Drei Ärzte mit der Stripperin

Seite 3: Vom Serumsforscher zum Serienkiller

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Warum muss Dieter Borsche als Dr. Holl ein Serum entdecken, um Maria Schell zu retten? Er hätte sie auch - beispielsweise - operieren können. Der Serumsforscher war für die Deutschen, die in den 1950ern Filme drehten oder ins Kino gingen, ein alter Bekannter. Die Nazis hatten ihn sehr gemocht, weil er den Spruch verkörperte: "Am deutschen Wesen muss die Welt genesen." Luis Trenker, der nicht immer nur auf Berge stieg, hat diesen Beruf in Germanin ergriffen (1943, mit Akzent auf dem i), macht einen Selbstversuch und wird als erster Mensch von der Schlafkrankheit geheilt. Das ist wichtig, weil auch die Engländer forschen, ihr Serum aber die von der Tsetse-Fliege gestochenen Afrikaner nicht heilt, sondern deren Augen schädigt. Die Deutschen, sagt der von Goebbels’ Schwager Max W. Kimmich inszenierte (und in den 50ern von der FSK wieder freigegebene) Film, sind die besseren Kolonialherren und darum verpflichtet, es auch zu sein, weil sonst die "Neger" blind und müde bleiben müssen. So wurden Angriffs- und Eroberungskriege gerechtfertigt.

Nach 1945 hatten die Deutschen erst mal genug von der Welteroberung. Dr. Holl hat sich, ganz zeitgemäß, ins Private zurückgezogen, heilt nicht die Untertanen im Kolonialreich, sondern seine Frau und wurde dafür bei den Berliner Filmfestspielen mit einer Ehrenurkunde ausgezeichnet. Stark gedämpft war die Begeisterung über Der Verlorene, die einzige Regiearbeit von Peter Lorre und im selben Jahr wie Dr. Holl gestartet. Dieser Film sollte als Teil des deutschen Kontingents beim Festival von Venedig laufen, wurde auf dubiose Weise ausgebootet und konnte dort überhaupt nur uraufgeführt werden, weil Lorre eine Kopie über London nach Italien brachte und in Venedig ein Kino mietete. Der Verlorene lief außerhalb des offiziellen Programms und wurde kaum zur Kenntnis genommen. So war das auch gedacht. Durch dieses düstere Werk wollten Deutschland und seine Filmschaffenden im Ausland nicht vertreten werden.

Der Verlorene

Peter Lorre, als Kindermörder in Fritz Langs M weltberühmt geworden, und sein Produzent Arnold Pressburger gehörten zu den ersten Emigranten, die aus den USA in die 1949 gegründete BRD kamen, um wieder in Deutschland Filme zu machen. Ressentiments gegenüber den Emigranten und das böse Wort vom "Vaterlandsverräter" gab es auch damals schon, aber so kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs hielt man sich noch zurück. Ende der 1950er, als man im Wirtschaftswunderland wieder wer war und Fritz Lang zurückkehrte, schlug diesem offene Animosität entgegen. Bei Lorre war es subtiler. Man muss schon zwischen den Zeilen der sich freundlich und ein wenig gönnerisch gebenden Kritiken lesen, um die Ablehnung zu erkennen. Der unausgesprochene und doch immer spürbare Vorwurf: Da maßt sich einer an, einen Film über das Dritte Reich zu machen, obwohl er emigriert und nicht dabeigewesen ist.

Der Verlorene beginnt in einem Flüchtlingslager. Hier arbeitet Dr. Neumeister als Lagerarzt. Als ihm ein gewisser Novak als Helfer zugeteilt wird, erkennt er in ihm seinen früheren Assistenten Hoesch (Karl John). Die beiden Männer verbringen redend die Nacht miteinander, als solle direkt auf Brauns Nachtwache Bezug genommen werden (Lorre war lang genug in Deutschland gewesen, um das Arzt- und Priester-Melo zu kennen; Benno Vigny, Axel Eggebrecht und Egon Jacobson, mit denen er das Drehbuch schrieb, hatten es bestimmt gesehen). Während aber bei Braun vergeben wird, ohne dass man dafür etwas bekennen muss, wird hier schonungslos gebeichtet. Die erste von mehreren Rückblenden führt uns zurück in den Dezember 1943.

Der Verlorene

Dr. Rothe, der Dr. Neumeister aus dem Flüchtlingslager, ist Serumsforscher wie Dr. Holl und dessen braune Vorgänger. Er teilt sich eine Wohnung mit seiner Verlobten Inge (Renate Mannhardt) und deren Mutter, leitet ein Institut, und weil seine Arbeit als kriegswichtig eingestuft wurde, steht er unter dem Schutz der Abwehr. Oberst Winkler hat Dr. Hoesch als Spitzel bei ihm eingeschleust und teilt das dem arglosen Rothe nur mit, weil Inge geheime Forschungsergebnisse an die Engländer weitergegeben hat. Rothe erfährt zugleich, dass Inge mit Hoesch schläft. Am Abend stellt er sie zur Rede. Er ist schon dabei, ihr zu vergeben, aber dann ruft Hoesch an. Rothe überkommt ein Mordimpuls. Er stranguliert Inge und würde sich der Polizei stellen, wenn da nicht die Abwehr wäre.

Der Verlorene

Wenn man die Vergangenheit schon nicht ruhen lassen konnte, war in der Nachkriegszeit eine fein säuberliche Einteilung wie in Canaris gewünscht: da stehen die braven Polizisten auf der einen, die Bösen von der Gestapo und der SS auf der anderen Seite, und Admiral Canaris und seine Agenten kämpfen gegen das Regime, um das Schlimmste von Deutschland abzuwenden. Der Remigrant Lorre nimmt auf die Befindlichkeit derer, die dageblieben waren, keine Rücksicht. Oberst Winkler von Canaris’ Abwehr zieht die Ermittlungen an sich und dekretiert, dass Dr. Rothe wichtiger ist als Inge, die eine Verräterin und ein Flittchen war (wozu sie wurde, weil sie der Romeo-Agent Hoesch dazu machte). Rothe muss sich sogar eine Standpauke von Winkler anhören, weil er seine Strafe will:

Ihr ganzer Gerechtigkeitsfanatismus, was ist das schon? Nichts wie Sentiments. […] Begreifen Sie doch endlich mal, dass Ihre antiquierten ethischen Bedürfnisse nicht mehr in diese Zeit passen.

Die am Tatort erschienenen Polizisten nehmen devot Winklers Anweisungen entgegen (in anderen Filmen würden sie aufrechte deutsche Ordnungshüter bleiben und zur Strafe an die Ostfront geschickt werden), und dann wird amtlich festgestellt, dass sich Inge mit ihrem Lackgürtel selbst stranguliert hat. Rothe wundert sich, dass niemand den Suizid in Frage stellt, nicht einmal Inges Mutter, aber er war bisher auch sehr weltfremd. Jetzt weiß er, wie es zugeht im Dritten Reich und wer alles mitmacht.

Der Verlorene

Man kann fragen, ob es eine gute Idee von Lorre war, auch in diesem Film, den er ganz nach eigenen Vorstellungen realisieren konnte, eine der Mörderrollen zu spielen, auf die er seit M abonniert war. Andererseits: Was hätte er sonst machen sollen? Es musste eine Mordgeschichte sein, weil es darum ging, ein verbrecherisches Regime und seine Helfer zu enttarnen. Einer davon ist der Mediziner Dr. Rothe, der scheinbar zum Wohl der Menschheit forscht und doch den Nazis zuarbeitet, deren Krieg unterstützt und so mitschuldig am Tod vieler Menschen wird. Damit das nicht zu abstrakt bleibt, lässt ihn Lorre zum Mörder werden, sogar zum Serienkiller. Auch das musste wohl sein, denn dieser Film ist kompromisslos und lässt keine Ausreden zu. Indem Inges Ermordung kein einmaliges Verbrechen eines sonst unbescholtenen und ungefährlichen Menschen in einer Ausnahmesituation bleibt, werden alle möglichen Rechtfertigungen derer, die den Täter decken, hinfällig.

Den Zwang zum weiteren Töten entdeckt Dr. Rothe, als das Wohnungsamt der Lehrerin Ursula (Eva-Ingeborg Scholz) das nun leer stehende Zimmer Inges zuteilt. Ein bisschen unheimlich sei es schon, meint die junge Frau, das Zimmer einer Toten zu beziehen, aber das Leben gehe schließlich weiter. Wie schnell es auch für sie zu Ende sein könnte, ahnt sie nicht - wir, das Publikum, hingegen schon, denn Ursula trägt einen Lackgürtel, und ein solcher Gürtel wurde um Inges Hals gefunden. Lorre hat eine lange Dialogszene mit Ursula und Rothe eingebaut, damit wir (und der Doktor) Zeit haben, uns darüber bewusst zu werden, dass ein Triebmörder mit Billigung der Behörden weiter auf freiem Fuß ist. Ursprünglich sollte der Film "Das Untier" heißen. Auf die Hauptfigur passt das genauso wie auf das System, das sie schützt.

Totmacher

Auf der Flucht vor dem neuerlichen Mordbedürfnis streift Rothe durch Hamburgs Straßen. Er wird von einer Prostituierten (Gisela Trowe) angesprochen, geht mit ihr in eine Kneipe und dann zu ihrer Wohnung. Die Szene im Treppenhaus ist ein kleines Bravourstück Lorres und seines Kameramanns Václav Vích, den der Stilist Willi Forst nicht umsonst für Die Sünderin (1950) engagiert hatte. Spätestens hier wird klar, dass Lorre bemüht war, auch ästhetisch eine Antwort auf das Dritte Reich zu finden. Die Szenen im Flüchtlingslager orientieren sich am italienischen Neorealismus, die Rückblenden in die letzten Kriegsjahre am amerikanischen Film noir, der entscheidend von den vor Hitler nach Hollywood geflohenen Emigranten beeinflusst wurde und seinerseits nicht ohne den deutschen Expressionismus der Stummfilmzeit und den frühen deutschen Tonfilm denkbar ist. Indem er an die Tradition des deutschen Films vor 1933 anknüpft, distanziert sich Lorre auch ästhetisch von den Nazis. Das unterscheidet den Verlorenen von den meisten anderen Filmen der Nachkriegszeit, die zwar oft inhaltlich, viel seltener aber auch stilistisch den Bruch mit dem Propagandakino des Dr. Joseph Goebbels vollzogen. Es spricht für sich, dass die deutsche Filmindustrie keinen nennenswerten Versuch unternahm, den Heimkehrer Peter Lorre zu unterstützen und im Land zu halten.

Der Verlorene

Während die Hure noch damit beschäftigt ist, die Wohnungstür aufzusperren, erkennt sie etwas in Rothes Blick, das ihr Angst macht: "Mensch! Also so einer bist du. Ich hab’s ja gewusst. So einer! Totmacher! Totmacher!! Totmacher!!!" Die Schreie der Frau schrecken die anderen Hausbewohner auf, die in das Treppenhaus kommen, tuscheln und Rothe ungehindert gehen lassen, obwohl die Frau ihn weiter "Totmacher" nennt. Einer sagt, dass sie sich selber zuzuschreiben habe, was ihr widerfährt. Das ist wieder eine dieser Szenen, in denen Lorre eine Verbindung zwischen dem Mörder und seiner Umwelt herstellt, statt ihn zu isolieren. Sie ist deshalb so gruselig, weil sie eine Vorstellung davon vermittelt, wie es gewesen sein könnte, als Juden, Regimegegner oder einfach nur kranke Menschen abgeholt wurden. Wird schon selber schuld sein, denkt sich der Nachbar.

Der Verlorene

"Ja, jetzt", resümiert Rothe alias Dr. Neumeister bei der "Nachtwache" in der Lagerbaracke

… jetzt wusste ich’s. Was ich mir selber nicht einzugestehen wagte. Sie hatte es mir ja ins Gesicht geschrieen: Totmacher. Aber ich war ja gerettet, im letzten Augenblick.

Dieses Entkommen allerdings wird ihm der Film nicht gestatten, weil Rothe schon vorher, nur eben indirekt, ein "Totmacher" war, indem er mitgemacht und den Nazis kriegswichtige Dienste geleistet hat. Als er mit dem Zug zurück in sein Wohnviertel fahren will, gibt es Fliegeralarm. Während die anderen Fahrgäste in den Luftschutzkeller gehen, wird der Zug außerhalb des Bahnhofs abgestellt. Rothe bleibt sitzen und mit ihm eine Dame, die gern weiter plaudern möchte. Nach der Entwarnung wird nur noch ein Schuh der Frau gefunden. Wie zur Anerkennung dessen, dass er schon vorher, in Ausübung seiner Tätigkeit als Forscher und Mediziner, ein Mörder war, geht Rothe in sein Institut, um seine Unterlagen zu verbrennen.

Der Verlorene

Danach bleibt nur noch die Abrechnung mit denen, die mitverantwortlich sind am Tod der von Rothe erwürgten Frauen. Lorre dreht da einfach, zu ihrer Decouvrierung, die gewohnten Muster um. Darauf muss man erst mal kommen. Der zum Mörder gewordene Mitläufer wirft ein paar ausgewählten Repräsentanten des Nazi-Regimes, die üblicherweise als die Bösen identifiziert und ausgegrenzt werden, damit alle anderen ein gutes Gewissen haben können, wirft Winkler und Hoesch also vor, dass sie durch Duldung seiner Taten mitschuldig geworden sind. Was heißt das aber für die große Mehrheit der Mitläufer, wenn sich das Muster so mir nichts dir nichts umdrehen lässt? Und damit nicht genug: Rothe will Rache. Das ging im Grunde gar nicht.

Wolfgang Staudte hatte das in der sowjetischen Zone erfahren, als er Die Mörder sind unter uns (1946) drehte. Am Schluss sollte der Held, von Beruf Chirurg, einen zum Fabrikanten gewordenen Kriegsverbrecher erschießen. Das verboten die Zensoren. In einem Land, in dem die meisten Täter sehr billig davongekommen waren, konnte so etwas als Aufforderung zur Selbstjustiz verstanden werden und wurde daher unterbunden. Im Westen (Der Verlorene entstand 1950/51 in Hamburg und Umgebung) war es auch nicht anders. Meines Wissens dauerte es fast 30 Jahre, bis wir sittlich so gefestigt waren, dass der von deutschen Behörden nicht verfolgte Nazi getötet werden durfte wie einst von Staudte geplant (in Falk Harnacks 1974 vom ZDF ausgestrahlten Fernsehfilm Der Verfolger).

Lorre machte es trotzdem. Oberst Winkler, der Hoesch und dessen Methoden vollmundig ablehnt und sich seiner doch bedient, wird zur Strafe in eine Kolportagehandlung verbannt und durch den Plot erledigt. Das geht so: Rothe will Hoesch erschießen und fährt zu Winklers Haus, weil er ihn da vermutet. Dort stolpert er, wie er selber ironisch sagt, in eine "Detektivgeschichte". In der Romanfassung des Stoffs, die in Fortsetzungen in der Münchner Illustrierten erschien, heißt es ganz trocken: "Eine Zeit der Kolportage beginnt." Winkler ist Teil eines soeben aufgedeckten Komplotts gegen Hitler und hält mit anderen Verschwörern Kriegsrat, als Rothe eintrifft. Hoesch, der Rothe sucht, schickt zwei Gestapo-Leute zu Winkler, und der wird dadurch enttarnt.

Cowboys und Indianer

Wie immer bei Kolportagegeschichten, wirkt auch diese hier sehr kompliziert, wenn man den Inhalt zusammenfasst. Auf den Film selbst trifft das nicht zu. Trotz der Rückblendenstruktur und sich überschlagender Ereignisse ist er ruhig und geradlinig erzählt. Ein Kurier von der Wehrmacht wird anstelle von Winklers kranker Frau aus dem von der Gestapo überwachten Haus geschmuggelt, der Krankenwagen nach einer wilden Verfolgungsjagd gestellt, der Kurier von einem von Hoeschs Gestapo-Killern auf der Flucht erschossen. Rothe betrachtet das Geschehen von einem Aussichtspunkt und stellt halb amüsiert, halb angewidert fest: "So sah das also aus, wenn Erwachsene Indianer spielten." Als habe er geahnt, was kommen würde, machte sich Lorre bereits 1951 über die filmischen Inszenierungen des Widerstands gegen Hitler lustig, die es damals noch gar nicht gab.

Auch die beiden rivalisierenden Stauffenberg-Filme, die ein paar Jahre später in die Kinos kamen, haben Kolportageelemente, dies aber wider Willen. In Der Verlorene ist es Absicht. Graf Stauffenberg und seine Mitverschwörer waren mutige Leute und haben Respekt verdient. Doch als sie versuchten, Hitler zu beseitigen, wäre der im antisemitischen Hetzfilm Der ewige Jude mit seiner Verteidigungsrede aus M vertretene Lorre längst vergast und verbrannt gewesen, wenn er nicht geflohen wäre ("Der Jude interessiert sich instinktiv für alles Krankhafte und Verdorbene", sagt der Kommentator von Hipplers "Dokumentation"). Dementsprechend sitzen Lorres Verschwörer in Winklers Wohnzimmer herum, trinken Kaffee und schlagen die Zeit tot. Wie eine große Hilfe für die Verfolgten sieht das nicht aus. Durch die Gestapo aus ihrer Lethargie erwacht, werden die Widerstandskämpfer zum Personal in einem abgefilmten Schundroman. Darin versuchen sie wenigstens, sich selbst zu retten.

Der Verlorene

Winkler kann entkommen, wird aber an der Grenze zur Schweiz doch noch festgenommen, nennt unter der Folter Namen und wird gehängt. Das erfährt Rothe von Hoesch alias Novak, als man sich im Flüchtlingslager unter falschen Namen wiedersieht. Seinen eigenen Namen hat er nach der Bombennacht abgelegt, als er sein Wohnhaus zerstört und ausgebrannt vorfand. Von vielen bitteren Ironien des Films ist das eine der bittersten: Ursula, die nach Hamburg versetzte Junglehrerin, entkommt der Strangulierung durch Dr. Rothe, der privat ein Serienmörder ist und wird dann Opfer eines Krieges, der auch durch seine berufliche, kriegswichtige Tätigkeit weiter andauert, während der Serumsforscher eine andere Frau ermordet und ein Gestapo-Mann einen Wehrmachtsoffizier erschießt, der dem Krieg ein Ende machen will. Und in dem Haus, in dem Ursula starb, war sie nur deshalb, weil Rothe seine Verlobte getötet hat (dadurch wurde das Zimmer frei). Dem Verlorenen wird oft vorgeworfen, er sei dramaturgisch unausgegoren, leide unter einem schlechten Drehbuch. Ich kann das nicht finden.

Der Verlorene

Nach der Bombennacht erklärt sich Rothe selbst für tot, indem er seinen Namen auf eine Tafel mit den Opfern schreibt. Von nun an ist er ein Zombie. Man merkt das nur nicht gleich, weil der Nachkriegs-Teil im Flüchtlingslager neorealistisch aussieht und gar nicht phantastisch. Nur einmal, wenn Rothe durch die Landschaft geht, könnte man meinen, Lorre sei doch der ewige Jude - wenn auch nicht so wie in der Nazi-Propaganda. Wahrscheinlich wäre Der Verlorene für deutsche Gemüter des Jahres 1951 akzeptabler gewesen, wenn es nur Peter Lorre gäbe, den gut ausgrenzbaren Darsteller von Mördern und Verrückten. Aber da ist auch noch Hoesch, der Mann mit dem elastischen Gewissen, der Rothe wie ein Schatten folgt. Am Anfang, zu Beginn der gemeinsamen Nachtwache in der Baracke, sagt er:

Die Dinge, die hier zwischen uns zur Sprache kommen könnten, die sind weder Ihnen noch mir sonderlich angenehm. Warum sie also überhaupt zur Sprache bringen? Ich möchte Sie nur bitten, Ihr Schweigen als eine dauerhafte Abmachung zu betrachten - ja, als eine dauerhafte und gegenseitige Abmachung.

Und am Ende:

Mann Rothe, ich hab’ ja gar keine Zeit, mich erschüttern zu lassen. Mensch, verstehen Sie nicht? Auf Draht muss man sein, rechtzeitig zur Seite springen.

Über das, was im Dritten Reich passiert ist, schweigen. Nicht zu dem stehen, was man gemacht hat. Das Leben geht weiter, und leider hat man keine Zeit, sich von den Verbrechen der Vergangenheit erschüttern zu lassen. In der Gestalt von Hoesch hielt Lorre vielen Deutschen den Spiegel vor. Für ihn war das kein Neuanfang und so nicht hinnehmbar. Deshalb schießt Dr. Rothe, der Arzt im Flüchtlingslager, seinen Doppelgänger-Assistenten im Morgengrauen tot. Und weil es sonst auch keiner macht, richtet er sich danach selbst. Er geht auf einem Bahngleis spazieren und springt nicht zur Seite, als der Zug kommt.

Wie verloren Lorres einzige Regiearbeit innerhalb einer auf Vergessen und Beschwichtigung bedachten Unterhaltungsindustrie war, zeigen gleich die mit einer Mauer unterlegten Anfangstitel. Das ist eine Hommage an Fritz Langs Anti-Nazi-Film Hangmen Also Die! (1942/43) und an seinen Produzenten Arnold Pressburger. Aber wer sollte das in einem Land verstehen, in dem Hangmen 1958 erstmals aufgeführt wurde? Und wer hätte es verstehen wollen? Der Verlorene ist der Film zweier Emigranten und Außenseiter, von denen einer (Pressburger) während der Dreharbeiten starb und der andere so abgebrannt war und so wenig Unterstützung fand, dass er froh sein musste, als ihm die Amerikaner die Rückreise in die USA bezahlten (dafür durften sie seinen Film bei der Truppenbetreuung in Europa einsetzen).

Nach Lorres Abgang wurden die 1950er von Arzt-Melodramen wie Dr. Holl, Sauerbruch, El Hakim oder Der Arzt von Stalingrad dominiert. Es dauerte bis zum Ende des Jahrzehnts, bis sich wieder jemand traute, mit den Mitteln des beim Publikum so überaus beliebten Genres gegen die da betriebene Verklärung der Vergangenheit zu opponieren und an die auch von Ärzten begangenen Verbrechen der Nazizeit zu erinnern.

Dazu mehr in Teil 2: Des Führers Arzt trifft des Satans nackte Sklavin

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