EU will Netflix und Amazon dazu zwingen, 30 Prozent europäische Produktionen anzubieten
Eckpunktebeschluss der Medienminister soll Jugendschutz- und Werberegeln auch auf Videoportale wie YouTube anwendbar machen
Diese Woche haben sich die Medienminister der EU-Mitgliedsländer trotz Gegenstimmen aus Großbritannien, Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Luxemburg mehrheitlich auf ein Eckpunktepapier geeinigt, das vorsieht, Streaming-Anbieter wie Netflix und Amazon zu verpflichten, künftig 30 Prozent ihres Angebots mit europäischen Produktionen zu füllen (vgl. Video-Streaming: EU-Ministerrat beschließt 30-Prozent-Quote für Netflix & Co.). Bislang galt lediglich eine 20-Prozent-Quote - und auch die nur für klassische Fernsehsender.
Die Verpflichtung könnte dazu führen, dass die Streaming-Anbieter europäische Produktionen einkaufen, die sich kaum jemand ansieht, um der Forderung der Form halber nachzukommen. Dadurch stünde potenziell weniger Geld zur Verfügung, gute Produktionen aus den USA zu erwerben, die schon heute häufig nicht in deutschen Fassungen zur Verfügung stehen und von Deutschland aus nur über Umwege abgerufen werden können: Das aktuell eindrucksvollste Beispiel dafür ist die Hulu-Produktion The Handmaid's Tale.
Die mit sehr sorgfältig ausgewähler Musik von Lesley Gore bis Peaches untermalte Serie ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Margaret Atwood und erreicht eine Qualität, die man nach der eher drögen ersten Adaption durch den deutschen Filmemacher Volker Schlöndorff nie erwartet hätte. Die Hauptrolle spielt die aus Mad Men bekannte Elizabeth Moss, eine andere tragende Rolle hat Samira Wiley, deren Figur Poussey Washington man in der Serie Orange ist the New Black zum Leidwesen vieler Zuschauer sterben ließ (vgl. Mischung aus "Oz" und "Unsere kleine Farm"). Die Dystopie einer Theokratie, in der es verbotene Worte gibt und in der Frauen wie in Saudi-Arabien oder im Islamischen Staat leben müssen, wirkt heute aber auch von ganz alleine aktueller als zu ihrer Entstehungszeit Mitte der 1980er Jahre.
Aber nicht nur US-amerikanische, sondern auch chinesische Produktionen erreichen aktuell eine Qualität, die weit jenseits des deutschen Fernsehniveaus liegt. Beispiele dafür sind die auf einem historischen Literaturklassiker beruhende Monumentalserie Sān Guó ("Drei Reiche"), die vor und in der gleichnamigen Epoche im dritten Jahrhundert nach Christus spielt, oder die Neuverfilmug der (ebenfalls auf einen Litaraturklassiker beruhenden) Rebellen vom Liang Shan Po mit Zhang Jizhong. Zahllose andere sehenswerte Werke kommen aus Japan, Korea oder Indien. Und selbst nigerianische Serien überzeugen im Vergleich mit deutschen Degeto-Produktionen durch gute Schauspieler, einfallsreiche Drehbücher und relativ pädagogikfreie Plots (vgl. How to get rich quick).
Rettungsanker Frankreich und Großbritannien
Zu sagen, dass deutsche Fernsehserien ausnahmslos schlecht sind, wäre zwar übertrieben - aber nach Kir Royal fällt dem Autor tatsächlich nichts von ARD oder ZDF Hergestelltes mehr ein, was man als sehenswert bezeichnen könnte. Allerdings gibt es in Europa nicht nur Degeto-Maßstäbe, sondern auch sehr gute Serien - vor allem in Frankreich, wo mit Engrenages (vgl. Mehr Möglichkeiten als beim öffentlich-rechtlichen TV) und Les Revenants zwei ganz besonders herausragende Serien entstanden.
Aber auch in Großbritannien gibt es noch viel zu entdecken: vom ganz ausgezeichneten Spionage-Krimi-Achtundzwanzigteiler Foyle's War bis hin zu nie synchronisierten oder vergessenen Klassikern aus den 1960er und 1970er Jahren wie Terry Nations Survivors, The Owl Service, Children of the Stones oder Mike Hodges' Tyrant King (vgl. Ethnologe unter Kannibalen). Je nach Austrittsvertragsgestaltung könnten solche Produktionen aber nach dem Abschied des Vereinigten Königreichs eventuell nicht mehr als europäisch im Sinne der Quotenvorschrift gelten.
Bewahrung der "kulturellen Vielfalt" und Investitionsförderung
Bei der EU-Kommission, die die Reform der Richtlinie vorschlug (dabei aber nur 20 Prozent europäische Produktionen forderte), verweist man auf Anfrage von Telepolis unter anderem auf Pressestatements des Rats und der Maltesischen Ratspräsidentschaft, in denen der Beschluss mit der Bewahrung "kultureller Vielfalt" begründet wird. In einem Memo zum Kommissionsvorschlag ist darüber hinaus von Investitionen in europäische Werke die Rede.
Details noch unklar
Amazon leitete die Telepolis-Anfrage an die Computer and Communications Industry Association weiter, deren Sprecherin Maud Sacquet Telepolis schrieb, der "Mangel an Konsens innerhalb des EU-Rats" zeige die "verbreitete Unzufriedenheit mit der vorgeschlagenen Reform". Nun müssten Punkte, die für das Funktionieren eines einheitlichen Digitalen Marktes entscheidend seien, in der nächsten Phase der Verhandlungen debattiert werden. Die dänische Vertreterin im Ministerrat hatte vorher argumentiert, eine Quote für Streaminganbieter blockiere die Modernisierung, und es sei "nicht die Aufgabe der EU, den Zusehern solche Vorgaben zu machen". Die Vertreter von, Deutschland, Österreich und der Mehrheit der anderen Länder hatten sich davon jedoch nicht beeindrucken lassen.
Da das Eckpunktepapier noch keine fertig aktualisierte audiovisuelle Medienrichtlinie ist, sind die Details der Quotenregelung noch unklar - ebenso wie die Auswirkungen der ebenfalls beschlossenen Geltung von Jugendschutz- und Werbevorschriften für "Videoplattformen wie YouTube und Soziale Netzwerke, bei denen Videos eine wichtige Rolle spielen". Mit einer Einigung zwischen dem EU-Ministerrat und dem Europaparlament wird im nächsten Jahr gerechnet.
Bei Netflix hebt man deshalb hervor, dass man noch nicht weiß, für welche Inhalte die Quote konkret gilt und für welche nicht. Außerdem macht man darauf aufmerksam, dass die Unterstützer der Quote kein Material für ihre Behauptung vorlegten, so eine Regelung habe positive Auswirkungen auf die Produktion europäischer Werke. Bei Video-on-Demand-Anbietern mit "unbegrenztem Regalplatz" hält man sie schlicht für "unsinnig".
Bezüglich einer ebenfalls beschlossenen Verpflichtung, in nationale Töpfe zur Filmförderung einzuzahlen, verweist der Streaminganbieter darauf, dass der Markt in der Vergangenheit für fast zwei Milliarden Dollar Netflix-Investitionen in europäische Produktionen sorgte, die den dortigen Autoren halfen, weltweit ein Publikum zu finden. Die nun vom Rat beschlossene Regelung "störe" solche Allokationsentscheidungen und "entmutige" das Unternehmen, Geld in "qualitativ hochwertige europäische Inhalte" wie die demnächst ausgestrahlte Serie Dark zu investieren. Dadurch werde der europäischen Mediensektor global gesehen weniger wettbewerbsfähig.
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