Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?

Seite 6: Anhang: Mehr Diktatur wagen. Essay von Thomas Brussig

Mehr Diktatur wagen
Man sollte die Corona-Leugner endlich beim Wort nehmen: Die Pandemie erfordert den Ausnahmezustand.
Thomas Brussig

Die Corona-Krise ist auch bei sinkender Inzidenz eine Ohnmachtserfahrung geblieben. Trotz aller Beschränkungen des täglichen Lebens, trotz Impfbeginn ist ein Ende der Zumutungen nicht absehbar - obwohl es einige wenige Länder vermochten, das Virus auszuschalten. Die coronabedingte Ohnmachtserfahrung wurzelt darin, dass wir die Corona-Krise mit den Mitteln der Demokratie bewältigen müssen.

So wie Sigmund Freud die "drei Kränkungen der Menschheit" ausmachte (erstens das kopernikanische Weltbild, das den Menschen aus dem Zentrum des Universums verstieß, zweitens der Darwinismus, wonach der Mensch nicht von Gott, sondern vom Affen abstammt, und drittens die Psychoanalyse, der zufolge er nicht selbstbestimmt, sondern aus ihm verborgenen, unbewussten oder triebhaften Motiven heraus handelt), so gibt es inzwischen die drei Kränkungen des Demokraten.

Dabei war vor nicht mal dreißig Jahren das liberale Selbstbewusstsein auf dem Höhepunkt. Marktwirtschaft und Demokratie hätten der populären These vom "Ende der Geschichte" zufolge so überzeugend triumphiert, dass ihrer weltweiten Ausbreitung nichts mehr im Wege stünde.

Diese Überzeugung wurde zunächst durch das chinesische Wirtschaftswunder erschüttert, das die gängige These widerlegte, dass Demokratie zur Marktwirtschaft gehört wie der Senf zur Bockwurst. Die Marktwirtschaft im Ein-Parteien-Staat glänzt mit Wachstumsraten, Wohlstand und technologischen Spitzenleistungen, ob in Architektur, Raumfahrt, KI. Die zweite Kränkung des Demokraten besteht in Trump und Brexit, also in Erfahrungen der Jahre 2016 bis 2020, die eine demagogische Verwundbarkeit von Demokratien offenbarten.

An Trump verstörte nicht nur, dass eine solche Figur überhaupt Wahlen gewinnen konnte, sondern mit wie wenig Widerstand er sich als peinlicher Präsident durchs Amt randalierte, ohne aus dem Weißen Haus gekegelt oder durch die viel gerühmten "Checks and Balances" gehindert zu werden.

Selbst seine Abwahl war keine Sternstunde der Demokratie; sie war eine tagelange Zitterpartie. Der Brexit hingegen machte Demokratie zur Karikatur: Nach einer Volksabstimmung, die etwa fifty-fifty ausging, kuschten die Vertreter der klügeren Hälfte vor der dümmeren, geringfügig größeren Hälfte, indem sie das Kuschen zum "Respekt vor der demokratischen Entscheidung" schönredeten.

Drei folgende Wahlen (zweimal Unterhaus, einmal Europaparlament) machten den Brexit endgültig zum demokratisch eingebetteten Wahnsinn. Die dritte Kränkung für den Demokraten findet sich in der Corona-Krise, und sie liegt in der Ohnmacht einer Demokratie, den Werkzeugkoffer des erfolgreichen Pandemiebekämpfers auszupacken.

Würde das Virus immer zum Tod führen, würden die Ministerpräsidenten abwägen?

Zwar gibt es Demokratien, die der Pandemie Herr wurden (zum Beispiel Australien, Neuseeland, Taiwan und Südkorea), aber es handelt sich um Staaten mit einer (Quasi-)Insellage, was unter Ausbreitungsgesichtspunkten Wettbewerbsverzerrung ist. Und leider findet sich - wieder mit China, ausgerechnet - auch ein Beispiel, dass ein autoritär verfasstes Land das Virus schnell loswurde und die zweite Welle rasch zum Erliegen brachte.

Ist diese "Impotenz der Demokratie" ein eingeschriebener Makel, oder kann der Pandemiebekämpfer seinen Werkzeugkoffer auch in einer Demokratie auspacken? Nun, der effektive Pandemiebekämpfer muss auf der Höhe der Forschung sein. Der demokratische Pandemiebekämpfer hingegen muss eine Mehrheit gewinnen, einen Konsens bilden und einen Kompromiss finden. Derlei ist der Wissenschaft fremd. Als Albert Einstein in der Frühzeit der Relativitätstheorie mit einem Buch "Hundert Autoren gegen Einstein" konfrontiert wurde, soll er gesagt haben: "Hätte ich unrecht, wäre einer genug."

Wie mit dem Coronavirus umzugehen ist, ist Behau der Wissenschaft, und nur der Wissenschaft. Dazu ein Gedankenexperiment: Angenommen, es gäbe ein Virus, so hervorragend übertragbar wie das Coronavirus, aber so tödlich wie der Tollwut-Erreger; eine Infektion wäre also das sichere Todesurteil. Da wäre es glatter Selbstmord, für Ratschläge aus der Wissenschaft erst nach Mehrheiten, Kompromissen und Konsensen zu suchen.

Soweit das Gedankenexperiment. Nun zurück zur Realität, in der das Coronavirus nicht jeden Erkrankten tötet, sondern nur einen von etwa 30. Dieser Umstand gaukelt vor, es gäbe Spielräume. Nur: Ab welchem Schwellenwert hat die Wissenschaft das Sagen? Wenn jeder Zweite stirbt? Genügt bereits jeder Zehnte? Die Antwort: Ab dem Punkt, an dem die Lage ernst ist. Und wenn täglich Menschen sterben in der Größenordnung von Flugzeugabstürzen, ist sie schon lange ernst.

Die weiche Stelle unseres Systems zeigt sich in der Schwerfälligkeit und Unfähigkeit, notwendige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Die Politik führt ihre Debatte von der Wissenschaft entkoppelt, viel zu oft fragen Politiker, "was" beziehungsweise "wie lange man (es) den Menschen noch zumuten kann". Als käme es darauf an. Hier tobt ein Virus, mit dem sich weder verhandeln noch das sich überzeugen oder einschüchtern lässt.

Wollen wir das Virus loswerden, sind wir gezwungen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Dank der Wissenschaft wissen wir, welche Maßnahmen nötig sind, wir wissen sogar, welchen Preis wir zahlen müssen, wenn sie ausbleiben. Natürlich kann dagegen polemisiert oder protestiert werden, Prognosen können nach Belieben dramatisiert oder verharmlost werden. Aber das Geschehen wird durch einen Akteur dominiert, dem das alles egal ist.

Ist das Virus gebannt, kehren wir gerne zurück zur geliebten Normalität

"Mehr Diktatur wagen!" wäre das Gebot der Stunde. Dass ausgerechnet die Corona-Leugner eine "Corona-Diktatur" heraufziehen sehen, sollte erst recht Grund sein, sie zu wollen. Die Leugner sind außerstande, die Gefahr durch das Virus einzuschätzen, aber sie ahnen, wie ihr beizukommen ist. Ist das Virus gebannt (wie schnell das gehen kann, machten Südkorea oder Singapur vor), kehren wir zurück zur geliebten Normalität. Dass uns die Pandemie in einen Ausnahmezustand versetzt, ist wörtlich zu nehmen. Der Regelzustand bleibt die Demokratie, mit ihren Freiheiten und Grundrechten.

Vermutlich haben die viel gerühmten "Väter des Grundgesetzes" in ihrem nachvollziehbaren Eifer, ein Bollwerk gegen eine Wiederholung der Nazidiktatur zu schaffen, vergessen, dass während einer Seuche die Ausübung von Grundrechten eine Gefahr für die Gesamtbevölkerung darstellen kann. Natürlich steht der Schutz des Lebens an oberster Stelle, was denn sonst.

Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ergibt sich aus der Frage nach ihrer Wirksamkeit; unwirksame Maßnahmen bedürfen weder des Beschlusses noch der Umsetzung. Das klingt banal und ist es auch - aber ein Blick in die Realität zeigt, dass Unwirksames (wie Böllerverbot oder die 15-Kilometer-Auflage für Landkreise ab 200er-Inzidenz) zur Umsetzung gelangt, hingegen das sehr wertvolle "Scharfstellen der App" in der politischen Debatte keine Rolle spielt.

So wird die App-Pflicht zwar von Wissenschaftlern und Zivilgesellschaft aufgeschlossen diskutiert und direkt gefordert, doch von den Mandatsträgern will sich niemand am Reizthema Datenschutz die Finger verbrennen. Selbst Karl Lauterbach, der sich für keine Zuchtmeister-Geste zu schade ist, redet lieber einem Böllerverbot das Wort, als einer um die Fesseln des Datenschutzes entledigten App.

Covid-19 ist zwar dramatisch genug, um seit Monaten die Nachrichten zu dominieren - aber nicht dramatisch genug, um Überzeugungen über Bord zu werfen, die daran hindern, das Nötige zu tun. Wären wir dazu in der Lage, läge Covid-19 längst hinter uns. Die Rezepte sind bekannt.

Die Demokratie sollte ihre Rituale und Umständlichkeiten nicht so wichtig nehmen, ihrer Legitimität zuliebe. Nichts wäre ihr so abträglich wie der Verdacht, dass sie nur um ihrer selbst willen existiert, jedoch nicht, weil sie die heutigen Probleme besser lösen kann als andere Staats- und Regierungsformen. Corona elektrisiert alle, das Virus hat einen Lernprozess ausgelöst und eine Bereitschaft, neu über vermeintliche Gewissheiten nachzudenken. Es wäre fatal, wenn die Lektion in der dritten Kränkung des Demokraten bestünde: dass Demokratien es nicht hinkriegen.