausende haben auf den Intensivstationen gelegen. Wenn man dort gelandet ist und künstlich beatmet wird, ist es auch nicht mehr weit her mit der Menschenwürde, zumal wenn man weiß, dass dieser Zustand vermeidbar gewesen wäre. Die Grundrechte werden von einigen Leuten mit einem fürchterlichen Pathos belegt, als ob Grundrechtseingriffe und Eingekerkertwerden das Gleiche wäre.
Timo Rieg: Eingekerkert wird doch. Wir sollten nicht nur von uns ausgehen, wir beide kommen da vermutlich ganz gut durch. Aber was ist mit denen, die in Alten- und Pflegeheimen leben, dort völlig fremdbestimmt sind, keinen Besuch empfangen durften, alleine auf ihrem Zimmer essen mussten, nicht mehr ins Freie gekommen sind? Sie konnten kein Formular unterschreiben, dass sie auf eigenes Risiko nochmal ihre Enkel sehen wollen. Der paternalistische Staat und die kapitalistischen Pflegekonzerne haben für sie entschieden.
Thomas Brussig: Da kenne ich mich mit den Details nicht aus, aber ja, wenn es keine Gefahr für andere darstellt, dann sollten natürlich auch Menschen im Pflegeheim selbst entscheiden dürfen, was ihnen wichtiger ist, Familienkontakt oder Risikominimierung. Aber der Skandal war doch, dass es für das Pflegepersonal keine Impfpflicht gab.
So wurden ausgerechnet die Schwächsten einer unnötigen Gefahr ausgesetzt. Es war vielleicht eine demokratische Entscheidung und sicher eine zugunsten der Freiheit, aber es war keine gute. Da würde ich von Ihnen gerne mal hören, dass Sie auch ein Problem mit solchen Freiheiten haben.
Timo Rieg: Sie werfen da aber einen Spezialfall in den Topf der allgemeinen Freiheitsrechte. Dass bestimmte Berufe bestimmte Anforderungen stellen ist völlig normal, da lasse ich mich aber idealerweise freiwillig drauf ein, weil ich nicht in einen Beruf gezwungen werde. Gegen die Impfpflicht von Pflegepersonal wurden seinerzeit verschiedene Argumente angeführt, nicht nur die individuelle Freiheit, sondern beispielsweise auch die simple Angst, damit Personal zu verlieren, wo man doch eh zu wenig habe.
Mit den ständigen Testungen ist das aber wohl ohnehin kein nennenswertes Thema mehr. Viel wichtiger wäre mir festzustellen, dass eben objektiv sehr vieles falsch gelaufen ist, das sehen wir wohl ähnlich, wenn auch aus ganz verschiedenen Blickwinkeln.
Menschen sind nicht nur trotz, sondern auch wegen der Behandlung im Krankenhaus gestorben, aber wir haben ja von Anfang an alle Mitarbeiter des Gesundheitssystems als Helden heilige gesprochen und damit pauschal von jedwedem Fehler freigesprochen.
Viele Maßnahmen waren unsinnig, viele kontraproduktiv, wie etwa die Verkürzung von Öffnungszeiten. Die exekutive Politik hatte schon jede Menge Macht und hat sich mit schnellen Gesetzesänderungen noch mehr Macht geholt, und Sie fordern die Corona-Diktatur, damit noch schneller durchgesetzt werden kann, was irgendwelche Experten für richtig halten, ohne sich um die Komplexität dieser Welt zu scheren, ohne Nebenwirkungen und Kollateralschäden überhaupt nur zu berücksichtigen?
Und wie passt Ihre Corona-Diktatur zu Ihrem behaupteten Fable für aleatorische Demokratie? Denn da sieht das Verfahren nun mal immer so aus, dass zwar alle Experten, Lobbyisten, Betroffene etc. gehört werden, ihre Empfehlungen, Bedenken und Weisheiten vortragen, die Entscheidung aber gerade bei ausgelosten Bürgern liegt, als repräsentative Vertreter des Souveräns.
Thomas Brussig: Wie die Pandemiebekämpfung in einer aleatorischen Demokratie ausgefallen wäre, wissen wir beide nicht. Möglich wäre ja, dass ein ausgelostes, repräsentatives Panel von Mitbürgern den Ratschlägen der Wissenschaft gefolgt wäre. Die Politik ist den Ratschlägen jedenfalls nicht gefolgt.
Timo Rieg: Meine Gretchenfrage hier ist, wie Sie es mit Losbürgerversammlungen halten, derzeit unter dem Namen "Bürgerrat" populär. Angenommen, es hätte zu Corona repräsentativ per Los zusammengesetzte Versammlungen gegeben, die akkurat nach dem Stand der Deliberationsforschung mit allem benötigten Input über Maßnahmen beraten hätten. Würden sie deren Ergebnis blind als demokratisch akzeptieren und der Corona-Diktatur vorziehen, oder hinge das davon ab, ob Ihnen die Ergebnisse gefallen?
Thomas Brussig: Demokratisch wäre ein solches Verfahren, aber wäre es auch effektiv? Die Legitimität eines Verfahrens ergibt sich doch aus seiner Problemlösungskompetenz. Wenn ein System in der Lage ist, die Daseinsfragen der Menschen zu lösen, hat es Legitimität, andernfalls nicht. Wir wären etwas armselig, wenn wir die Demokratie um ihrer selbst willen toll fänden. Natürlich gibt es Probleme, die die Politik nicht lösen kann. Aber diejenigen, die lösbar sind, soll sie bitte lösen. Tut sie das nicht, wenden wir uns von ihr ab. Wir können ja nicht etwas gut finden, das gegen unsere Interessen gerichtet ist.
Timo Rieg: Aber "unsere Interessen" sind eben verschieden, konkurrierend, widersprüchlich. Deshalb habe ich auf die Freiheit gepocht, die nur dort Grenzen findet, wo wir in die Freiheit anderer eingreifen. Sie hingegen sehen höhere Ziele, denen sich die Freiheit unterzuordnen hat.
Thomas Brussig: Von höheren Zielen habe ich nie gesprochen.
Timo Rieg: Aber von Entscheidungen, die für Sie ohne Zweifel, ohne Diskussion und ohne Abstimmung richtig sind und daher umgesetzt werden sollen, womit Sie diese über alles andere stellen. Für Sie gibt es eine richtige Politik, wenn sie wissenschaftlich evident ist.
Thomas Brussig: Ja, aber nur unter den Bedingungen der Pandemiebekämpfung, wo Leben und Gesundheit geschützt werden müssen.
Timo Rieg: Sie haben in ihrem Essay "Mehr Diktatur wagen" als Gedankenspiel ein Virus genommen mit der Infektiosität von Corona aber der Tödlichkeit von Tollwut. "Da wäre es glatter Selbstmord, für Ratschläge aus der Wissenschaft erst nach Mehrheiten, Kompromissen und Konsensen zu suchen", schreiben Sie. Auch da gäbe es zwar meiner Ansicht nach mehr zu berücksichtigen, aber nehmen wir das mal so.
Wie ist es dann bei geringerer Tödlichkeit? Wo ist die Grenze? Wer legt die fest? Muss jetzt nicht bei jeder Infektion die Wissenschaft entscheiden, wie wir zu leben haben? Bei jeder Grippe, jeder Kinderkrankheit? Und beim Klimawandel, bei ökonomischen Problem, halt bei allem, das Einfluss auf die Lebensqualität haben kann? Was definiert den Ausnahmezustand, der Ihre Kurzzeit-Diktatur der Wissenschaft rechtfertigt?
Thomas Brussig: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Damit müssten sich die Ethiker beschäftigen. Es hat sicher viel damit zu tun, wie schutzlos der Einzelne ist. Wenn du dich selbst gut schützen kannst, sind diktatorische Freiheitseinschränkungen nicht geboten. Vielleicht kann man AIDS als Beispiel nehmen. Kondome schützen, aber ihre Benutzung wurde nicht zur Pflicht. Jeder kennt das Risiko, jeder kann sich schützen.
Timo Rieg: Ich versuche es ein letztes Mal. Übergehen wir mal die erste Schockwelle, von der es immer heißt, niemand hätte gewusst, was zu tun ist, weil ja alles so fürchterlich neu war. Das halte ich zwar auch für Blödsinn, denn mit was bitte soll der ganze Katastrophenschutz gerechnet haben wenn nicht mit einer Pandemie - mit der Landung von Marsmenschen vielleicht? Aber geschenkt.
Doch spätestens ab letztem Sommer war doch dann alles soweit klar, dass man viel stärker auf die Eigenverantwortung hätte setzen können und die Politik hätte sich konzentriert auf diejenigen, die sich tatsächlich nicht selbst schützen können. Und wenn es wirklich um die Belastungsgrenzen des Gesundheitswesens gegangen wäre, warum konnte man dann nicht unterschreiben, dass man sich auf eigenes Risiko noch im Land bewegt und im Erkrankungsfall keinen Anspruch auf ein Krankenhausbett erhebt, wenn die Kapazitäten knapp sind?
Thomas Brussig: Es hat ja die Vorschläge gegeben, die Coronaleugner nicht zu behandeln, aber das ist auch unethisch. Man hat auch ein Recht auf Irrtum.
Timo Rieg: Die Corona-Maßnahmen tangieren aber doch auch andere. Niemand weiß bisher, welche Folgeschäden das alles hat. Kindern fehlt praktisch ein Jahr Entwicklung, soziale Entwicklung genauso wie die ihres Immunsystems, um nur zwei Bereiche zu nennen. Alles wurde weggewischt mit der Argumentation, es ginge um Leben und Tod, dahinter habe alles andere zurückzustehen und mit Geld könne man es schon gar nicht verrechnen. Was natürlich völliger Quatsch ist, denn das tun wir ständig.
Wenn die Gesundheit das höchste Gut wäre, dann dürfte es keine Kulturförderung geben und tausend andere staatlich finanzierten Dinge. Dann würden die Armen endlich gesundes Essen bekommen, anstatt sich mit dem Hartz-Satz von rund 5 EUR pro Tag durchschlagen zu müssen.
Thomas Brussig: Es musste schnell gehen, wir wurden von der Entwicklung doch überrollt. Als wir die Bilder aus Bergamo gesehen haben war klar, dass wir sowas auf keinen Fall bei uns erleben wollen. Da wurde dann zurecht nicht über Freiheitsrechte gesprochen. Die Politik musste viel improvisieren, das hat mehr schlecht als recht geklappt. Nächstes Mal muss es besser laufen.
Das Gespräch zum Nachhören gibt es als Podcast auf der Website www.aleatorische-demokratie.de
Nachfolgend ist der Essay von Thomas Brussig wiedergegeben, in dem die Idee einer "Corona-Diktatur" vorgestellt wird. Er wurde zuerst in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.
Thomas Brussig
Thomas Brussig (*1964 in Berlin) hatte 1995 seinen Durchbruch als Autor mit "Helden wie wir". Sein bekannter Roman "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" (1999) wurde von Leander Hausmann verfilmt. Es folgten u.a. die Bücher "Wie es leuchtet" (2004), "Das gibt’s in keinem Russenfilm" (2015) und "Die Verwandelten" (2020) sowie das Musical "Hinterm Horizont". Seine Werke wurden in über 30 Sprachen übersetzt.
Timo Rieg
Timo Rieg (*1970 in Bochum) hat Biologie und Journalistik studiert. Seine Bücher zur Demokratieentwicklung sind "Verbannung nach Helgoland" (2004) und "Demokratie für Deutschland" (2013).