Dschihadisten im Strom der Flüchtlinge
Seite 3: Juli bis September 2015
- 6. Juli 2015: Am 6. Juli 2015 meldete sich der Tunesier Anis Ben Othmane Amri unter dem Falschnamen "Amir" auf dem Polizeirevier in Freiburg-Nord als Asylbewerber (Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft: 440 Js 24374/15). Er wurde zunächst in einem Flüchtlingsheim in Emmerich untergebracht und hat danach unter insgesamt 14 Alias-Namen in verschiedenen Städten mehrere Asylanträge gestellt. Die Panne bei der Einreise des "Amir" alias Amri hatte weitreichende Folgen:
Nur ein Buchstabendreher, schon versagte das System. Anis Amri war nun im Land, aber das Land war auf einen wie ihn nicht vorbereitet. Es sollte Deutschland 532 Tage lang nicht gelingen, seiner habhaft zu werden. Selbst am 19. Dezember 2016 nicht, als Anis Amri einen Lkw auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz lenkte und den bislang größten islamistischen Anschlag in der Bundesrepublik verübte. Zwölf Menschen starben, Anis Amri floh, bis ihn ein Polizist bei Mailand erschoss. (…)
Die Recherchen ergaben das Bild eines beispiellosen Behördenwirrwarrs, eines Versagens des deutschen Rechtsstaats und seiner starren, föderalistischen Struktur. Eines Systems, in dem viele zuständig waren, aber keiner verantwortlich.
Mehrere Hundert Beamte in mindestens 64 Behörden waren mit Amri befasst. Am Ende gelang es ihnen nicht, Amri zu stoppen. "Unstetigkeit ist die Konstante im Bewegungsmuster des Amri"; notierte ein Mitarbeiter des Landeskriminalamts (LKA) Berlin. Mit dieser Unstetigkeit kamen die staatlichen Organe nicht zurecht.
Anis Amri konnte monatelang mit bis zu 14 verschiedenen Identitäten hausieren gehen. Er konnte Handys klauen, prügeln und mit Drogen dealen. Er konnte schwarzfahren, Papiere fälschen und sich Sozialleistungen erschleichen. Er konnte tricksen, täuschen, lügen. Und niemand bestrafte ihn.
Vor allem aber konnte er sich weiter radikalisieren und eine Wut auf das Land entwickeln, das ihn so offen empfangen hatte. Er sprach mit Kämpfern vom "Islamischen Staat" (IS), besuchte drei der radikalsten Moscheen Deutschlands, las Anleitungen zum Bombenbau im Internet. Und niemand störte ihn dabei.
(der Spiegel)
Anis Ben Othmane Amri war Mitglied des Islamischen Staates. Beim Terroranschlag auf den "City Weihnachtsmarkt" auf dem Breitscheidplatz in Berlin starben 12 Menschen, 67 Personen wurden verletzt. Auf seiner Flucht wurde er am 23. Dezember im italienischen Sesto San Giovanni von zwei Polizeibeamten erschossen. Mittlerweile beschäftigen sich parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Düsseldorf und Berlin mit dem eklatanten Behördenversagen.
- Juli 2015: Der Syrer Hamza C. kam als Flüchtling Ende Juli 2015 in der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt an. Am 11. September 2015 wurde er erstmals in der Flüchtlingsunterkunft im brandenburgischen Bliesdorf (Am Gewerbepark 3) registriert. Hier stellte er einen Asylantrag. Zwischenzeitlich verschwand er für fünf Monate. Zeitweise soll er sich in Berlin aufgehalten haben. Am 2. Juni 2016 wurde er vom SEK festgenommen. Der syrische Flüchtling Saleh al-Ghadban beschuldigte ihn, an einem geplanten Terroranschlag in Düsseldorf beteiligt gewesen zu sein (s. o.).
- August 2015: Shaas al-Mohammad ist Syrer. Mitte 2013 schloss er sich als Jugendlicher dem Islamischen Staat an. So habe er in Syrien u.a. an der Belagerung eines Flughafens und an anderen Militäroperationen im Raum Deir Ezzor teilgenommen. Dabei habe er jeweils eine "Kalaschnikow" gehandhabt. Außerdem sei er in Syrien für die Versorgung der IS-Truppen mit Lebensmitteln in diesem Gebiet verantwortlich gewesen. Im August 2015 kam Shaas al-Mohammad über die Balkan-Route nach Deutschland. Hier stellte er einen Asylantrag und kam in Bad Belzig (Brandenburg) unter. In Berlin sammelte er Informationen über mehrere potentielle Anschlagsziele aus, darunter das Reichstagsgebäude, den Amtssitz des Bundestages, und den Alexanderplatz. Am 22. März 2016 wurde Shaas al-Mohammad in Potsdam festgenommen.
Am 19. Mai 2017 verurteilte der 1. Strafsenat des Kammergerichts Shaas al-Mohammad wegen Unterstützung der Terrororganisation Islamischer Staat in 150 Fällen in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz in 149 Fällen zu einer Jugendstrafe von 5 Jahren (Aktenzeichen: 1 - 5/16). In einer Presseerklärung des Kammergerichts hieß es zur Urteilsbegründung:
So habe er u.a. im Herbst 2013 in Syrien unter IS-Kommando an der Belagerung eines Flughafens und im Frühjahr 2014 an der Einkesselung einer Stadt im Osten des Landes teilgenommen. Außerdem sei er in den Jahren 2014 und 2015 in Syrien an der Versorgung der örtlichen IS-Truppen mit Lebensmitteln beteiligt gewesen. Bei diesen Militäroperationen bzw. Tätigkeiten habe er jeweils ein vollautomatisches Sturmgewehr des Typs "Kalaschnikow" gehandhabt. (…)
Soweit dem Angeklagten von der Bundesanwaltschaft Ausspähungsaktivitäten vorgeworfen worden waren, ist der Senat zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte zwar nicht gezielt mögliche Anschlagsziele in Berlin ausgespäht habe, aber sehr wohl gewonnene Informationen über den Publikumsverkehr am Alexanderplatz und anderen Orten in dem Bewusstsein an seine syrischen Kontaktmänner weitergegeben habe, dass diese dort für die Planung von Anschlägen genutzt werden könnten."
(Kammergericht Berlin
- August 2015: Der Tunesier Haikel S. lebte von 2003 bis 2013 in Deutschland. Er reiste mit einem Studentenvisum ein und heiratete eine Deutsche, so dass er Bleiberecht genoss. Im Jahr 2013 kehrte er in sein Heimatland zurück, wo er am 18. März 2015 am Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis beteiligt gewesen sein soll. Der Anschlag forderte 24 Tote. Im März 2016 soll er ebenfalls bei einem Angriff auf die tunesische Grenzstadt Ben Gardane beteiligt gewesen sein. Damals waren 13 Sicherheitskräfte und sieben Zivilisten getötet worden. Im August 2015 ist er als Asylsuchender erneut in die BRD eingereist. Am 1. Februar 2017 wurde er in Frankfurt-Sossenheim festgenommen und sollte abgeschoben werden.
Am 5. April lehnte die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main seinen Antrag auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz gegen seine Abschiebung nach Tunesien im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren unter der Bedingung ab, dass die tunesische Regierung vor einer Abschiebung des Antragstellers völkerrechtlich verbindlich gegenüber der Bundesregierung zugesichert hat, dass gegen den Antragsteller nicht die Todesstrafe verhängt werden wird. In einer verquasten Pressemitteilung des Gerichts hieß es:
Die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main hat in ihrer heutigen Entscheidung die Ablehnung des Asylbegehrens des Antragstellers als offensichtlich unbegründet in vollem Umfang bestätigt. Die negative Feststellung zu den Abschiebungsverboten ist nach Auffassung des Gerichts jedoch nur unter der Voraussetzung der ausgesprochenen Bedingungen für eine Abschiebung des Antragstellers nach Tunesien nicht zu beanstanden. Nach Auffassung der Kammer kann die Wahrscheinlichkeit, dass im Zuge des gegen den Antragsteller in Tunesien betriebenen Strafverfahrens ein Todesurteil verhängt werden wird, sowie seine mögliche Gefährdung in Bezug auf Folter und sonstige menschenunwürdige Behandlung durch die ausgesprochenen Schutzauflagen soweit minimiert werden, dass für diesen keine tatsächliche Gefahr im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte mehr besteht, bei einer Rückkehr nach Tunesien derartige Menschenrechtsverletzungen zu erleiden. Die Kammer stützt sich in ihrer Bewertung insoweit auf die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel, insbesondere den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, woraus sich zur Überzeugung des Gerichts die Notwendigkeit der Einholung der ausgesprochenen Schutzauflagen ergibt. (…) Die Entscheidung der 6. Kammer (Az.: 6 L 2695/17.F.A) ist unanfechtbar."
(VG Frankfurt am Main)
Ebenfalls mit Beschluss vom 5. April hat die 2. Kammer des Verwaltungsgerichts Frankfurt, die für das ausländerrechtliche Verfahren gegen die Stadt Frankfurt zuständig war, ein Eilrechtsschutzbegehren des Antragstellers mit dem sich dieser gegen seine sofort vollziehbare Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland wendet, abgelehnt (Aktenzeichen: 2 L 2483/17.F).
Mitte August 2017 hob der Bundesgerichtshof den Haftbefehl auf, weil sich der dringende Tatverdacht nicht bestätigt hatte. Dennoch kam Haikel S. nicht frei, da die Ausländerbehörde beim Amtsbericht Frankfurt zugleich einen Antrag auf Erlass eines Abschiebehaftbefehles stellte. Die Anwältin von Haikel S., Seda Basay-Yildiz, hält den Antrag der Ausländerbehörde für unzulässig, da das Verwaltungsgericht Frankfurt eine Abschiebung bereits untersagt hatte, weil Haikel S. in Tunesien die Todesstrafe drohe. Die letzte Entscheidung liegt nun beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.
- Ende August 2015: Damals kam der syrische Flüchtling Zoher J. nach Deutschland. Am 12. April 2017 wurde Zoher J. in Niederbayern festgenommen. Dazu berichtete der Generalbundesanwalt:
Der Beschuldigte Zoher J. gründete im Laufe des Jahres 2011 in Syrien unter anderem mit den gesondert Verfolgten Abdulrahman A. A. sowie Abd Arahman A. K. eine zur terroristischen Vereinigung "Jabhat al-Nusra" (JaN) gehörende Kampfeinheit. Ihr Aktionsradius beschränkte sich zunächst auf den Raum Aleppo. Ab 2013 war ein Teil der Kampfeinheit auch in den Regionen Tabka und Rakka aktiv. In der Folge führte Zoher J. weiterhin das Kommando in der Region Aleppo, während er die Verantwortung für Operationen im Raum Tabka und Rakka auf den gesondert Verfolgten Abd Arahman A. K. übertrug. Um den Jahreswechsel 2013/2014 fielen weite Teile des Aktionsgebietes dieser Kampfeinheit unter die Kontrolle des IS. In der Folge löste sich die Kampfeinheit auf. Zoher J. schloss sich daraufhin dem "IS" an und arbeitete fortan für dessen "Geheimdienst". In dieser Funktion reiste er spätestens Ende August 2015 nach Deutschland. Von hier aus pendelte er nach Griechenland, um dort in Flüchtlingslagern Mitglieder für Terrorzellen in Europa zu rekrutieren. Außerdem sollte er die bereits in Europa agierenden Terrorzellen koordinieren, um noch nicht näher geplante Anschläge durchzuführen.
(Der Generalbundesanwalt)
- 7. September 2015: Am 7. September 2015 wurde der Syrer Mohammed G. mit seiner Mutter in der Erstaufnahmeeinrichtung in Versmold (Brüggenkamp) untergebracht; Ende Oktober 2015 zogen beide um nach Rietberg. Mohammed G. agierte als Kontaktperson zwischen dem IS und möglichen Attentätern der Terrororganisation. Konkret stand Mohammed G. seit spätestens Mitte September 2016 über soziale Medien in Kontakt mit einer Person, die am 11. Oktober 2016 in Schweden einen Brandanschlag auf ein schiitisches Gemeindezentrum verübt haben soll. Dieser mutmaßliche Attentäter von Malmö war am 21. April 2017 in erster Instanz vom Terrorvorwurf freigesprochen worden, blieb aber weiter in Haft und soll aus Schweden abgeschoben werden. Mohammed G. selbst wurde am 8. Juni 2017 in Rietberg im Kreis Gütersloh in Ostwestfalen festgenommen.
- 9. September 2015: Zwei Mitglieder der französisch-belgischen Terrorzelle, die 2015/16 die verheerenden Terroranschläge in Paris und Brüssel mit mehr als 160 Toten und über 700 Verletzten verübten, reisten im September 2015 durch Deutschland: "Sami Bouzid" alias Mohamed Belkaid und "Soufiane Kayal" alias Najim Laachraoui (Geburtsname: Abu Idriss) wurden am 9. September 2015 von Salah Abdeslam in Budapest abgeholt. Auf dem Rückweg übernachtete das Trio in der Nacht vom 9. auf den 10. September auf dem Autohof Geiselwind an der A3 im Landkreis Kitzingen (Bayern).
Mohamed Belkaid wurde am 15. März 2016 in Brüssel-Forest auf der Flucht erschossen. Najim Laachraoui war in Syrien 2012-14 an der Gefangenschaft und Ermordung des amerikanischen Journalisten James Foley zumindest mittelbar beteiligt, er starb beim Anschlag auf den Flughafen in Brüssel-Zaventem am 22. März 2016.
- September 2015: Wajid S. war - nach Angaben des Generalbundessanwalts - zwischen 2005 und 209 Mitglied der Taliban in der Provinz Kapisa. Zumindest in den Jahren 2014 und 2015 nahm der Angeschuldigte an zwei Kampfhandlungen gegen afghanische Polizeieinheiten in der Provinz Kapisa teil. Nachdem er durch einen Streifschuss verletzt worden war, floh er im September 2015 in die BRD. Hier wohnte er in Aken im Landkreis Anhalt-Bitterfeld (Sachsen-Anhalt). Wajid S. wurde am 27. Oktober 2016 in Köthen (Sachsen-Anhalt) festgenommen.
Am 26. April 2017 begann der Prozess gegen Wajid S. vor dem 3. Strafsenat des Kammergerichts Berlin, das auch für Brandenburg zuständig ist. Obwohl sich Wajid S. in seinem Asylverfahren selbst als Taliban belastet hatte, erklärte er nun, dass er sich die Taliban-Geschichte nur ausgedacht habe, um nicht abgeschoben zu werden. Wajid S. sitzt derzeit in einem Berliner Gefängnis ein. Die von der Großen Koalition forcierte Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern in das Kriegsgebiet Afghanistan wird von Menschenrechtlern zu recht heftig kritisiert.