Drei Szenarien: Wohin der Ukraine-Krieg im Jahr 2023 führen könnte
Seite 2: Die Tücken eines Waffenstillstands ohne echte Friedensverhandlungen
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- Die Tücken eines Waffenstillstands ohne echte Friedensverhandlungen
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Westlichen Geheimdienstschätzungen zufolge sind die ukrainischen und russischen Verluste in etwa gleich hoch – wobei Russland dreieinhalbmal so viel Einwohner wie die Ukraine hat. In den ersten Monaten des Krieges wurde Russlands zahlenmäßiger Vorsprung dadurch zunichtegemacht, dass das Putin-Regime (aus innenpolitischen Gründen) nicht bereit war, Wehrpflichtige in den Einsatz zu schicken und Reservisten zu mobilisieren. Dieser Mangel wird nun durch die Einberufung von 300.000 zusätzlichen Soldaten (wenn auch von sehr fragwürdiger Qualität) behoben.
Russland produziert auch wesentlich mehr Artilleriegranaten als die Ukraine herstellt bzw. vom Westen erhält. Es ist aber nicht klar, inwieweit eine erhöhte US-Produktion diesen Mangel in den nächsten Monaten ausgleichen kann.
In Anbetracht der bisherigen Bilanz und der anhaltenden Einschränkungen in Hinsicht auf Truppenstärke, Panzer und Munition besteht jedoch keine realistische Chance, dass ein russischer Durchbruch zur Einnahme von Kiew führen könnte. Es ist nicht einmal im Entferntesten wahrscheinlich, dass Russland Charkiw einnehmen könnte. Der Rückzug Russlands aus der Region Cherson auf das linke östliche Ufer des Dnepr macht eine Offensive gegen die ukrainischen Schwarzmeerhäfen Mykolajiw und Odessa praktisch unmöglich.
Sollte Russland jedoch die gesamte Donbass-Region erobern und die Landbrücke zur Krim verstärken, wäre es sehr wahrscheinlich, dass Putin dann behaupten wird, die wichtigsten russischen Ziele (die zu Beginn der Invasion festgelegt wurden) seien erreicht worden. Moskau könnte dann einen Waffenstillstand und Friedensgespräche ohne Vorbedingungen anbieten.
Ein solches russisches Angebot würde zugleich tiefe Gräben innerhalb des Westens einerseits und zwischen den westlichen Ländern und der Ukraine andererseits aufreißen. Denn angesichts der in weite Ferne gerückten Möglichkeit eines ukrainischen Siegs und der Aussicht auf einen nicht enden wollenden Krieg, würden viele im Westen argumentieren, dass ein Waffenstillstand das beste Angebot ist, das die Ukraine jemals erhalten könnte.
Diese Argumentlinie würde gestärkt dadurch, dass nur ein stabiler Waffenstillstand die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur durch Russland beenden und es der Ukraine und ihren Partnern ermöglichen würde, den langen und sehr kostspieligen Prozess des Wiederaufbaus der ukrainischen Wirtschaft zu beginnen, um Kiews Hoffnungen auf einen Beitritt zur Europäischen Union zu fördern.
Das könnte auch bei einigen pragmatischen Ukrainern Anklang finden, die der Ansicht sind, dass ein Waffenstillstand und damit verbundenes wirtschaftliches Wachstum es der Ukraine ermöglichen könnte, das Militär zu stärken, um den Krieg zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen – etwas, was wegen Russlands Angriffen auf die ukrainische Wirtschaft im Moment sehr schwierig ist.
Diejenigen, die in der Ukraine und im Westen gegen einen von Russland vorgeschlagenen Waffenstillstand sind, würden natürlich argumentieren, dass es Moskau die Möglichkeit geben würde, seine eigenen Streitkräfte für einen künftigen neuen Krieg aufzurüsten. Dieses Argument würde aber an Zugkraft einbüßen, wenn Russland öffentlich erklärt, dass man seine Kriegsziele erreicht habe.
Wenn keine der beiden Seiten einen Durchbruch erzielt, besteht die Aussicht auf eine unbestimmte und blutige Pattsituation. Sie würde bestehen entlang der gegenwärtigen Kampflinien und in vielerlei Hinsicht an die Westfront im Ersten Weltkrieg erinnern. Die Frage wäre dann, wie lange es dauern wird – und wie viele Menschen sterben müssen –, bis beide Seiten erschöpft sind und beschließen, dass es keinen Sinn macht, den Kampf fortzusetzen.
Dann wäre der Boden bereitet für einen instabilen Waffenstillstand, wie er zwischen Indien und Pakistan in Kaschmir die letzten 75 Jahre fast durchgängig herrschte. Er wäre letztlich eine Version des Waffenstillstands im Donbass der Jahre 2015 bis 2022 auf erhöhtem Niveau. Ein solcher Waffenstillstand würde begleitet werden von Friedensverhandlungen, aber auch von periodischen Gewaltexplosionen und möglicherweise großen Kriegsphasen.
Sicherlich wäre ein Waffenstillstand besser als das derzeitige massive Blutvergießen in der Ukraine. Aber wenn er nicht von erfolgreichen Verhandlungen gestützt wird, die auf eine Einigung zielen bzw. versuchen, die bewaffneten Spannungen zu minimieren, dann enthält er weiter eine Reihe von negativen Elementen: das Potenzial für neue Kriege, nicht nur in der Ukraine, sondern auch zwischen Russland und anderen ehemaligen Sowjetstaaten; die Schwierigkeit, die Ukraine wieder aufzubauen, und auf dem Weg in die Europäische Union voranzukommen; die Unmöglichkeit des Westens, seine kooperativen Beziehungen zu Russland auch nur ansatzweise wiederherzustellen; und die Wahrscheinlichkeit, dass Russland, China und Iran stärker zusammenarbeiten.
Der Artikel von Anatol Lieven erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).