Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?

Seite 4: Die Wissenschaftler

Timo Rieg: Medizin und Virologie sind aber nur ein oder zwei Aspekte unter potenziell unendlich vielen. Die Virologen haben sich zum Beispiel ständig zum Lockdown geäußert, obwohl das überhaupt nicht ihr Gebiet ist. Sie forschen dazu nicht, und wie Sie selbst sagten: der Lockdown ist etwas völlig Neues. Wir hatten in der Bundesrepublik schlicht noch nie einen Lockdown, da kann auch die Wissenschaft nicht viel aus Empirie sprechen. Dass sich ein Virus nicht von A nach B verbreitet, wenn A und B weit genug auseinander sind, kann sich jedes Schulkind überlegen, das ist noch nicht Wissenschaft.

Thomas Brussig: Ich glaube nicht, dass sich Virologen zum Lockdown äußern. Sie werden sich zu Kontaktbeschränkungen äußern.

Timo Rieg: Aber sicher doch. Lesen Sie mal die "Coronavirus Update"-Folgen mit Drosten nach. Da steht "Lockdown" oft schon im Titel oder Teaser.

Thomas Brussig: Ich sage ja nicht, dass allein Virologen die Entscheidungen treffen sollen. Aber dass sich in diesem Frühjahr praktisch alle Wissenschaftler - Virologen, Epidemiologen, Mathematiker, Kinderärzte - enttäuscht geäußert haben, sie hätten der Politik doch gesagt, wie es gehen soll, aber die haben nicht darauf gehört, das ist auch kein Zustand.

Timo Rieg: Allerdings sagen "die Wissenschaftler" auch schon seit Jahrzehnten, dass alles, was wir so machen, vom Wohnungsbau über den Verkehr, Heizen, Mobilität, Güterverkehr, Kanalisation etc., verkehrt läuft, und allmählich wird eine Fehlentwicklung nach der anderen angegangen, von der Ernährungswende bis zur Sanitärwende. Was aber eben auch heißt, die Demokratie selbst stellt ständig fest, dass vorangegangen Entscheidungen dieser Demokratie kolossaler Quatsch waren.

Und wird dürfen davon ausgehen, dass auch die nächste Generation wieder über ganz vieles, was unsere Epoche gemacht hat, verzweifelt ausrufen wird: "Wie konnten die nur so dumm sein!?" Das ist offenbar das Ergebnis unserer Demokratie, mit permanenter intensiver Konsultation der Wissenschaften, die Sie ja als Instanz für richtige Entscheidungen sehen. Glauben Sie wirklich, nur in der Politik werden Eigeninteressen vertreten und die Wissenschaft ist frei davon?

Thomas Brussig: Ich beobachte die Wissenschaft als ein System mit anderen Währungen. Wenn du dich als Politiker irrst, ist da gar nichts, aber wenn du dich als Wissenschaftler irrst, ist das dramatisch, da bezahlst du einen anderen Preis für.

Timo Rieg: Da Sie auch Fan aleatorischer Verfahren sind: Sollten wir nicht die Mitglieder künftiger Wissenschaftler-Boards zur Beratung der Politik auslosen, damit garantiert keine Eigeninteressen vertreten werden? Jede Disziplin, die in einem Expertengremium vertreten sein soll, benennt zehn oder fünfzig kompetente Vertreter, von denen dann jeweils ein oder zwei per Los in das Gremium kommen, und das natürlich nicht auf ewig, sondern immer mal wieder neu ausgelost? Dann sind dort bei einer Pandemie Brinkmann oder Drosten oder Streeck eben nicht dauerhaft Mitglied, sondern nur mal für einige Wochen, wenn ihnen das Losglück hold ist.

Thomas Brussig: In der Wissenschaft gibt es Maßstäbe für die Qualifikation, unter anderem die Anzahl der Veröffentlichungen und wie oft jemand zitiert wird. Deshalb würde ich eher auf ein solches Ranking setzen, also die Qualität, nicht auf den Zufall. Bei aleatorischer Demokratie geht es um Repräsentativität, bei der Wissenschaft geht es um Kompetenz.

Timo Rieg: Ich hoffe doch, dass es in jeder Wissenschaft mehr als zwei Leute gibt, die man als kompetent bezeichnen kann, so dass da schon eine große Gruppe für die Auslosung zur Verfügung stünde, aus der eben Repräsentanten gelost werden können. Aber selbst wenn wir nun weiterhin auf angeblich irgendwie objektiv feststellbare Kompetenz setzen und nur "die Besten" ins Beraterkollegium holen: Brauchen wir dann nicht wenigstens zur Bewertung und Gewichtung deren Empfehlungen die Repräsentativität des Souveräns, also Bürgerinnen und Bürger?

Denn zumindest da haben wir doch bisher die riesige Verzerrung. Warum sitzt denn Herr Lauterbach Woche für Woche bei Lanz? Der hat doch überhaupt keine spezielle Expertise, seine einzige Rolle ist die des Bürgervertreters im Parlament, und doch ist er Chef-Kommentator der Corona-Politik geworden, als gäbe es nicht noch 708 andere Abgeordnete und 83 Millionen weiter Einwohner in diesem Land. Wenn wir nicht wenigstens da mal losen, wo denn sonst - so unter Freunden aleatorischer Verfahren?

Thomas Brussig: Lauterbach hat schon Ahnung, er ist Epidemiologe.

Timo Rieg: Aber es gibt Tausende, die mal Epidemiologie studiert haben. Wenn ich mir zum Beispiel den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie anschaue, der ja möglicherweise kompetent auf dem Gebiet ist, dann taucht da niemand auch nur annähernd so häufig in den Medien auf wie der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach, der noch nicht einmal Mitglied des Gesundheitsausschusses im Bundestag ist.

Thomas Brussig: Ich sehe einfach, auch wenn ich mich wiederhole, dass der ganze Prozess der Pandemiebekämpfung in Deutschland suboptimal gelaufen ist, dass nicht die richtigen Entscheidungen getroffen wurden, sondern falsche oder unwirksame Maßnahmen ergriffen wurden. Das wirft Fragen auf, weil anderswo zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Maßnahmen ergriffen worden sind.

Timo Rieg: Nehmen wir das aktuelle Thema Impfung von Kindern. Da brauche ich keine Wissenschaft zu befragen, um zu wissen, dass sie unterschiedliches raten wird. Der Epidemiologe wird im Kind den möglichen Virenverbreiter sehen und deshalb die schnellstmögliche Impfung fordern, um Übertragungswege zu unterbrechen. Kinderärzte hingegen werden aus ihrer Profession heraus selbstverständlich sagen, Kinder sollten nicht geimpft werden, soweit sie nicht individuelle Risiken haben, weil Kinder nun mal praktisch nie nennenswert an Corona erkranken, das sagt schlicht die Empirie.

Und dann könnten wir noch zig andere Wissenschaftsdisziplinen befragen, zu den sozialen Verwerfungen, die durch den Clash of Cultures von Geimpften und Nichtgeimpften entstehen, oder was eigentlich die Immunologie zu dem Ganzen sagt und so weiter. Wer entscheidet jetzt, was richtig ist? Weiterhin die Epidemiologie, weil es um ein Virus geht? Oder irgendeine Humanwissenschaft, weil es um den Menschen geht? Oder sonst wer?

Thomas Brussig: Die Ständige Impfkommission hat keine Empfehlung für die Kinderimpfung ausgesprochen, weil das Risiko für Kinder gering ist und der nötige Aufwand das nicht rechtfertigt. Und trotzdem gibt es kein Impfverbot für Kinder. Da hat sich die richtige Meinung, sprich Wissenschaft, bislang durchgesetzt.

Timo Rieg: Das klingt aber eher nach einem Kompromiss als nach der einzig wahren Wahrheit. Denn die Alten könnten immer noch von Kindern infiziert werden.

Thomas Brussig: Die Alten können sich ja schützen, indem sie sich impfen lassen.