Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?
Seite 2: "Wer legt fest, was die richtige Entscheidung ist?"
- Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?
- "Wer legt fest, was die richtige Entscheidung ist?"
- Die Freiwilligkeit als Sargnagel
- Die Wissenschaftler
- Die Frage nach der individuellen Freiheit
- Anhang: Mehr Diktatur wagen. Essay von Thomas Brussig
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Timo Rieg: Etwas nicht gut zu finden ist aber etwas anderes als zu wissen, was nun tatsächlich getan werden muss. Beim Brexit wissen Sie es: Es hätte ihn nicht geben dürfen.
Thomas Brussig: Beim Brexit sind auf demokratischem Wege nicht die richtigen Entscheidungen zustande gekommen. Und da überlege ich, wie vernünftige Entscheidungen zustande kommen können. Es geht nicht um Entscheidungen, die ich gut finde, sondern dass sie vernünftig sind. Sie müssen nicht mehrheitsfähig sein.
Timo Rieg: Was soll eine vernünftige Entscheidung sein, die nicht mehrheitsfähig sein muss? Ein Dekret des Philosophenkönigs?
Thomas Brussig: Bei der Pandemie ist es klar. Es wären Entscheidungen gewesen, um schneller mit dem Virus fertig zu werden, weniger Einschränkungen zu haben und weniger Opfer. In anderen Ländern ist es gelungen, diese richtigen Entscheidungen zu treffen.
Timo Rieg: Wer legt fest, was die richtige Entscheidung ist? Ob Sie nun wollen, dass möglichst schnell kein Virus mehr nachweisbar ist oder möglichst schnell keine Neuinfektionen mehr auftreten, schon ein solches Ziel muss ja irgendwer in seiner Weisheit festlegen. Der demokratische Prozess sollte genau andersherum laufen: der Souverän diskutiert - überwiegend via Medien und im persönlichen Kreis - und entscheidet, was er haben möchte, die Politik setzt es um.
Thomas Brussig: Wer ist der Souverän und wie sagt der, was er will?
Die Vorgaben
Timo Rieg: In unserem System bilden nur und schlicht die Wahlberechtigten den Souverän, das kann man diskutieren, aber irgendeine Festlegung wird es immer geben, ist aber hierfür unspannend. Und für die Konsultation schlagen wir doch wohl beide gemeinsam ausgeloste Bürgergruppen vor, derzeit laufen sie vor allem unter dem Namen "Bürgerrat".
In der aleatorischen Demokratie würden solche Bürgerräte das Parlament mit Berufspolitikern ersetzen, aber auch ohne diese Utopie: eine solide Beratung mit allem Wenn und Aber, mit allen verschiedenen wissenschaftlichen Blickrichtungen, mit allen Lobbygruppen, mit allen guten und absurden Ideen, wäre absolut notwendig gewesen.
Das hätte man binnen kürzester Zeit auf die Beine stellen können. Es wollte nur niemand. Stattdessen haben vor allem die Medien nach der starken Exekutive gerufen. Kosten und Nutzen, Wirkungen und Nebenwirkungen haben überhaupt nicht interessiert, es war geradezu ein Blindflug oder ein Schießen ins Dunkel, Aktionismus statt Plan.
Es wurden fortlaufend irgendwelche Details als richtig vorgegeben, von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten, das hieß am Anfang "flatten the curve" und bedeutete in seiner Vielfalt letztlich, dass beim RKI möglichst keine Zahlen auflaufen sollen.
Ob ein solches Ziel mit all seinen Maßnahmen zur Erreichung und all seinen Kollateralschäden aber überhaupt demokratisch gewollt war, stand nie zur Diskussion. Wie soll denn ein Virologe sinnvollerweise entscheiden, wie eine Gesellschaft sich zu verhalten und zu entwickeln hat? Der weiß doch nicht, was Sie wollen und was ich will. Der kann doch nicht festlegen, ob Sie in größtmöglicher Sicherheit alt werden möchten oder ob Sie jung, aber mit viel Party im Leben sterben möchten.
Der Virologe kann Ihnen hoffentlich sagen, wie sich das Coronavirus verbreitet, wie tödlich es ist und so weiter. Aber er kann doch nicht sagen, wie richtige Politik zu funktionieren hat, weil er die Ziele nicht zu definieren hat.
Thomas Brussig: Die Politik hat die Wissenschaftler zwar angehört, aber sie ist diesen Ratschlägen eben nicht gefolgt. Sondern die Politik hatte ihr eigenes Koordinatensystem an Motiven, und die vertragen sich nicht unbedingt mit der Pandemiebekämpfung: Wie populär sehe ich dabei aus, was kann man den Menschen noch zumuten, etc.?
Dadurch hat sich die Politik in eine Rolle gebracht, in der sie nicht mehr in der Lage oder nicht mehr willens war, die Pandemie zu bekämpfen. Aus der Wissenschaft kam zum Beispiel die Idee einer Corona-Warn-App, und dazu gab es Modellrechnungen, dass allein die breite Verwendung einer Warn-App, den R-Wert selbst dann unter 1 drückt, wenn alle übrigen Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Maskentragen usw. unterlassen werden.
Dennoch hat die Politik aber die App-Verwendung nicht verbindlich gemacht, vermutlich, weil sie Angst hatte, sich mit den Datenschützern anzulegen. Selbst Karl Lauterbach, der sich ja sonst für nichts zu schade war, hat sich da nicht getraut. Das sind für mich Hinweise, dass die Politik nicht in der Lage war, das Zweckmäßige, das Effektive anzugehen und durchzusetzen.
Timo Rieg: Aus Ihrer Sicht als Demokrat wäre es also das Richtige gewesen, die Regierung hätte alle Bürger verpflichtet, eine Corona-Warn-App auf ihren Smartphones zu installieren und zu nutzen?
Thomas Brussig: Man kann bestimmen, dass nur der in den Supermarkt, den Bus, ins Kino, Stadion, ins Fitnesscenter, ins Restaurant kommt, der sich mit Warn-App und grünem Status ausweist. Dann gäbe es formal keinen App-Zwang, aber eine Sicherheit für alle, in öffentlichen Räumen nur unter Nicht-Infizierten zu sein. Gut, das wäre eine App-Pflicht durch die Hintertür, aber was ist denn so eine Pflicht im Vergleich zu den ganzen Kontaktbeschränkungen und den Schließungen, die wir stattdessen hatten?
"Es gibt so viele Dinge, bei denen niemand gefragt wird"
Timo Rieg: Sind wir da nicht an einem Punkt, an dem es nicht die eine Wahrheit aus einer Modellrechnung gibt, aus irgendeinem Teil der Wissenschaft? Bei dem vielleicht doch der Souverän mal entscheiden dürfen sollte, was er möchte? Wir haben keinen bundesweiten Volksentscheid, aber wenn es ihn gäbe, wäre das für Sie keine Frage für einen solchen gewesen?
Liebe Bürgerinnen und Bürger, seid ihr dafür, dass wir eine Corona-Warn-App verpflichtend für alle Handynutzer machen? Vielleicht sogar mit der Notwendigkeit einer Zweidrittel Mehrheit wie bei einer Verfassungsänderung, weil mit einer solchen Regelung ja alles Bisherige auf den Kopf gestellt würde?
Thomas Brussig: Nein. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht durch Mehrheitsentscheidungen abwählen. Darüber kann man keine Geschmacksurteile fällen und entscheiden, ob man das gerecht findet oder nicht. Es ist einfach so. Es gibt diese Rechnung, und niemand hat dem Modellierer einen Rechenfehler nachgewiesen.
Timo Rieg: Ich will gar nicht in die Details solcher Berechnungen und Modelle gehen, mich interessiert einfach, wieso genau an dieser Stelle eine Corona-Diktatur herrschen sollte, also die Entscheidungsgewalt eines bestimmten, sehr kleinen Teils der Wissenschaft. Ich kann auch sagen, aus Klimaschutzgründen bewegt sich niemand mehr über 15 km von zu Hause weg, wissenschaftliche Evidenz gäbe es dafür genug, weniger Verkehr bedeutet weniger Treibhausgasemission. Aus demselben Grund könnte die Wissenschaft das Fleischessen verbieten und vieles andere mehr.
Thomas Brussig: Zwischen der Corona-Diktatur und der Klima-Diktatur würde ich eine Grenze ziehen, weil eine Klima-Diktatur auf unabsehbare Zeit installiert werden müsste, das ist nicht okay. Die Corona-Diktatur hätte ja nur das Ziel gehabt, diesen Zustand, der uns allen auf die Nerven ging, möglichst schnell hinter uns zu lassen. Das wäre ein überschaubarer Zeitraum von zwei oder drei Monaten gewesen. Stattdessen haben wir jetzt seit November, seit über einem halben Jahr, einen Ausnahmezustand. Bei einem klugen und demokratischen Management wäre das längst passé.
Timo Rieg: In einer Demokratie soll das Volk da nichts zu entscheiden haben?
Thomas Brussig: Es gibt so viele Dinge, bei denen niemand gefragt wird. Wurde je über den Sicherheitscheck am Flughafen abgestimmt? Es gab den 11. September, und dann hast du plötzlich auch deine Schuhe ausziehen müssen, wenn wem danach war - und das ist auf unabsehbare Zeit. Es ist doch nichts Neues, was ich hier fordere. Ich habe etwas vermisst, was in anderen Bereichen aus guten Gründen schon gang und gäbe ist.
Timo Rieg: Nach dem 11. September sind tatsächlich sehr viele Dinge über Artikelgesetze geändert worden, ohne dass darüber in der demokratisch notwendigen Breite diskutiert worden wäre. Das finde ich aber gerade keinen Beweis dafür, dass wir noch weniger über gewollte Politik diskutieren sollten. Man könnte das, was damals geschehen ist und in weiten Teilen bis heute gilt, auch als undemokratisch entlarven.